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Mit der Susi hätte Suchanek ja ohne weiteres gehen können, als er fünfzehn war. Nicht, dass sie ihn jemals gefragt hätte. Und auch nicht, dass sonst einmal irgendetwas vorgefallen wäre, das den Schluss zugelassen hätte, in ihrem nicht nur, aber auch wegen der völligen Abwesenheit schützenden Busens eigentlich wie ein offenes Buch daliegenden Herzen schlummere dieser unbändige Wunsch. Aber geschaut hatte sie immer so.
Wenn er noch einmal fünfzehn wäre, aber schon ausstaffiert mit der enormen Lebenserfahrung von heute, dachte Suchanek, während er sich hingebungsvoll dem Vergleich der ausgeklügelten Gleitstreifensysteme zweier Packungen Einwegrasierer widmete, dann würde er susimäßig durchaus fünf gerade sein lassen und nicht mehr finden, dass sie zu schiach für ihn sei.
Denn seine Lebenserfahrung, die er allerdings nur um ihre Meinung fragte, wenn es gar nicht mehr anders ging, weil die sich nämlich fortgesetzt weigerte, den Unterschied zwischen Offenheit und Brutalität zu kapieren, hätte den Fünfzehnjährigen, von einem strapazierfähigen Netz eitriger Pusteln zusammengehaltenen Suchanek angebrüllt: «Zu schiach? Für dich? Rate mal, wer mit 33 die Zahl der Frauen, mit denen er im Bett war, immer noch an der einen Hand abzählen können wird, mit der er sich gerade keinen runterholt!»
Das war jetzt noch dazu ein Spruch von seiner Mutter. Der mit der Lebenserfahrung. «Einmal noch dreißig sein – aber so gescheit wie heute.» Suchanek hatte das eigentlich immer recht bescheiden von ihr gefunden. Nicht den Teil mit den dreißig. Und jetzt konnte er mit Stolz vermelden, dass ihm die Fußstapfen seiner Altvorderen diesbezüglich nicht zu groß waren.
Sie hatten sich ja eigentlich auch immer gut verstanden, die Susi und er. Genau genommen war sie sogar sein bester Freund gewesen. Aber so viel hieß das jetzt auch wieder nicht, denn die Massenschlägereien, bei denen sich alles um seine Gunst prügelte, hatten sich immer schon in eher engen Grenzen gehalten.
Es gab Tage, an denen störte den Suchanek seine soziale Verwahrlosung sogar. Und dann sah er auch ein, dass es mitunter doch recht nützlich sein kann abzuheben, wenn das Telefon läutet. Und dass sich, sofern man dazu gerade keine Kraft hat, weil sie einem von diesem ungeheuer ereignisreichen Leben zwischen Couch, Pizzaschachteln und Couch wieder einmal völlig ausgesaugt wurde, ein Rückruf als Alternative geradezu aufdrängt. Er hatte die Susi kein einziges Mal angerufen, seit er aus Wulzendorf weggezogen war. Und bald hatte sie dann überraschenderweise auch damit aufgehört. Und als dann ihr Mann den Unfall hatte, es also einen wirklich guten Grund gegeben hätte, sie anzurufen, war schon so viel Zeit vergangen, dass sich Suchanek nicht mehr traute.
Das musste jetzt fünf oder sechs Jahre her sein, dass der Kanschitz Martin in der Marterlkurve zwischen der «Tenne» in Langegg und dem «Check In» in Tiefenbrunn geradeaus gefahren war, obwohl links die wesentlich bessere Wahl gewesen wäre. Und wenn der Hannes, der Mann von der Susi, am Beifahrersitz angeschnallt gewesen wäre oder wenn wenigstens die Muttergottes in dem Marterl auf der anderen Straßenseite ihrer Schutzfunktion etwas enthusiastischer nachgekommen wäre – dann hätte der Hannes eventuell auch die Geschichte von dem auffälligen Auto mit den vier aufgeblendeten Zusatzscheinwerfern, das ihnen in der Kurve auf ihrer Seite entgegengekommen sei und den Martin zum Verreißen gezwungen hätte, bestätigen können.
Aber so war er halt tot. Und die Susi allein mit zwei kleinen Kindern. Und einem Rohbau in der Sackgasse vom Suchanek.
Die alten Kanschitz hatten der Susi dann zwar eh geholfen, mit dem Haus und so. Und sie waren ja auch gestraft, mit dem Buben im Rollstuhl, der in dem Zustand die Wirtschaft natürlich nie übernehmen können würde. Weil dem Kanschitz Martin halt die vielen Überschläge, bis das Auto endlich in einem Acker auf dem Dach und auf dem Hannes zu liegen gekommen war, das Kreuz gebrochen hatten. Aber trotzdem. Die Susi wäre sicher froh, wenn sie den Hannes zumindest noch in der Gegend hätte herumschieben können, statt verblühte Stiefmütterchen über ihm abzuschneiden.
Obwohl der Suchanek ja zugeben musste, dass er den Hannes nie wirklich hatte leiden können. Er war genauso ein versoffener Depp gewesen wie die meisten anderen Burschen im Ort. Die Susi hätte wirklich was Besseres verdient gehabt. Aber wenn man so aussah wie sie, machte das Bessere halt gleich automatisch einen Bogen.
Wobei, so schiach war sie ja jetzt gar nicht mehr. Weil auch, wenn er seit fünfzehn Jahren nicht mit ihr gesprochen hatte, gesehen hatte Suchanek die Susi vor einer Weile doch einmal. Sie war in einem Fernsehspot dieser Ladenkette aufgetreten, die vor allem am Land langsam die ganzen Greißler übernahm, aber irgendwie so, dass die trotzdem in ihren Geschäften bleiben konnten. Suchanek fand das ja unerklärlich, aber so war das Abenteuer Wirtschaft für ihn sowieso immer. In diesem Kleinod postindustrieller Konsumstimulierung hielten jedenfalls hochambitionierte Nahversorger ein tieftrauriges Appetitbrot oder ein rechtsdrehendes Motoröl oder eine dauerpreisgesenkte Tellermine in die Kamera und sagten dann im volkskulturell wertvollen Dialekt von St. Vinzenz am Autobahnzubringer: «Des is mei Extra!»
Suchanek konnte sich nicht mehr erinnern, was Susis Extra gewesen war. Er wusste allerdings noch ganz genau, dass sie wesentlich besser ausgesehen hatte als mit fünfzehn. Die Zähne waren gerade, das früher knochige Gesicht fülliger, und die Haare sahen auch nicht mehr aus wie ein geschreddertes Geheimdokument. Den Busen hatten sie nicht hergezeigt.
Susi hatte ihn nicht bemerkt, als er ins Geschäft gekommen war. Sie war gerade an der Kassa mit zwei Kundinnen beschäftigt gewesen, und Suchanek bog sofort in den ersten Gang zwischen den Regalen ab, weil er die erwartbare Peinlichkeit der Begrüßungsszene nicht auch noch vor Zeugen zelebrieren wollte. Sie würden sich steif die Hände geben, hölzern nach dem Befinden des anderen fragen, vielleicht sogar zwei in ihrer Fremdheit heftig schmerzende Wangenküsse austauschen. Dann würden sie nicht wissen, was sie sagen sollten, bis sich einer von ihnen – und die Chancen standen gut, dass es er sein würde – für ein ausdrucksstarkes «Und?» entscheiden würde. Man sollte sich ja in Wirklichkeit schon allein wegen des Wiedersehens nicht wiedersehen, fand Suchanek.
In der Hoffnung, dass die störende Kundschaft in der Zwischenzeit verschwinden würde, ließ er sich bei den Rasierern so lange Zeit wie nur irgendwie möglich. Wobei man jetzt einwenden könnte, dass er im Supermarkt in der Hygieneabteilung sowieso immer ewig brauchte. Und das nicht etwa, weil er in Sachen Hygiene irgendwie übertrieben hätte. Nein, eigentlich nicht. Eigentlich überhaupt nicht. Aber was ihn doch sehr beunruhigte und zum ganz genauen Hinsehen motivierte, war die Tatsache, dass in diesen Konsumtempeln die Abteilung für Körperhygiene ja immer quasi fließend in jene für Raum- und Sanitärhygiene überging.
Das war nichts für den Suchanek.
Ihn verfolgte die Angst, er könnte einmal etwa auf der Suche nach einem sympathischen Mundwasser eine ebenso anheimelnd bunte Dose mit, sagen wir, Rohrreiniger erwischen. Und dann nach dem ersten Gurgeln zu Hause erst einmal seine Zähne im Maschinengewehrstakkato auswerfen und anschließend eines ebenso einsamen wie grässlichen Todes sterben. Wobei man jetzt nicht den Eindruck gewinnen sollte, dass der Suchanek irgendwie neurotisch gewesen wäre oder was.
Endlich warf er eine Packung Rasierer in seinen Korb und schlenderte weiter. Er steuerte die Milch an, erlegte zwei Packungen und sammelte dann nach dem Zufallsprinzip noch Brot, Wurst, Käse, Fruchtsaft und eine Flasche Wodka ein. Dann ließ er sich, bewusster Konsument, der er war, seine Kaufentscheidung noch einmal durch den Kopf gehen, kam zu dem Ergebnis, dass sie verbesserungswürdig war, machte kehrt, stellte den Fruchtsaft wieder ins Regal und holte sich noch eine Flasche Wodka.
Vor der letzten Kurve, an deren Ausgang Susis Kassa war, blieb er stehen und lauschte. Die waren ja immer noch da. Na geh. Zwei alte Weiber, den Stimmen nach zu schließen.
«Und das schöne Kreuz mit den grünen Steinen, das sie sich damals bei unserer Fußwallfahrt nach Maria Dreieichen gekauft hat, weißt du noch?»
«Ja, freilich weiß ich das noch. Mir wär’s zu teuer gewesen. Aber die Maßstäbe von der Johanna waren da ja immer schon andere.»
«Das ist so richtig mit ihrem Fleisch verschmolzen durch die Hitze. Die Dreier-Kanschitzin hat es selbst gesehen.»
«Das ist so grauslich, das kann man ja gar keinem sagen! So was sieht man doch sonst nur im Fernsehen – und jetzt hat man das auf einmal mitten im eigenen Dorf! Da traut man sich ja gar nicht mehr auf die Straße!»
«Ich sag so: Dass das gerade dann passiert, wenn das ganze Dorf voll ist mit Zigeunern, kann kein Zufall sein.»
«Was denn für Zigeuner?»
«Warst du schon beim Volksfest? Schau dir die einmal alle an dort, die von den Schießbuden und dem Autodrom und alles. Lauter so Schwarze.»
«Du meinst so Schwarze wie der Pater Akwuegbu?»
«Nein, nicht so schwarz schwarz. Dunkel halt. Mein Gott, jetzt stell dich halt nicht so an! Wie Zigeuner eben ausschauen!»
«Wenn früher was passiert ist, waren es bei dir immer gleich die Slowaken.» Das war jetzt die weiche Stimme von Susi. «Und jetzt sind’s die Zigeuner? Geh, Zwölferin!»
Die Zwölfer-Leitnerin war also die eine von den zwei Frauen. Die Zwölferin hatte der Suchanek in nicht lückenlos guter Erinnerung. Er hatte früher in der Kirche vor allem an hohen Feiertagen mit seiner singenden Mutter auf den Chor mitgehen dürfen. Das hatte der kleine Suchanek meist sehr spannend gefunden, weil dort oben an der Orgel zog vermutlich auch heute noch der Achter-Hiefler seine Show ab. Der Achter war der Jerry Lee Lewis unter den Kirchenorganisten. Er turnte mit begeisterndem Ganzkörpereinsatz auf seiner Bank herum, als wäre «Gro-ßer Go-hott wir lo-ho-ho-ben dich» – Suchaneks persönlicher sakraler Tophit – eine Coverversion von «Great Balls Of Fire». Und es hätte Suchanek damals überhaupt nicht gewundert, wenn die altersschwache Orgel unter den erstaunlich flinken Händen dieses vermutlich aufgrund einer Kombination aus leichter Herzinsuffizienz und mittelschwerem Alkoholmissbrauch stets blaugesichtigen Schwergewichts zu Bruch gegangen wäre, so, wie er sie traktierte.
Eines Tages allerdings, mit vielleicht sieben oder acht Jahren, wurde der Suchanek auf dem Chor von heftigen Bauchschmerzen ereilt, und weil man natürlich wegen so was nicht während der Messe stört, weil die doch heilig ist, hatte er schließlich nach schrecklichen sowohl körperlichen wie auch psychischen Krämpfen einfach in die Hose geschissen. Und die Zwölferin, die das als Erste gerochen hatte, hatte gefunden, dass hier eindeutig eine Erziehungsmaßnahme vonnöten sei, und ihm auch noch eine ordentliche Watschen verpasst. Wenn das heute jemand bei einem fremden Kind im Beisein von dessen Mutter macht, muss er davon ausgehen, sich Sekunden später mit durchgebissener Gurgel auf dem gewaltfreien Kindergruppen-Flokati in seinem Blute zu wälzen. Suchaneks Mutter hatte das damals aber weitaus lockerer gesehen und ihm nach Verlassen der Kirche auch noch eine runtergehaut.
«Ich sag so», sagte die Zwölferin so, «der Eiserne Vorhang war nicht nur schlecht. Vor allem nicht für unsere Seite.»
«Ist eigentlich irgendwas gestohlen worden auch?», mischte sich die andere wieder ein.
«Angeblich schaut im Haus drin alles so weit normal aus.»
«Das spricht aber dann gegen deinen Verdacht mit den Zigeunern. Die hätten das Haus ja wohl auf den Kopf gestellt. Weil bei den Mantlern gibt’s ja sicherlich genug zu holen.»
«Das sagt noch gar nichts. Vielleicht wollten sie ja den Heuwagen aus dem Stadl stehlen.»
«Zwölferin», meldete sich mit Susi wiederum die Stimme der Vernunft. «Was in aller Welt macht ein Zigeuner, der erstens wahrscheinlich gar keiner ist und zweitens hier bei uns am Volksfest arbeitet, mit einem depperten Heuwagen?»
«Mein Gott, bist du naiv! Ich sag so: Der Zigeuner als solcher kann im Prinzip alles brauchen. Solange er es nicht zahlen muss. Außerdem: Wer bitte soll es denn sonst gewesen sein? Die Johanna hat doch nie mit jemandem Probleme gehabt!»
Zehn Sekunden Stille. Dann sagte die andere Frau: «Na ja.»
«Was heißt ‹Na ja›?»
«Eine Einfache war sie nicht gerade. So ehrlich muss man schon sein.»
«Also, das ist doch … Die Mantlerin ist noch nicht einmal kalt und du …»
Die Zwölfer-Leitnerin verstummte. Offenbar war ihr selbst aufgefallen, dass ihre Formulierung angesichts einer Feuerleiche doch ziemlich hübsch klang. Dann fing sie sich wieder und giftete: «Du bist doch nur beleidigt.»
«Wieso sollte ich beleidigt sein?»
«Na, wegen der Legio. Weil du auch die Vorsitzende werden wolltest.»
«Das hat damit überhaupt nichts zu tun! Die Wahrheit wird man ja wohl noch sagen dürfen. Und die Wahrheit ist nun einmal, dass sich die Johanna mit ihrer Art nicht nur Freunde gemacht hat.»
«So, jetzt ist es aber genug», sagte Susi ebenso begütigend wie erfolglos.
«Eine Kampfabstimmung haben wir damals machen müssen! Eine Kampfabstimmung! In der Legio! Wann hat man so was schon gehört?», redete sich die Zwölferin jetzt voll in Rage. «Weil du einfach keine Ruhe gegeben hast. Unbedingt wolltest du der Johanna den Vorsitz wegnehmen, obwohl sie ihn doch schon jahrelang gehabt hat!»
«Wenn sie sich nicht so aufgeführt hätte, dann hätte ich ja gar nicht kandidiert. Aber sie hat ihren Spitznamen schon zu Recht bekommen, so heilig, wie sie war. Oder soll ich sagen: scheinheilig? Außerdem ist das ja wohl mein gutes Recht, auch zu kandidieren. Wir leben schließlich in einer Demokratie. Auch wenn ihr Großbauern glaubt’s, alle anderen sind automatisch eure Diener.»
«Na, das wird ja immer besser!», höhnte die Großbäuerin zurück. «Ausgerechnet die Frau Gerstmeier sagt so was? Die ihr Lebtag so getan hat, als ob sie die Bürgermeisterin wäre? Die sich so furchtbar gescheit vorkommt? Susi, weißt du, was sie damals gesagt hat? Na komm schon, sag der Susi, was du damals gesagt hast, nachdem du verloren gehabt hast! Los!»
«Nein, bitte. Ich will es gar nicht hören. Schluss jetzt», sagte Susi schwach.
Die Gerstmeierin war also die andere. Vor der Pension war sie die Gemeindesekretärin in Bernhardsau gewesen. Und die Zwölferin hatte sicher nicht unrecht. Funktioneller Analphabetismus war schon immer das liebste Hobby der Bernhardsauer Bürgermeister gewesen. Also hatte eine Sekretärin, die klüger war, eine ziemliche Machtposition inne. Die Gerstmeierin war wirklich die heimliche Chefin gewesen. Und dass sie mit der Johanna nicht gekonnt hatte, war keine große Sensation. Zwei Alphawölfinnen, beide randvoll mit Sendungsbewusstsein und noch mehr Geltungsdrang.
«Mir reicht’s jetzt», hyperventilierte die Gerstmeierin. «Ich bin es nicht gewöhnt, auf so einem Niveau zu diskutieren. Ich gehe!»
Suchanek hörte einige empörte Schritte und dann die Tür auf- und zugehen.
«Weißt du, was sie nachher gesagt hat?», keppelte die Zwölferin weiter. «Der Herr gibt’s, der Herr nimmt’s – und manchmal irrt sich auch er. Aber er wird das schon noch reparieren. Na ja – jetzt ist es ja repariert. Aber der Herr hat die Johanna sicher nicht angezündet!»
«Zwölferin, jetzt gib doch eine Ruh. Ich hab immer geglaubt, bei euch in der Legio geht’s ums Beten und um Nächstenliebe und so.»
«Ja. Eh», sagte die Zwölferin nach einer kleinen Pause.
«Also was soll dann das ganze Theater?»
Wieder zögerte die Leitnerin einen Moment. «Tut mir leid, dass ich mich so aufgeregt habe», sagte sie dann, merklich leiser. «Aber wenn man nicht einmal den Anstand hat, dass man eine Tote in Ruhe lässt.»
«Eh. Aber wenn ihr schon unbedingt streiten müsst, dann bitte das nächste Mal nicht bei mir.»
Die Zwölferin ging erstaunlich kleinlaut ab. Jetzt war es also so weit. Jetzt konnte Suchanek endlich beweisen, dass er, auch wenn es ihm vielleicht nicht jeder rückhaltlos zutraute, in außergewöhnlichen Situationen sehr wohl zu berühmten ersten Worten fähig war. Er holte tief Luft und ging dann auf Susis Pult zu.
«Servus, Susi.»
Wui, Suchanek. Könnte in die Geschichte eingehen.
Susi kniff die Augen zusammen und schaute eine Weile ziemlich blöd. Dann teilten sich ihre schmalen Lippen zu einem warmen Lächeln. «Suchanek», sagte sie. «Mein Gott, der Suchanek.»
Sie kam auf seine Seite des Pultes und schlang ihre Arme um ihn. Als Suchanek dasselbe tat, roch er, dass er hätte duschen sollen.
Die Umarmung dauerte länger, als es die vertrocknete Emotionalität Suchaneks ertragen konnte. Endlos lange. Eine gefühlte Viertelminute. Susi ließ ihn erst los, als die Lengauer Milli bei der Tür hereinkam.
«Hallo, Milli», sagte Susi. Die Lengauerin nickte wortlos, spendierte Suchanek einen misstrauischen Blick und verschwand dann hinter den Regalen. Susi strahlte ihn an. Es war Jahre her, dass sich jemand dermaßen offensichtlich gefreut hatte, Suchanek zu sehen. Wenn er so genau nachdachte … Ja. Das musste in etwa bei seiner Geburt gewesen sein.
Er überlegte, «Und?» zu sagen, aber Susi kam ihm zuvor: «Hab schon gehört, dass du hier bist.»
«So? Von wem?»
«So ungefähr vom halben Dorf. Der Mann, von dem man spricht!» Das war ja nun genau das, das Suchanek immer schon sein hatte wollen. Spätestens, seit er sich beim Gruppenfoto nach der Erstkommunion hinter dem Pfarrer versteckt hatte. Er verzog das Gesicht. «Ich. Ausgerechnet.»
«Na ja. Sonst hat ja keiner den Mörder gesehen.»
«Ach, ich hab da in der Nacht vielleicht ein bisschen blöd dahergeredet. In Wirklichkeit hab ich einen Schmarren gesehen», murmelte Suchanek missmutig.
«Da erzählt die Nidetzky aber was anderes.»
«Die Nidetzky. Na dann. Der Kerl war so weit weg. Und es war finster. Das könnte echt ein jeder gewesen sein.»
«Ja», sagte Susi. «Das ist ja auch irgendwie das Schlimme, oder? Man sitzt da in dem Dorf, in dem man sein ganzes Leben gesessen ist. Man kennt einen jeden. Und ein jeder könnte es gewesen sein.»
«Ich war’s jedenfalls nicht. Ehrlich.»
«Da bin ich aber froh. Ich übrigens auch nicht.»
«Aber ich hab schon gewusst, warum ich aus Wulzendorf weg bin. Gefährliches Pflaster.»
«Ich hab ja manchmal deine Mutter gefragt, aber die wollte mir, glaub ich, nicht so richtig was erzählen. Also, jetzt sag einmal: Was hast du denn getrieben die ganze Zeit?»
Suchanek entschied sich wie am Vortag bei Grasel wieder für die Wahrheit. «Nichts.»
«Fünfzehn Jahre lang nichts?»
«Na ja. Du musst bedenken, dass ich schon allein ein gutes Drittel von der Zeit geschlafen hab.»
Susi lachte. «Dann war’s ja gut, dass du in die große weite Welt gegangen bist. So ein ambitioniertes Programm hättest du in Wulzendorf natürlich nicht durchziehen können.»
Suchanek grinste verlegen. «Jetzt weißt du, warum meine Mutter da nicht so gesprächig war. Und wie geht’s dir so?»
«Ach.» Susi zuckte mit den Schultern. «Siehst eh. Nicht sehr aufregend, mein Leben. In Wulzendorf picken geblieben, das Geschäft von den Eltern übernommen, Haus gebaut.» Sie stockte kurz. «Das mit dem Hannes hast du gehört?»
Suchanek nickte stumm. Jetzt würde sie ihm gleich vorhalten, dass er sich nicht einmal damals gerührt hatte. Und sie würde so was von recht damit haben.
«Aber das ist ja auch schon wieder so lang her, dass es mir vorkommt wie in einem anderen Leben. Nur mit den Kindern ist es manchmal nicht so einfach.»
«Wie alt sind sie denn jetzt?»
«Der David ist neun und der Stefan sieben. Und Buben in dem Alter … Ich geb mir ja Mühe, aber Fußball und Fischen sind nicht unbedingt meine Kernkompetenzen.»
«Oh Gott, Fußball. Der Grasel hat mich dazu verdonnert, dass ich morgen beim Hansi-Burli-Gedenkmatch mitmache. Wobei … Wahrscheinlich findet das jetzt ja eh nicht statt.»
«Du als Fußballer? Aber hallo! Da hat sich ja einiges geändert. Du willst nicht zufällig den Job bei meinen Buben haben?»
Das war jetzt ein Scherz. War das jetzt ein Scherz?
Susi grinste. «Huh! Jetzt hat’s ihn aber gerissen! Keine Angst! Als Fußballtrainer, hab ich gemeint. Nicht als Ersatzpapa. Andererseits … Wie lange bleibst du denn hier?»
«Bis Sonntagabend. Dann kommen meine Eltern vom Urlaub zurück.»
«Na ja, schade. Dann geht sich das sowieso nicht aus. Da dauert die Einschulung schon ein bisschen länger», sagte Susi und zwinkerte.
Die Lengauer Milli hatte es in der Zwischenzeit so gemacht wie der Suchanek vorher: Sie hatte sich in den Gängen herumgedrückt, weil sie wohl auch erst zur Kassa gehen wollte, wenn die Susi wieder allein war. Aber nachdem sich der Suchanek nicht und nicht putzen wollte, kam sie nunmehr mit verkniffenem Gesicht zum Pult und stellte ihren Korb ab. Während Susi ihn ausräumte und die Rechnung zu schreiben begann, musterte die Milli den Suchanek ungeniert. Schließlich gelangte sie zu einer beinharten Erkenntnis: «Der wird sich nicht freuen.»
Suchanek war im Prinzip ja auch felsenfest davon überzeugt, dass dem so war. Auch wenn er keine Ahnung hatte, wer und warum nicht.
«Wer denn, Milli?», fragte Susi sanft.
«Na, der Mörder. Wenn ihn der da gesehen hat.»
Suchanek wurde von einem Gefühl befallen, das er von diesen Jännernächten kannte. Wenn es draußen minus zehn Grad hatte und ihm gerade die Zigaretten ausgegangen waren. «Ich hab überhaupt nichts gesehen», knurrte er.
«Aber geh!», sagte Milli spitz. «Da erzählt die Nidetzky aber was anderes.»
Zum Glück sprang jetzt die Susi Suchanek zur Seite. «So, Milli», sagte sie gütig. «Und jetzt die Jacke.»
Milli wirkte mit einem Mal hochgradig unerfreut. «Ich hab aber heute nichts drin. Ehrlich nicht!»
«Die Jacke, Milli.»
Milli machte einen Schritt näher zum Pult und hob mit beleidigtem Gesicht ihre Arme. Susi begann, die Taschen der Jacke zu durchstöbern, und förderte einen Alleskleber, ein Duschgel, eine Packung Batterien, einen Nagelzwicker und einen in rotes Wachs eingelassenen Laib Butterkäse zutage. Ungerührt schrieb sie die Preise auf die Liste.
«Den Kleber und den Nagelzwicker brauch ich aber gar nicht», protestierte Milli.
Susi riss den Zettel von ihrem Block ab und hielt ihn Milli entgegen. «23 Euro 40», sagte sie freundlich.
Milli zahlte ohne weiteres Murren, packte die Sachen in ein Plastiksackerl und wandte sich dann noch einmal Suchanek zu. «Das eine sag ich dir: Das war kein Fremder! Und er wird sich gar nicht freuen.»
Dann drehte sie sich um und verließ grußlos das Geschäft. Hinten im Bund ihres Rocks steckte ein Korkenzieher.
«Mit irgendwas lass ich sie jedes Mal davonkommen», sagte Susi und lächelte.
«Wie? Die macht das immer?»
«Ach, die ist eine arme Haut. Zuerst hat sich ihr Bub mit dem Auto erschlagen, und zwei Jahre später ist ihr der Mann auch noch gestorben, an seinem gebrochenen Herz wahrscheinlich. Da ist bei ihr dann irgendwie der Film gerissen.»
«Und deswegen klaut sie jetzt?»
«Nicht nur. Die macht alle möglichen durchgeknallten Sachen. Aber sie tut keinem was, und ich kann ja gut nachvollziehen, wie es ihr geht. Außerdem muss sie schließlich irgendwo einkaufen. Sonst darf sie ja eh schon in kein Geschäft mehr rein in der Gegend.»
Suchanek ertappte sich dabei, dass er Susi am liebsten noch einmal umarmt hätte, war aber nach Sekundenbruchteilen der Entwurzelung zum Glück gleich wieder ganz Suchanek.
«Bis Sonntagabend, sagst du …», sinnierte Susi. «Na ja, da die Chance groß ist, dass ich dich dann wieder fünfzehn Jahre lang nicht sehe: Magst du nicht zu mir zum Abendessen kommen? Morgen vielleicht?»
Diesmal freute sich der Suchanek ganz ehrlich. Schon wieder so ein ungewohntes Gefühl. «Sehr gern.»
Wieder kamen zwei Kunden herein, die Pregesbauer Trude und der Einser-Neuhold. Das konnte der Suchanek jetzt aber gar nicht brauchen.
«Hallo, Susi!», rief der Einser. Und die Trude erkannte Suchanek und sagte, bevor sie in den ersten Gang abbog: «Ah, der kleine Suchanek! Lang nicht gesehen! Ich muss dich dann unbedingt was fragen. Wegen dem Feuer gestern!»
30 Sekunden später war Suchanek draußen bei der Tür, sprang ins Auto und fuhr los.