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Wenn die Tradition etwas verlangt, dann gibt man es ihr, und aus. Das war ja bitteschön nicht nur in Wulzendorf so, sondern überall auf der Welt.

So gesehen war es eigentlich auch kein Unterschied, ob jetzt beispielsweise der Wulzendorfer Burschenbund in der Nacht ausrückte, um den angeberischen Maibaum in Bernhardsau, den höchsten in der ganzen Umgebung, umzulegen oder ob irgendeine verhutzelte alte Hexe, neben der wahrscheinlich früher der Pater Akwuegbu gewohnt hatte, in der Nacht losging, um ein kleines Mädchen mit einer Glasscherbe zu beschneiden. Über die Traditionen anderer brauchte keiner zu urteilen, wenn er sich nicht wenigstens vorher eingehend mit ihnen befasst hatte.

Der Sechser-Hartl war da ein löbliches Vorbild. Er hatte sich schon immer weniger für Maibäume interessiert als sehr viel mehr dafür, was die da unten bei so einer Beschneidung eigentlich alles wegschnitten. Man konnte sagen, dass der Sechser auf diesem ethnologisch hochinteressanten Gebiet quasi wissenschaftlich arbeitete, obwohl er das ja nicht studiert hatte oder was. Aber die meisten von seinen Internet-Bookmarks führten zu Seiten, wo man das, was die da wegschnitten, genau sehen konnte. Also, wenn es noch da war. Besser noch als auf den Fotos, die er immer von seiner Bianca machte, weil er war ja nur ein zwar sehr ambitionierter, aber eben doch Amateur. Aber das war jetzt eine ganz andere Geschichte.

An sich, so verlangte es jedenfalls die Tradition, folgte auf die Wulzendorfer Autoweihe immer der Frühschoppen. Jetzt musste man schon sagen, dass das früher, bevor der Ziehrer-Wirt zugesperrt hatte, atmosphärisch schon noch etwas anderes gewesen war. Da hatte die Trachtenmusikkapelle Wulzendorf im Festsaal aufgespielt, der zwar so festlich zugegebenermaßen auch wieder nicht gewesen war, aber im Vergleich zur Jetztzeit im Bierzelt allemal. Außerdem hatte nach drei Tagen Volksfest in dem Zelt doch nun schon wirklich jeder in praktisch jede Ecke gespieben. Da war auch der Reiz des Neuen nicht mehr so.

Aber heute, an diesem letzten Tag dieses unpackbaren Volksfestes, war ja sowieso alles anders. Heute wurde, so traurig es für die Traditionalisten war, und von denen gab es ja doch ein paar, mit der Tradition gebrochen. Das Fest hatte sich bis jetzt mehr als wacker geschlagen und trotz der ausgesprochen widrigen äußeren Umstände zu einem neuen Rekordergebnis geführt. Aber jetzt, jetzt war einfach nichts mehr zu machen.

Jetzt war Schluss.

Die malerischen Mädchen und die beliebten Burschen von der Musik standen unschlüssig herum und ließen die Klarinetten traurig hängen. Der Achter-Hiefler, nicht nur der sicherlich aufregendste Kirchenorganist Niederösterreichs, sondern auch noch das tragendste Flügelhorn seit der Erfindung der Trachtenmusikkapelle, stand mit sorgenvoller Miene da, die blaue Kappe weit in den Nacken geschoben, und spielte nervös mit dem ausnahmsweise einmal leeren Spuckeablassventil seines Instruments. Der Bub vom Lasnik Pepi, ein vielleicht sechsjähriger weißblonder Wirbler, der das Wagerl mit der großen Trommel zog, schaute gedankenverloren ins Narrenkastl, hatte dabei eine Hand in seiner Knickerbocker und kratzte sich die Eier.

Jetzt hätte die Trachtenmusikkapelle zwar an sich den Ausfall der zweiten Posaune schon verkraften können. Hätte halt der Achter ein wenig lauter geblasen. An laut sollte es bei ihm nun wirklich nicht scheitern, denn seine sympathische Inbrunst war legendär. Aber einfach so den Brucker Lagermarsch einzählen, obwohl der Gärtner Bertl verschwunden war? Und Gott allein wusste, was mit ihm passiert war? Wie hätte das denn wieder ausgeschaut?

Wobei, natürlich: So ganz allein war Gott mit diesem Wissen klarerweise nicht. Wenigstens einer musste ja sonst wohl noch wissen, was mit dem Bertl passiert war. Aber der würde in dieser Angelegenheit sicherlich mindestens genauso dichthalten wie Gott.

Von demselben Platz aus, von dem vorhin Pater Akwuegbu so ergreifend Vergebung für den Sünder gefordert hatte, der Wulzendorf in Atem hielt, tat jetzt der Siebzehner, der natürlich spürte, dass er, wenn er jetzt Führungsqualität und Standhaftigkeit bewies, gute Aussichten hatte, quasi zum Ortsvorsteher auf Lebenszeit ernannt zu werden, so ziemlich genau das Gegenteil.

«Liebe Mitbürger! Jetzt hat die Bestie schon wieder zugeschlagen!», bellte er hinter dem schönen Feldaltar vom jungen Zwölfer hervor in das Megaphon. «Ich sage: Es ist genug! In dieser für Wulzendorf so schweren Stunde müssen wir die Reihen schließen und zusammenhalten! Wir dürfen da nicht mehr länger zuschauen!»

«Genug!» – «Jawohl!» – «Bestie!», antwortete es aus der Menge.

«Es ist doch immer das Gleiche: Wenn wir anständigen Bürger wollen, dass was passiert, müssen wir die Sache selber in die Hand nehmen. Da ist es ganz egal, ob es um unser Selbstbestimmungsrecht geht oder um unser Selbstverteidigungsrecht. Fest steht: Wir müssen etwas unternehmen!»

Tosender Applaus, der mindestens so sehr der Selbstbestimmung wie der -verteidigung galt. In Bernhardsau nämlich wäre der Täter sicher schon längst gefasst gewesen. In Bernhardsau musste sich nämlich der anständige Bürger nicht jeden Tag seine Freiheit aufs Neue erarbeiten und in der verbleibenden Zeit bis zum Beginn des Hauptabendprogrammes auch noch in einen Kampf auf Leben und Tod ziehen. Und in Bernhardsau war sicher auch das Wetter besser.

Suchanek und Grasel standen beim Bull-o-Meter, einer sinnigen Erfindung auf dem spaßigen Kraftsportsektor, bei der man zwei Griffe, die die Form von Stierhörnern hatten, zusammendrücken musste und anschließend eine Bewertung bekam, die selten über «Muskelmus» oder «Bizepsbaby» hinausreichte, weil das für den Ehrgeiz und damit die weitere Spendenbereitschaft der männlichen Probanden doch sehr förderlich war. Und obwohl die beiden keine niederschmetternde Beurteilung durch das Bull-o-Meter zu verarbeiten hatten, waren sie ziemlich unglücklich.

Wegen dem Gärtner Bertl auch, ja. Der war ja nun wirklich ein herausragender Beweis dafür, wie ungerecht man von Gott oder vom Schicksal oder woran man halt glaubte behandelt werden konnte. Da musste ORF 2 so einen abstrus unförmigen Schädel durch sein Leben tragen – und dann war dieses auch schon wieder vorbei. Wobei es ja eine Restchance gab, dass er noch gar nicht tot war. Der Grasel schätzte sie auf 20 Prozent, Suchanek sogar auf mehr. Aber abgesehen von dieser traurigen neuen Entwicklung fuchste es sie natürlich unendlich, dass sie gedacht hatten, den Heimeder mit ihrem denkwürdigen Auftritt mit dem Führerschein überführt zu haben. Und danach sah es ja nun nicht mehr so stark aus.

«Ich glaub ja immer noch, dass er es war», bestand der Grasel trotzig auf ihrem viel zu kurz ausgekosteten Erfolg, den sie noch dazu mit niemandem hatten teilen können. Dafür wäre ja nur die Lengauer Milli in Frage gekommen, und die hatte es sich verkniffen, zur Autoweihe zu kommen, weil der Herrgott sicher nicht begeistert gewesen wäre, wenn sie der Neuholdin während des Schuldbekenntnisses ihr sündteures Bettelarmband gemopst hätte.

Natürlich bestand weiterhin die Möglichkeit, dass es der Kurtl gewesen war. Immerhin hatten sie ihn während der Messe in der Menge lange nicht finden können, und so gesehen hätte er vielleicht schon die Zeit gehabt, den Bertl verschwinden zu lassen. Andererseits war er sofort in die Offensive gegangen, hatte einen gar nicht einmal unplausiblen Grund genannt, warum er Willis Führerschein hatte. Und auch gleich einen Zeugen. Und dass Kommissar Wimmer nicht wirklich daran glaubte, dass der Kurtl der Mörder war, zeigte sich auch daran, dass er aus Bernhardsau, wohin man den Kurtl gebracht hatte, um ihn zu verhören, gleich wieder zurückgekommen war, nachdem er erfahren hatte, dass der ORF 2 abgängig war. Und es hatte durchaus sein Gutes, dass der Wimmer hier war. Er würde nämlich nicht schlecht daran tun, den Siebzehner irgendwie einzubremsen. Denn der lief gerade zur Form seines Lebens auf.

«Wir müssen uns wehren», donnerte er. «Die Polizei ist ja heutzutage zu nichts anderem mehr fähig, als von uns Autofahrern abzukassieren. Wo wir doch eh schon die Melkkühe der Nation sind. Oder sie kriminalisiert friedliche Besitzer von gut abgerichteten Schutzhunden! Aber sie ist offensichtlich nicht dazu imstande, uns ehrliche und anständige Bürger zu schützen! Also müssen wir das jetzt selbst in die Hand nehmen! Die Jäger unter euch gehen jetzt am besten geschwind nach Hause und holen ihre Gewehre. Und dann bilden wir Suchtrupps! Vielleicht können wir den Gärtner Bertl ja noch retten und die Bestie zur Strecke bringen!»

Der tosende Jubel, in dem der Siebzehner jetzt baden durfte, war sicherlich der stärkste, den Wulzendorf erlebt hatte, seit der Hansi-Burli im denkwürdigen Derby gegen die Bernhardsäue im 84er-Jahr in der letzten Minute zwar nicht das Siegestor geschossen, aber wenigstens dem gegnerischen Tormann, der eben das verhindert hatte, den Kiefer gebrochen und sechs Zähne gezogen hatte. Aber jetzt war es natürlich so: Wenn es etwas gab, das für die öffentliche Sicherheit in Wulzendorf potenziell noch um Eckhäuser gefährlicher war als ein Mörder, der sich jetzt schon sein drittes Opfer geholt hatte, dann dreißig hochmotivierte Niederwildniedermetzler, die mit ins Bedenkliche erhöhtem Blutdruck und Flinte im Anschlag durch Dorf und Flur marschierten. Man konnte sie ja schon im Normalfall nur mit Mühe und der Aussicht auf garantiert keine mildernden Umstände davon abhalten, der Strecke eines erfrischenden herbstlichen Jagdmorgens zwecks Abrundung des Gesamtbildes noch ein paar Treiber hinzuzufügen. Wenn sie jetzt auch noch quasi moralisch verpflichtet waren, zuerst zu schießen und dann zu fragen, weil: Bestie!, dann konnte man nur mehr sagen: Halaliluja.

Eine solche Hilfssherifftruppe war genau das, was Kommissar Wimmer zu seinem Glück noch brauchte. So schnell es ihm mit den massiven römischen Säulen, die er anstelle menschlicher Beine hatte, halt möglich war, stürmte er hinter den Altar und entwand dem Siebzehner das Megaphon, um seinerseits eine begeisternde Rede zu halten.

«Sehr geehrte Wulzendorferinnen und Wulzendorfer!»

Um da erst gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, antwortete die Zwölfer-Leitnerin stellvertretend für alle geehrten Wulzendorferinnen und Wulzendorfer laut und deutlich: «Buh!!»

«Die Polizei begrüßt selbstverständlich die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und ist für jeden Hinweis, der zur Auffindung des vermissten Herrn Gärtner und zur Ergreifung des Täters führt, sehr dankbar. Falls Sie irgendeine Information für uns haben, falls Ihnen irgendetwas Verdächtiges aufgefallen ist, und wenn es Ihnen auch noch so unwichtig erscheint, bitte zögern Sie nicht, zu mir oder zu einem meiner Kollegen zu kommen. Aber ich muss Sie dringendst ersuchen, von jedweder Suchaktion auf eigene Faust und unter Umständen auch noch bewaffnet Abstand zu nehmen! Sie gefährden damit nicht nur Ihre eigene Sicherheit, sondern die Sicherheit aller Ortsbewohner.»

Wieder war es die Zwölfer-Leitnerin, die darauf exakt die richtige Antwort wusste: «Buh!!»

«Glauben Sie mir, wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Herrn Gärtner schnellstmöglich aufzufinden. Ich habe bereits zusätzliche Kräfte angefordert. Und in zwei, drei Stunden haben wir auch Suchhunde hier …»

«Aber geh! Meinen hab ich in fünf Minuten!», rief der Siebzehner, der sich in der Rolle des Revolutionsführers immer wohler fühlte. Jetzt würde er der verweichlichten Staatsmacht zeigen, wo es langging, und in absehbarer Zeit würde er dann den Wulzendorfer Frühling ausrufen und die verknöcherten und korrupten Bernhardsauer Herrscher hinwegfegen.

«Herr Stratzner, Sie zeigen sich da jetzt nicht gerade als verantwortungsvoller Lokalpolitiker. Ich werde nicht zögern, Ihre Rolle in dieser ganzen Geschichte auch bei geeigneter Stelle im Land zu besprechen. Aber jedenfalls, meine Damen und Herren, glauben Sie mir: Die Polizei hat diese Situation absolut im Griff.»

Die Zwölfer-Leitnerin war ja an sich eine Geduldige, wie sie, und zwar ausschließlich sie, fand, aber jetzt riss sogar bei ihr der Faden. Also rief sie nicht mehr nur freundlich «Buh», sondern wurde deutlicher. Sonst verstanden es ja die Großkopferten nicht. «Was für ein Schmarrn! Darum ist ja der kleine Dreizehner auch unter euren Augen verschwunden, weil ihr alles im Griff habt! Alles im Griff, dass ich nicht lache! Wie schaut das dann eigentlich aus, wenn ihr einmal nicht alles im Griff habt?»

Und das Blöde daran war: Sie hatte ja nun nicht einmal unrecht. Der ORF 2 war ja wirklich praktisch unter den Augen der Polizei verschwunden. Entweder waren also die Krimineser tatsächlich genauso unfähig wie die Kapplständer aus Bernhardsau oder der Mörder ein unglaublich geschickter, kaltblütiger Hund. Wahrscheinlich stimmte sogar beides.

Nach dieser Wutfontäne der Zwölferin brachen alle Dämme zivilisatorischer Stauhaltung, die in Wulzendorf, wie der Suchanek fand, ohnehin schon immer etwas niedrig dimensioniert gewesen waren. Eine Kakophonie des Missfallens ergoss sich über den Kommissar. Pfiffe, Beschimpfungen, auch einige hoch über die Menge hinauswachsende Mittelfinger waren zu sehen. Die Witwenschüttler, weil es waren ja in der Zwischenzeit nicht mehr nur Patrick Jenewein vom «Express» und sein gutaussehender Fotograf hier, sondern auch noch ein paar andere schreibende Randexistenzen, kamen gar nicht nach, ihre Notizblöcke mit überkochenden Volksseelen und bestialischen Bestien zu füllen.

Und: Ziemlich genau dreißig Jäger machten sich in dieser Sekunde auf den Weg nach Hause, um ihre Gewehre zu holen.

Das war jetzt aber vorderhand nicht wirklich Suchaneks Problem. Den plagte ein anderes. Nämlich: warum? Folgerichtig sagte er zu Grasel: «Warum?»

«Warum was?»

«Warum jetzt auch noch der Bertl?»

«Woher soll ich das wissen?»

«Du weißt doch sonst immer alles. Was ist jetzt mit deiner Sündentheorie? Was hat denn der Bertl deiner Meinung nach angestellt?»

Es widerstrebte dem Grasel zwar, das gleich so freihändig und kampflos zuzugeben, aber es sah tatsächlich so aus, als wäre die Sündentheorie jetzt erledigt. Weil: der Bertl. Wenn einer eigentlich keine Sünde begangen haben konnte, die einen durchgeknallten Racheengel dazu bewegen könnte, ihn final zu bestrafen, dann ja wohl der Bertl. Aber ein simpler, motivloser Serienkiller – das wäre doch zu enttäuschend!

«Wir fragen den Poldi», entschied Grasel knapp.

Sie kämpften sich wieder durch bis zu der Bank vor der Grillhendlstation, deren Spieße sich nicht zum ersten Mal im Lauf dieses denkwürdigen Volksfestes leer drehten. Hier saß immer noch der Gärtner Poldi, dessen Kopf von den vielen schrecklichen Gedanken, die ihn nunmehr heimsuchten, noch enormer geworden zu sein schien. Seine Arme hingen schlaff herab, und er schwitzte sich in nicht endenden Strömen seine ganze Verzweiflung heraus.

«Poldi! Jetzt erzähl doch einmal, wie das genau passiert ist», sagte Suchanek durchaus mitleidig.

Der dicke Gärtner-Bub schaute ihn wie durch einen fernen Astralnebel hindurch waidwund an. «Der Bertl hat gesagt, dass er sich vor der Messe noch einen Sommerspritzer holen will, weil es so heiß ist», sagte er schwach. «Und dann ist er nicht mehr wiedergekommen.»

«Er war also noch im Bierzelt?»

«Er hat gesagt, er geht hin. Ob er wirklich drin war, weiß ich nicht.»

«Ich geh mal fragen», sagte Grasel forsch und machte sich sofort auf den Weg. Suchanek sah ihm nach und dachte: Eigentlich wäre aus dem ein guter Bulle geworden. Wenn er mir das nächste Mal auf die Nerven geht, muss ich ihm das unbedingt sagen.

«War sonst noch irgendwas, Poldi? Ist dir irgendwas aufgefallen?»

«Was soll mir aufgefallen sein?»

«Hat er sonst noch irgendwas gesagt?»

«Nein.»

«Hat er vorher mit wem geredet? Oder ist wer mit ihm gegangen? Oder ihm nach?»

«Geredet, geredet. Sicher hat er mit wem geredet. Wenn man da herumsteht und darauf wartet, dass die Autoweihe anfängt, dann redet man halt.»

«Sie lassen mir leider keine andere Wahl», brüllte jetzt der Inspektor gegen die sich Bahn brechende Revolution an. «Zur Abwehr unmittelbarer Gefahren für die öffentliche Sicherheit untersage ich hiermit polizeilich das Tragen jeglicher Waffen. Zuwiderhandeln wird massiv bestraft! Seien Sie vernünftig! Überlassen Sie das der Polizei!»

«Gfüllter!», schrie der Siebzehner, der jetzt, wo er Wimmer doch schon etwas besser kannte, dem Kommissar nicht nur das Du-Wort schenkte – wiewohl der vermutlich doch der Ältere war, aber auf so hohle, sinnentleerte Konventionen wie zum Beispiel auch nur rudimentäre Höflichkeit hatte Stratzner noch nie viel gegeben –, sondern gleich auch einen liebevollen Spitznamen. «Gfüllter! In der Zeit, in der du da jetzt blöd herumredest und freie Bürger drangsalierst, könntest du schon längst den kleinen Gärtner suchen! Du willst uns verhaften, wenn wir uns selbst verteidigen? Und den Mörder lässt du weiter herumrennen? Das schau ich mir aber an erste Reihe fußfrei!»

«Mit seinem Telefon hat er herumgetan», sagte Poldi plötzlich.

Suchanek wurde hellhörig. «Was heißt herumgetan? Hat ihn wer angerufen?»

«Nein, ich glaube nicht. Telefonieren hab ich ihn nicht gesehen. Herumgetan halt. Ich weiß auch nicht, vielleicht wollte er ja nur nachschauen, wie Barcelona gestern gespielt hat.»

«Hat er vielleicht eine SMS gelesen? Oder ein Mail?»

«Weiß ich nicht. Aber, wenn ich so nachdenke, hat es danach am ehesten ausgeschaut.»

Grasel kam im Laufschritt zurück. «Die Mädeln im Bierzelt sagen, bei ihnen war er nicht.»

Suchanek legte den Kopf schief. Wenn sich der Bertl seinen Spritzer, den er angeblich hatte haben wollen, nicht geholt hatte, dann gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder, der Mörder hatte ihn auf dem kurzen Weg zum Bierzelt abgepasst und weggelockt. Mit Gewalt konnte er das aber nicht gemacht haben, das wäre ja wohl irgendwem aufgefallen.

Und die andere Möglichkeit war: Der Bertl hatte in Wirklichkeit überhaupt nie zum Bierzelt gewollt. Und er hatte seinen Bruder angelogen, weil er … Ja. Weil er was?

«Poldi? War der Bertl irgendwie komisch in letzter Zeit?»

ORF 1 schüttelte den Kopf. «Nicht mehr als sonst.»

Nicht mehr als sonst. Was für eine Antwort.

«Ruhiger ist er vielleicht gewesen.»

«Was meinst du mit ruhiger?»

«Na ja, ich weiß auch nicht. Er war schon länger nicht mehr so. Ich glaube, er war unglücklich, weil ihm der Vater gesagt hat, dass er jetzt bald einmal ausziehen muss. Der ältere Bruder bleibt auf der Wirtschaft, und der andere muss halt gehen. Das war schon immer so. Er hat mir eh leidgetan. Aber was soll ich machen?»

«Glaubst du, er hat sich am Ende selber …?», fragte jetzt Grasel in einer eindrucksvollen Demonstration seiner grenzenlosen Feinfühligkeit. Suchanek verdrehte die Augen.

«Was?», sagte Grasel ungerührt. «In einer Situation wie jetzt muss man doch wohl so was fragen dürfen. Schlimmer kann es eh nicht mehr werden.»

Suchanek legte dem jungen Dreizehner die Hand auf die Schulter. «Habt ihr über die Morde geredet?»

«Na sicher. Wer redet denn nicht über die?»

«Und? Was hat er dazu gesagt?»

«Was soll er schon gesagt haben? Dass das furchtbar ist und alles. Und wer das wohl gemacht haben könnte.»

«Hat er vielleicht einen Verdacht gehabt?»

«Nein. Er hat ja nicht Detektiv gespielt so wie andere Leute.»

«Du brauchst jetzt nicht auf mich loszugehen. Vergiss nicht, dass der Typ mich auch umbringen wollte. Und es tut mir leid, aber ich muss dich das jetzt fragen: Glaubst du, dass der Bertl irgendwas mit dieser ganzen Sache zu tun haben könnte?»

«Was? Bist du jetzt vollkommen deppert geworden? Der Bertl soll das gewesen sein? Nie im Leben!»

«Ich hab ja nicht gesagt, dass er es gewesen ist. Aber irgendwas an dieser Sache ist doch komisch. Es schaut halt so aus, als ob er dich angelogen hat. Er wollte überhaupt nicht ins Bierzelt, um sich einen Spritzer zu holen. Dorthin wäre er doch auf alle Fälle noch gekommen, das war ja nicht weit. Er wollte von Anfang an woanders hin.»

ORF 1 schaute blöd. «Aber … wohin denn?»

«Wenn ich das wüsste, dann wären wir alle schon dort, oder?»

Grasel nickte anerkennend. Wahrscheinlich dachte er sich so was wie: Der wäre gar schlechter Bulle geworden. Wenn er mir das nächste Mal auf die Nerven geht, dann sage ich ihm das.

Der richtige Bulle sah sich derweil gezwungen, nun doch bis zum Äußersten zu gehen.

«Hiermit verhänge ich wegen Gefahr im Verzug ein Platzverbot für das gesamte Ortsgebiet von Wulzendorf! Die Sicherheitsorgane sind befugt, jeden festzunehmen, der sich ihren Anordnungen widersetzt!», brüllte Kommissar Wimmer mit sich überschlagender Stimme in einem letzten verzweifelten Versuch, die Oberhand zu behalten. Aber es war zu spät.

Der Siebzehner machte nur mehr eine wegwerfende Handbewegung und lachte den Kommissar aus. Die Runde ging eindeutig an ihn. Die Menge schrie und pfiff. Unter normalen Umständen hätten sich die bis auf einen an sich ja eh gesetzestreuen Wulzendorfer von so einer Drohung möglicherweise ins Bockshorn jagen lassen. Aber dass der hilflose Bulle nicht einfach ein ganzes Dorf verhaften würde, war jedem klar. Hätte auch eine ganz schlechte Presse gegeben. Und wenn die Innenministerin etwas hasste, dann das. Geschmackvolle Kleidung auch, ja. Aber schlechte Presse noch mehr.

Andererseits wäre die Verhaftung aller Wulzendorfer im Moment wohl die einzige Möglichkeit gewesen, den Mörder von der Straße zu kriegen. Denn in Sachen Täterfindung sah es ja nach wie vor finster aus. Wimmer warf das Megaphon auf den Altar und zog sich in einen Streifenwagen zurück.

Was für ein unglaublicher Scheißtag war denn das schon wieder? Er brauchte einen Erfolg, und zwar dringend. Er nestelte sein Handy aus der Tasche. Aber der Anruf, auf den er schon den ganzen Tag wartete, kam und kam einfach nicht. Wenn er denn endlich gekommen wäre, dann hätte der Kommissar einen Namen gehabt. Dann wäre alles anders gewesen. Irgendwann würde der Anruf kommen. Er musste kommen. Hoffentlich war es dann noch nicht zu spät.

Grasel strich sich männlich über sein Kinn und schaute Suchanek an. «Und was machen wir jetzt?»

«Was sollen wir schon groß machen? Wir brauchen jedenfalls nicht das Dorf abzusuchen. Da gibt es ja wohl Freiwillige genug.»

«Aber irgendwas müssen wir doch tun.»

«Warum denn?»

«Schau dich doch einmal um. Ich fürchte, wir sind hier die Klügsten.»