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Die Polizisten aus Bernhardsau waren ja für die Mörderjagd schon allein aufgrund ihrer Herkunft nicht zu gebrauchen. Und auch wenn sie eigentlich Langegger waren oder Haindorfer oder von noch weiter weg, nützte ihnen das auf lange Sicht gar nichts. Denn Bernhardsau war leider ansteckend auch noch.
Selbst wenn einer in jungen Jahren eigentlich ganz proper gewesen sein sollte, ein aufgewecktes Kerlchen voller Tatendrang – nach ein paar Dienstjahren konnte man ihn abhaken. Denn spätestens dann fehlte es so ziemlich an dem gesamten Rüstzeug für die kriminalistische Feinmechanik. Ob es nun Spürsinn, Hartnäckigkeit, Kombinationsgabe oder die allgemein verständliche Beherrschung der deutschen Sprache war, egal. Also taten die Bernhardsauer Bullen eben das Einzige, was mit ihren kümmerlichen Fähigkeiten gerade noch im Bereich des Möglichen lag: Sie setzten die Straßenverkehrsordnung durch. Und das heute Nacht in Wulzendorf wenigstens ganz massiv.
Die Rechnung vom Spakowitsch Edi war nämlich voll aufgegangen. Einen derartigen Ansturm hatte das Volksfest noch nie erlebt. Sogar auf der Gstettenstraße war ein Stau. Unter Garantie der erste, den sie jemals gesehen hatte. Aus allen Richtungen strömten Autos nach Wulzendorf. Voll mit aufgeweckten jungen Menschen, die heute sogar die neueste spannende Folge dieser ungemein erfolgreichen Reality-Soap im Fernsehen sausen ließen, in der man aufgeweckten jungen Menschen dabei zusehen durfte, wie sie sich am Samstagabend in irgendeiner Disco oder vielleicht sogar auf einem Volksfest volllaufen ließen und dann fickten oder kotzten. Oder zuerst das eine und dann das andere. Oder, im regietechnischen Idealfall, beides gleichzeitig.
Aber das hier, das war ja bitte noch viel besser. Man konnte schließlich nie wissen. Vielleicht würde sich der Mörder in Geberlaune zeigen, angefeuert von den heißen Rhythmen, die die Hammondorgel vom Heimeder Kurtl schon jetzt ausspuckte, und am Ende erneut zuschlagen. Suchanek hoffte, dass sich der Kurtl mit «Hossahossahossaolé», oder wie das hieß, zu so einem frühen Zeitpunkt des Festes nicht zu sehr verausgabte. Man brauchte schließlich immer noch eine Steigerungsmöglichkeit, und der Kurtl musste schon aufpassen, dass er sich da nicht verbrannte, denn natürlich war er vollkommen durch den Wind. Ein Gig vor so vielen Leuten! Die alle einzig und allein gekommen waren, weil sie ihn bei der brutalen Vergewaltigung von Liedgut erleben wollten, das er irgendwie für lateinamerikanisch hielt! Natürlich hätte er sich in den Arsch beißen können, dass er eine Fixgage ausgemacht hatte und keine Einnahmenbeteiligung. Und dieser nagende Gedanke wirkte sich doch ein wenig auf die Konzentration von Kurtl aus.
An der Kassa beim Eingang saß der Urban Ernstl. Das war eine interessante Wahl. Weil der Ernstl und die Grundrechnungsarten, das war keine Kombination, die einem gleich auf Anhieb eingefallen wäre.
Suchanek ging ungerührt an der langen Schlange von Menschen vorbei, die bereit waren, für die vage Hoffnung auf eine Live-Enthauptung und, wenn sie laut genug nach Zugabe schrien, wozu sie rückhaltlos bereit waren, möglicherweise auch noch Ausweidung eines Wulzendorfers schon einmal auf Verdacht zehn Euro zu bezahlen – von den zusätzlichen Kosten für verdorrte Grillhühner und mit Abwaschwasser gestrecktem Bier einmal abgesehen. Unter dem empörten Getuschel von einigen Überholten nickte er sodann freundlich lächelnd dem Ernstl zu. Der machte eine ausladende einladende Armbewegung und ließ den Suchanek klarerweise gratis rein. Schließlich war der ja spätestens seit dem Match, das analog zur Schande von Gijon als Schande von Wulzendorf in die Sporthistorie eingehen würde, praktisch Ehrenfeuerwehrmann.
So. Wie sollte er nun in diesem Gewühl den Grasel finden? Bei den Schießbuden, wo sich glutäugige Jungschönheiten mit zweifärbigen Haaren von ihren fast noch nüchternen Verehrern die erlegten roten Plastikrosen in den Ausschnitt stecken ließen? Beim Tagada, auf dem vierzehnjährige Testosteronneulinge bewiesen, dass man die ganze Schüttlerei auch stehend absolvieren und das für eine Errungenschaft halten konnte, die irgendwen beeindruckte? Beim Autodrom? Eigentlich absurd, dass sich ein Schausteller mit so einem kindischen Ding in die Welthauptstadt des Sportauspuffs wagte, die, gemessen an ihrer Einwohnerzahl, stolz auf die höchste Quote an im Straßenverkehr verschiedenen Jungmännern verweisen konnte – noch weit vor Bogota und Karachi. Beim Kinderkarussell? Nun, das würde an sich nicht schlecht zu Grasel passen, allerdings war da ja noch dieser schwelende transnationale Konflikt wegen des zusammengeschossenen Polizeimotorrads.
Bierzelt. Bierzelt war die beste Wahl.
Suchanek wandte sich also nach links und ging der betörenden Klangspur nach, die an ihrem glücklichen Ende zum Heimeder Kurtl und seinem gerade die volle zerstörerische Wirkung entfaltenden Gipsy-Kings-Medley führte. Georgelte Flamencogitarren – eine Grenzerfahrung, die man unbedingt einmal gemacht haben musste.
Knapp vor dem Eingang sah Suchanek eine Silhouette auf sich zukommen, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Na geh. Musste er jetzt unbedingt in den Pfarrhofer René hineinrennen? Also, diesmal zwar nur im übertragenen Sinne, aber trotzdem.
Als der René ihn sah, hellten sich seine Züge auf. «Suchanek!», rief er. «So ein Glück, dass ich dich hier treffe! Ich muss unbedingt mit dir reden. Komm mit, ich lad dich auf ein Trankl ein.»
Suchanek schaute sich unsicher um. Hier waren so viele Leute, dass ihm der René wohl eher nicht geschwind einmal das Genick brechen würde. Obwohl er vermutlich nicht mehr als zwei Finger dazu brauchte. Dass dem Suchanek das erst jetzt einfiel. Wenn letzte Nacht Pfarrhofer derjenige gewesen wäre, auf dem er draufgesessen war und auf den er eingedroschen hatte, hätte ihn der mit einem Rülpser ausknipsen können. So betrachtet, konnte er den René eigentlich von seiner Verdächtigenliste streichen.
Der Pfarrhofer nahm Suchanek in den Arm und zog ihn ins Zelt. Eine riesige Nebelglocke aus Rauch, Schweiß und Alkohol, der es irgendwie geschafft hatte zu verdunsten, bevor ihn jemand in sich hatte hineinschütten können, hing über dem Meer von lachenden, brüllenden, schunkelnden Menschen. Auf der Bühne thronte der Heimeder Kurtl hinter einer Batterie von verschwenderisch vielen Orgeln, deren Unzahl noch erstaunlicher war, wenn man wusste, wie schwer es ihm fiel mit beiden Händen gleichzeitig zu spielen.
Suchanek war natürlich schon in einem Bierzelt gewesen, auch wenn er sich diese Erfahrung in all den Jahren, seit er aus Wulzendorf weg war, nicht mehr gegönnt hatte. Doch jetzt musste er sagen: Es war genauso schön wie damals. Es erinnerte ihn immer noch sofort an ein Gemälde. Eines von Hieronymus Bosch.
«Urli!», schrie Pfarrhofer schon von weitem. «Zwei doppelte rote Wodka für meinen Freund und mich!» Die Burli-Urli hinter der Bar hatte sich ganz schön herausgeputzt für den Abend. Schließlich musste man ja was fürs Trinkgeld machen, das wusste nach 35 Jahren im gehobenen Abendgeschäft niemand besser als sie. Ein Leopardenbustier, dessen Ausschnitt unter die Kategorie «So genau wollte ich es nun wirklich nicht wissen» fiel, ein knallenger Ledermini, ein dicker, am Ende rattenscharf nach oben abbiegender Lidstrich, neonpinker Lippenstift. Suchanek hatte schon lange nichts Traurigeres mehr gesehen. Außer natürlich beim täglichen Blick in den Spiegel. Er hatte allerdings einen Vorteil gegenüber der Urli: Er war jetzt schon erbärmlich. Da musste man sich über ein Altern in Würde keine großartigen Gedanken mehr machen.
«Suchanek», gurrte Urli verrucht und zündete sich eine von diesen langen, dünnen Zigaretten an, die bereits Generationen von Pomeranzen dem Irrglauben verfallen ließen, sie sähen mit ihnen in den Fingern irgendwie mondän aus. «Ich hab schon gedacht, du lässt mich hier allein!»
Pfarrhofer hob sein Glas. «Pfia Gott, Lackerl!», schrie er vergnügt, rammte mit seinem Stamperl das von Suchanek mit ähnlicher Gewalt, wie er wenige Stunden zuvor den ganzen Suchanek gerammt hatte, kippte sich das rote Zeug in den Schlund und schaute dann Suchanek erwartungsvoll an. Suchanek hasste es, Erwartungen zu enttäuschen, das war er von seiner Mutter so gewöhnt. Also stürzte auch er den Schnaps hinunter.
«Noch zwei», entschied Pfarrhofer und rückte dann ganz nahe an Suchanek heran. «Ich muss dir was gestehen», raunte er.
Ein Satz, der in den momentanen Wulzendorfer Zeiten so so gut wie alles einleiten konnte.
«Ja?»
«Ja. Und ich wollte mich noch einmal entschuldigen. Das mit dem Match heute tut mir echt leid.»
«Ist schon okay. Ich krieg eh schon wieder ganz gut Luft. Und du hast es ja nicht mit Absicht gemacht.»
Pfarrhofer verzog das Gesicht und sagte: «Doch.»
Suchanek strich das mit dem Streichen von der Verdächtigenliste wieder. Der Wimmer würde schön schauen.
«Der Alex hat recht gehabt. Der Neuner hätte mich ausschließen sollen. Ich bin so ein Trottel. Aber ich bin einfach ausgezuckt. Weil ich euch doch gesehen hab, gestern.»
Suchanek verstand überhaupt nichts. «Wen hast du gesehen?»
Der René rückte noch ein Stück näher als zu nahe und ließ Suchanek großherzig an seiner feuchten Aussprache teilhaben.
«Du musst mir versprechen, dass das unter uns bleibt. Und ich erzähl dir das auch nur, weil du eine Erklärung dafür verdient hast, warum ich so deppert war: Ich hätte ja eigentlich gar nicht mehr so wirklich bei den Verheirateten spielen dürfen.»
«Warum nicht?»
«Na, weil ich von der Meinigen praktisch schon geschieden bin. Ist schon eingereicht, einvernehmlich und alles. Aber es weiß noch keiner. Und außerdem wollte ich gewinnen.»
«Ich hab mir gedacht, sonst gewinnen immer die Ledigen?»
«Sonst schon. Aber bei der Truppe, die ihr da heuer gehabt habt?»
Da konnte man wenig dagegen sagen.
«Na ja, und gestern nach dem Einsatz wollte ich gschwind was einkaufen gehen», fuhr Pfarrhofer fort. «Und da hab ich euch gesehen. Dich und die Susi. Wie sie dich umarmt hat. Und nicht mehr losgelassen hat sie. Und da hab ich so einen Zorn gekriegt. Und wie ich im Match auf dich zugekommen bin, da … na ja. Es tut mir leid, ehrlich.»
«Heißt das, du warst nur eifersüchtig?»
Pfarrhofer schaute betreten zu Boden. «Ja. Aber wird nicht mehr vorkommen, das verspreche ich. Ich werde mich da nicht mehr einmischen. Wenn die Susi dich will, dann akzeptiere ich das natürlich.»
«Aber … die Susi hat mir gar nichts gesagt, dass ihr was habt miteinander.»
Jetzt wurde es dem René noch peinlicher. «Haben wir ja auch nicht. Ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll.»
Er stand also auf die Susi und traute sich nicht, es ihr zu sagen. Suchanek hätte nie gedacht, dass er ausgerechnet mit dem Pfarrhofer so viel gemeinsam hatte.
«Mach dir keine Gedanken, René. Ich bin morgen Abend wieder weg aus Wulzendorf. Also, wegen mir ist es nicht.»
Das Volksfest hatte jetzt eindeutig seinen Kulminationspunkt erreicht. Der Heimeder Kurtl drang mit seiner Vierton- und Zweifingerversion von «La Isla Bonita» in völlig unerforschte Sphären der Popkultur vor: Madonna wäre von Kurtls Interpretation vermutlich dermaßen enthusiasmiert gewesen, dass sie sich ihre nächste Botox-Spritze gleich ins Auge gerammt hätte.
Zwischen dem zweiten und dritten Tisch vom Suchanek aus gesehen tanzte ein wunderschönes Paar miteinander: die Nidetzky und die Zwölferin. Die Männer waren halt immer so faul. Überhaupt, wenn sie nicht mehr stehen konnten. Und wenn man sich hier so umsah, waren da bis zum Horizont Männer, die nicht mehr wirklich stehen konnten. Eigentlich nahezu alle. Bis auf einen. Und der kam jetzt leider auf Suchanek zu.
«Herr Suchanek!», rief Kommissar Wimmer gespielt freundlich. «Wie geht’s? Gibt es irgendetwas Neues?»
«Das fragen Sie mich, Herr Kommissar?», fragte Suchanek zurück. «Daraus muss ich schließen, dass Sie nichts Neues wissen. Und das ist nach Lage der Dinge ja eher nicht so gut.»
Die durch den Alkohol ohnehin schon aufgequollenen Augen vom René traten noch einen Schritt weiter hervor.
«Es … kommen laufend neue Erkenntnisse dazu», sagte Wimmer und ließ das mit dem Freundlichspielen wieder bleiben. «Aber so eine Mordermittlung ist am Anfang halt immer ein Puzzle mit 1000 Teilen. Und ohne Vorlage.»
Suchanek war sehr beeindruckt von diesem Bild. Also drehte er sich zum Pfarrhofer und sagte: «Und merk dir außerdem, René: Über sieben Brücken musst du gehen. Und ein Spiel dauert neunzig Minuten.»
Jetzt war Wimmer anzusehen, wie sehr er sich wünschte, in einem anderen Land zu sein. In einem, in dem die Gesetze nicht nur dazu da waren, die Exekutive daran zu hindern, wirklich Ordnung zu schaffen.
«Haben Sie eigentlich irgendwann einmal auch etwas Erhellendes zu sagen, Herr Suchanek? Oder bleiben Sie lieber weiterhin bei sinnlosem Maulheldentum?»
Das war ja das Komische. Eigentlich war der Suchanek natürlich überhaupt kein Maulheld. Aber Wimmer brachte irgendwie das Beste in ihm zum Vorschein. Grasel wäre stolz auf ihn gewesen.
«Also gut, wenn Sie mich schon so nett bitten, dann sag ich halt was Sachdienliches: So wie ich das sehe, ist der Fall mit dem Willi völlig klar. Es kann eigentlich nur Greenpeace gewesen sein.»
«Was?»
«Der Willi war ein ganz schlimmer Umweltverschmutzer, müssen Sie wissen. Der hat ein ganzes Auto in der Lacke versenkt. Und das hat sicher manchen Leuten nicht gefallen. Sie wissen ja, wie diese militanten Grünen sind.»
Wimmer verdrehte die Augen, hatte aber offenbar keine Lust, das Gespräch mit Suchanek fortzuführen.
«Hab ich das richtig verstanden, dass Sie der René sind?», sagte er stattdessen zum René. «René Pfarrhofer?»
Der doch schon ziemlich angesoffene Hüne lief röter an als der Wodka in seinem Glas. «Ich … Äh, ja?»
«Sehr schön, sehr schön. Gut, dass ich Sie hier treffe. Ich muss Sie da nämlich was fragen. Sagen Sie einmal, Herr Pfarrhofer, in welchem Verhältnis standen Sie denn zu dem verstorbenen Herrn Bobek?»
«Ich? Verhältnis? Wieso?»
«Na, war der Herr Bobek ein Freund von Ihnen? Oder nicht?»
«Freund, Freund. Freund wär jetzt zu viel gesagt.»
«Aha. Also seid’s ihr alle miteinander keine Freunde in dieser Bürgerliste? Oder waren Sie halt nur kein Freund vom Herrn Bobek?»
Der Pfarrhofer gehörte also auch zu den Wulzendorfer Separatisten. Das war Überraschung eins. Und die zweite: Der Wimmer arbeitete ja was!
«Wir haben da ganz normal zusammengearbeitet. Politisch. Wie alle anderen dort auch.»
«Und es hat keine Probleme gegeben.»
«Nein. Wieso?»
«Sehen Sie, Herr Pfarrhofer, und genau da hab ich was anderes gehört. Mir hat nämlich wer erzählt, Sie und der Herr Bobek hätten einen Streit gehabt.»
«Ich? Mit dem Willi? Das stimmt nicht. Worüber hätten wir denn streiten sollen?»
Der René schwitzte jetzt stark, und der ganze gute Schnaps kam ihm wieder aus allen Poren raus. Ewig schade drum eigentlich.
«Nun ja», fuhr Wimmer fort, der eine große Freude damit hatte, den armen Landmaschinenschuster vor sich herzutreiben, «in der Politik ist man sich ja nicht immer einig, oder Herr Pfarrhofer? Und jetzt hab ich gehört, dass manche in der Bürgerliste einen ziemlichen Grant auf den Herrn Mantler gehabt haben sollen. Ist das richtig?»
«Na ja … also, Grant», stotterte der René, «ich weiß nicht …»
«Aber ich. Wegen dieser Thermengeschichte, nicht wahr?»
Suchanek war jetzt doch einigermaßen erstaunt. Er hätte dem Kommissar an sich gar nichts zugetraut. Also auch nicht, das hier herauszukriegen.
«Aber der Herr Bobek, der hat den Herrn Mantler offenbar verteidigt auf Mord und Brand.»
Sehr schön, Wimmer! Unbedingt einreichen das, beim Formulierungsförderpreis des Landeslyrikamtes.
«Und deswegen sollen dann wiederum Sie sich ganz fürchterlich mit dem Herrn Bobek in die Haare geraten sein.»
Pfarrhofer schaute nun drein, als würde er jeden Moment in haltloses Schluchzen verfallen. Und dann brach es aus ihm heraus. «Das ist eine gemeine Lüge! Wer behauptet das? Natürlich hat mir das nicht gefallen, dass der Fünfer da mit den Bernhardsäuen gemeinsame Sache macht. Aber das hat keinem bei uns gefallen. Bis auf den Willi halt. Aber ich war in Wirklichkeit einer, der sich da noch zurückgehalten hat mit dem Willi! Mit mir soll er gestritten haben? Na, dann fragen Sie doch einmal herum, was er mit dem Siebzehner gemacht hat! Oder mit dem Heimeder Kurtl!»
Wimmer nickte, musterte den dunstenden Pfarrhofer eingehend und sagte: «Das werde ich. Das werde ich.»
Dann wandte er sich Suchanek zu. «Mit Ihnen normal zu reden, das wird mir wohl nicht mehr gelingen. Aber eines sag ich Ihnen, Herr Suchanek», zischte er, und sein ausgestreckter fetter Zeigefinger stach ein beeindruckendes Loch in die Luft. «Übertreiben Sie es lieber nicht. Man trifft sich im Leben immer zwei Mal.»
Er nickte Pfarrhofer kurz zu und ging ab. Suchanek überlegte gerade, ob er ihm jetzt nachrufen solle, dass das eben eh schon ihr zweites Mal gewesen war, als sich Wimmer noch einmal umdrehte.
«Aber wissen Sie was? Sie haben jetzt immerhin tatsächlich einmal eine Aussage gemacht, die Hand und Fuß hat. Weil nach dem, was ich von unseren Tauchern gehört habe, liegt in dem Teich ja wirklich ein Auto. War nicht zu übersehen. Jetzt erzählen Sie mir beim nächsten Mal etwas, das auch noch für den Fall relevant ist – und Sie machen einen glücklichen Mann aus mir!»
Und dann verschwand er endgültig im Gewühl.
Der René war so fertig von dieser Unterhaltung, dass er gleich noch einmal zwei Doppelte bestellte. Und das keine Sekunde zu früh, feuerte doch der Heimeder Kurtl gerade seine in den Dreivierteltakt hinübergeprügelte Spezialversion von «La Cucaracha» in die tobende Menge. Gelernt war halt gelernt.
«La cucaracha, la cucaracha,
Ya no puede caminar,
Porque no tiene, porque le falta
Marihuana que fumar.»
Zu diesen goldenen Worten schwangen sich die Nidetzky und die Zwölferin auf in den Himmel der Walzerseligkeit. Alles drehte sich, alles bewegte sich. Und die nächste Runde ging auf den Suchanek. Und dann war es beim Pfarrhofer ja so, dass die vier doppelten roten Wodkas, die er allein schon mit dem Suchanek getrunken hatte, in seinem Magen auf eine bereits dort befindliche Großfamilie von roten Wodkas getroffen waren. Das gab natürlich ein Riesenhallo. Und dieses Hallo veranlasste den René, nunmehr aufzustehen und dem Suchanek höflich, aber bestimmt mitzuteilen, dass er ihn jetzt leider verlassen musste:
«Ich geh jetzt speiben!»
Suchanek schaute sich eingehend um, ob er vielleicht jetzt den Grasel irgendwo entdecken würde, sei es, dass er irgendwo unter einem Tisch lag oder gerade bei der Zwölferin die Nidetzky abklatschte. Er fand ihn nicht und wollte gerade aufstehen, um ihn draußen zu suchen, als die Urli zwei weitere rote Wodkas auf die Theke stellte und ihn mit ihrem erwartungsvollsten Blick ansah. Oder vielleicht hatte sie auch gerade Blähungen, wer wusste das schon. Suchanek lächelte peinlich berührt und nahm sein Stamperl.
«Haben wir eigentlich schon Bruderschaft getrunken?», röhrte die Urli wie einer der tiefer gelegten Boliden vom Willi und winkelte ihren Arm empfängnisbereit ab. Suchanek hakte seinen Arm ein, weil, wie hätte er denn ablehnen können, ohne die arme Frau in eine tiefe Lebenskrise zu stürzen? Sie tranken. Dann zog ihn die Urli ein Stück über die Budel zu sich, verkündete hauchend eine große Neuigkeit («Ich bin die Ursula!») und steckte Suchanek anschließend die Zunge in den Mund.
Zwei weitere Doppelte später stand der Grasel vor ihm. «Was ist denn mit dir passiert?», sagte er und zeigte auf Suchaneks Gesicht. «Kaum lässt man dich ein paar Stunden allein, hast du schon wieder neue Verletzungen. Hast du in einer eisernen Jungfrau geschlafen?»
«Das war so ein Stachelstrauch bei der Gerstmeierin im Garten.»
«Du hast einen Stachelstrauch von der Gerstmeierin im Gesicht gehabt?»
«Jaja. Wobei eine eiserne Jungfrau natürlich viel cooler wäre. Da wäre vor allem der Keller Gerry mit seinem Folterwerkzeugvogel ziemlich begeistert. Oder die Susi. Wenn ich ihr verspreche, dass ich nie wieder rauskomme.»
«Suchanek, zwei Fragen. Erstens: Wie viel hast du schon getrunken? Zweitens: Was um Himmels willen ist seit unserem letzten Telefongespräch alles passiert?»
Die Burli-Urli stellte die nächsten zwei Doppelten hin. «Die gehen auf mich», brummte sie mit einem Augenaufschlag, der in der Zwischenzeit langsamer geworden war als ein übervorsichtiges elektrisches Garagentor. «Damit ihr mich nicht ganz vergesst’s.»
Und bis Suchanek fertig war mit Erzählen, waren es noch mal drei.
«Also gut, noch einmal zum Mitschreiben», sagte der Grasel. «Die Gerstmeierin und der Palenak haben die Johanna und den Willi um die Ecke gebracht, weil sie christliche Fundamentalistenspinner sind, die die Versicherung betrügen wollen?»
«So, wie du das zusammenfasst, hört es sich jetzt nicht mehr so zwingend an. Aber die Idee mit der Buße für die Sünden ist doch von dir. Und immerhin reden wir hier von einem Kinderschänder.»
«Und sie hat echt gesagt: ‹Und den Rest erledigen die Würmer.›? Das ist ja spooky.»
«Hätte ich das dem Wimmer sagen sollen?»
«Nein. Der kommt ja offenbar eh auch allein auf Sachen drauf. Das ist ja eine wirklich interessante Geschichte mit dem Willi und der ÜBL. Warum, glaubst du, hat er den Mantler verteidigt?»
«Keine Ahnung.»
«Wenn wir das wissen, dann haben wir vielleicht auch die Verbindung zwischen der Johanna und dem Willi, nach der wir suchen.»
«Suchen wir die?»
«Entschuldigung, was tun wir denn schon den ganzen Tag, wenn nicht ermitteln? Außer deiner kurzen Unterbrechung bei der Susi. Jetzt sag einmal: Was genau ist denn da schiefgegangen?»
Suchanek runzelte die Stirn und schaute in die Ferne. In dieser vergriff sich der Heimeder gerade an «Smooth» von Santana. Und es reichte nun wirklich schon, wenn sich Santana an «Smooth» von Santana vergriff.
«Ich geh einmal aufs Klo», entschied er.
Eine Stunde später.
«Meinst du eigentlich, er ist hier?»
«Wer?»
«Na, der Mörder.»
«Keine Ahnung. Am besten, wir sondieren das Terrain. Schauen, ob uns etwas Verdächtiges auffällt.»
«Ja.»
«Ja.»
Noch eine Stunde später.
«Wenn ich die Augen zumach, dann dreht sich alles.»
«Dann lass sie offen.»
Wieder eine Stunde später.
«Also was jetzt? Stehst du jetzt auf die Susi oder nicht?»
«Ja. Ich glaub schon.»
«Und dann rennst du davon?»
«Ja genau, dann renn ich davon.»
«Jetzt reiß dich zusammen. Du gehst jetzt zu ihr und erklärst ihr alles. Was soll schon sein? Dass du morgen Abend wieder allein nach Wien fährst? Das hättest du doch sowieso getan.»
Suchanek dachte scharf nach, eine Tätigkeit, die sich, wie er sofort merkte, mit der Unterstützung von ausreichend rotem Wodka gleich viel einfacher gestaltete. «Aber es ist drei Uhr früh.»
«Das ist eine wichtige Sache. Was zählt da schon die Zeit?»
Lächelnd stellte die Urli die nächsten zwei auf die Budel und sagte: «Bleibt’s ihr eh noch ein bissl? In einer halben Stunde mach ich Schluss.»
Suchanek musste langsam aufpassen, dass das mit der Sauferei hier nicht aus dem Ruder lief. Jetzt spürte er die roten Wodkas doch schon ein wenig. Aber ganz so schlimm war es auf der anderen Seite auch wieder nicht, denn er wusste zum Beispiel genau, der wievielte das schon war: der erste seit dem letzten.
«Gut», sagte er mit fester Stimme zu Grasel. «Den einen trink ich noch. Und dann geh ich.»