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Die Zielflaggen vom jungen Zwölfer flatterten sanft im Wind, der hier in der Steppe eigentlich so gut wie immer wehte. Wahrscheinlich, weil nicht einmal die Luft einen Grund sah, hier länger als unbedingt nötig zu bleiben. Hinter den Fahnen hatten sich zwei Barett-Bullen hingegossen, deren steinerner Richtiger-Mann-Gesichtsausdruck sehr hübsch mit dem bestickten goldenen Tuch mit der Fransenbordüre kontrastierte, das den Feldaltar bedeckte.

In der Mitte saß Kommissar Wimmer, schon deutlich entspannter als noch vor ein paar Stunden, als er an derselben Stelle mit der Aufrüstung der Bürgerwehr konfrontiert gewesen war. Nach ein paar letzten Flüstereien mit einem hinter ihm stehenden Lakaien stand er schließlich auf und griff wieder einmal zu dem mittlerweile – natürlich neben Schrotflinten, Macheten oder sonstigen Mordwerkzeugen – beliebtesten Gerät in Wulzendorf: dem Megaphon.

«Werte Damen und Herren», begann Wimmer. Dann machte er eine lange Pause, die er so richtig genoss, weil diesmal keiner «Buh!!» oder sonst was brüllte.

«Angesichts der begreiflichen Aufregung, die aufgrund der sich überstürzenden Ereignisse ausgebrochen ist, erachte ich es als meine Pflicht, Sie über den jüngsten Fahndungserfolg der Polizei zu informieren», fuhr er mit unübersehbarer Befriedigung fort. «Ich tue dies auch in der Hoffnung, dass sich die Situation nunmehr beruhigt und normalisiert und die Polizei bei der restlosen Aufklärung dieses Falles nicht mehr durch unüberlegte und gefährliche Aktionen Einzelner behindert wird. Ich darf Ihnen also mitteilen, dass aufgrund der Beweislage und vor allem aufgrund neuer Erkenntnisse, die wir der Umsichtigkeit der Kollegen vom Kriminallabor des Landeskriminalamtes Niederösterreich zu verdanken haben, eine verdächtige Person in Gewahrsam genommen werden konnte. Natürlich ist aufgrund der Kurzfristigkeit dieser neuen Entwicklung noch längst nicht jeder Aspekt dieses Falles geklärt, obgleich ich nicht verhehlen möchte, dass die Beweislast doch einigermaßen …»

«Herr Inspektor!», gab nunmehr der unglaublich erleichterte, weil eben nicht verhaftete Heimeder Kurtl dem Verlangen Ausdruck, sein Glück mittels eines kleinen herausgerufenen Scherzchens mit der Allgemeinheit zu teilen. «Wenn Sie jetzt nicht bald sagen, wer es ist, werden es die Älteren unter uns nicht mehr erleben!»

Genau diese absolute Trittsicherheit bei der Wahl seiner Pointen, dieses Gefühl für Timing, gepaart mit einer augenzwinkernden Frechheit, ohne allerdings dabei ins Respektlose abzugleiten – das war es, was den Fans vom Kurtl so gefehlt hätte, wenn der Wimmer jetzt gerade seine Verhaftung verkündet hätte und nicht die von …

«Rudolf Ranreiter wurde heute unter dringendem Tatverdacht festgenommen und auf den Posten Bernhardsau gebracht, wo er von meinen Kollegen gerade einer Befragung unterzogen wird.»

Allgemeines aufgeregtes Gemurmel. Der Neuner. Der Neuner. Der Neuner?

Einer von den Witwenschüttlern zeigte auf: «Herr Inspektor, können Sie uns vielleicht ein paar Details nennen? Aufgrund welcher Beweise haben Sie Herrn Ranreiter festgenommen?»

«Sie werden verstehen, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu sehr in Details vertiefen möchte.»

«Ja, aber … Das soll uns jetzt genügen?», rief die Zwölferin, die sich schön langsam, was die Innigkeit ihrer Beziehung zu Ordnungskräften betraf, zu einem zweiten Grasel entwickelte. «Ein bisschen mehr müssen Sie uns schon erzählen, damit wir wieder ruhig schlafen können.»

Wimmer beriet sich wieder kurz hinter vorgehaltener Hand mit einem Mann hinter ihm. Dann nickte er und sagte:

«Also gut. Aufgrund der besonderen Umstände dieses Falles und um eine hoffentlich endgültige Beruhigung der Situation herbeizuführen, darf ich Ihnen auch mitteilen, dass Herr Ranreiter bereits ein Teilgeständnis abgelegt hat. Und zwar betreffend den Brand am Hof der Familie Mantler.»

Den Brand! Der Neuner hatte also zumindest schon zugegeben, die Johanna kremiert zu haben! Grasel stieß Suchanek begeistert mit dem Ellbogen in die Seite.

«Und zwar den Brand im Jahre 1994

Wieder stieß Grasel Suchanek mit dem Ellbogen in die Seite, ganz so, als ob die Suchanek nicht immer noch ordentlich weh tun würde. Offenbar war ihm jeder Anlass recht.

«Glücklicherweise sind die Beweisstücke von damals von den umsichtigen Kollegen in der Asservatenkammer aufbewahrt worden. Und die DNA-Spuren auf einem nunmehr neuerlich untersuchten Zigarettenstummel konnten Herrn Ranreiter zugeordnet werden.»

Jetzt meldete sich ein anderer Reporter. «Aber selbst wenn er es damals gewesen ist, bedeutet das doch nicht, dass er den Brand jetzt auch gelegt hat.»

Das war eigentlich bemerkenswert scharfsinnig, wenn man in Betracht zog, dass er nur ein Reporter war. Der Wimmer schien aber diese Frage erwartet zu haben.

«Herr Ranreiter hat, wie die Ermittlungen ergeben haben, vor kurzem die Versicherung für seinen eigenen Schuppen auf das Dreifache erhöht. Und es gibt auch eine Verbindung zum zweiten Mord. In der Werkstatt von Herrn Bobek wurden Fingerabdrücke von Herrn Ranreiter gefunden. Außerdem gibt es eine Zeugenaussage, derzufolge die beiden vor einiger Zeit eine Auseinandersetzung wegen einer nicht bezahlten Reparatur gehabt haben sollen. Aber mehr kann und darf ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nun wirklich nicht mehr sagen. Ich bitte um Verständnis.»

«Moment einmal! Und was ist mit dem Bertl?», rief der Grasel. Wenn er sich nicht letzte Nacht der Burli-Urli versprochen hätte, hätte das mit der Zwölferin geradezu eine hemmungslose Anarchistenaffäre werden können. «Wo ist der Bertl?»

Wimmer räusperte sich, was durch das Megaphon noch etwas angenehmer klang als ohne. «Der Verbleib von Herrn Gärtner ist selbstverständlich der wichtigste Punkt, der in der Befragung von Herrn Ranreiter erörtert wird.»

«Das heißt, Sie wissen es nicht?»

«Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir es noch nicht. Aber ich kann dazu leider wirklich keine weiteren Angaben mehr machen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen: Ich muss zurück auf den Posten Bernhardsau, um die Befragung des Verdächtigen zu leiten.»

Wimmer ging ab. Die beiden Sphinxen mit den Baretten standen auch auf und musterten noch eine Zeitlang das Publikum, als wollten sie sichergehen, dass niemand die Verfolgung des Kommissars aufnahm. Dann verschwanden auch sie nach hinten.

«Das ist eine Katastrophe», verlautbarte der Siebzehner. Allerdings ging er nicht näher darauf ein, was denn jetzt genau die Katastrophe war. Dass es der Neuner war? Dass es der Heimeder nicht war? Dass er jetzt seine Truppen wieder einrücken lassen musste? Oder am Ende gar, dass der ORF 2 immer noch verschollen war?

«Ich will ja nichts sagen», sagte die alte Nidetzky nichts. «Aber das hab ich mir gleich gedacht. Der Neuner hat den Mantler noch nie leiden können.»

Der Dreier-Kanschitz wackelte mit dem Kopf. «Der Neuner, stell dir vor! Da lebt man so viele Jahre neben einem und dann das. Hoffentlich setzen sie ihm die Daumenschrauben an, damit er verrät, wo der kleine Gärtner ist.»

«Die sollen ihn nur mir eine halbe Stunde geben, dann weiß ich nicht nur, wo der Bertl ist, sondern überhaupt alles. Seinen Kontostand. Die Lieblingsstellung von der Neunerin. Alles!», sagte Stratzner düster.

Leider war natürlich wieder einmal nicht zu erwarten, dass die Exekutive die Sinnhaftigkeit einer solchen Privatinitiative erkennen würde. Da hieß es immer Bürgerbeteiligung hin, Bürgerbeteiligung her, und wenn man sich dann tatsächlich einmal beteiligen wollte, stieß man auf taube Ohren.

Grasel schaute skeptischer, als es selbst die Nähe zu so vielen Polizisten nötig erscheinen ließ. «Also, ich weiß nicht. Ist die Suppe nicht ein wenig dünn?»

«Aber er hat doch gestanden», sagte Suchanek.

«Na und? Die alte Geschichte? Also, ich kenn mich ja jetzt nicht so genau aus, aber ich wette, das ist sowieso schon verjährt.»

«Und warum würden sie ihn dann festnehmen?»

«Na, weil dein Freund, der Wimmer, irgendwas braucht, um die Schrotflinten-Sheriffs von der Straße zu bekommen. Das ist der einzige Grund.»

«Und dass der Neuner jetzt seine Versicherung erhöht hat, was ist damit? Wahrscheinlich hätte er seinen eigenen Stadl auch bald wieder angezündet. Und dann noch die Fingerabdrücke beim Willi?»

«Der Willi hat eine Werkstatt. Da gehen jeden Tag zehn Leute durch und greifen irgendwas an.»

«Aber, überleg doch einmal: Der Neuner ist noch dazu der technische Offizier bei der Feuerwehr. Er hat die kaputte Pumpe vorher überprüft, hat er doch selber gesagt bei dir im Café.»

«Ja, schon. Aber die Pumpe spielt doch bei der ganzen Geschichte in Wirklichkeit gar keine Rolle. Auch wenn sie funktioniert hätte, wäre alles ganz genau so passiert, wie es passiert ist.»

«Und entschuldige, beim Match? Wie er kein Foul geben wollte, obwohl mich der Pfarrhofer fast zermalmt hätte? Der hat sich doch gefreut, wie ich dagelegen bin und keine Luft bekommen habe! Das ergibt alles zusammen schon ein komisches Bild, oder?»

Das musste dann auch Grasel zugeben. Nicht gerne. Aber doch.

«Trotzdem», maulte er dann. «Ich finde das irgendwie unbefriedigend. Sollten wir nicht noch überlegen, ob der Bertl vielleicht …»

«Nein», unterbrach ihn Suchanek hart. «Ich überlege mir jetzt gar nichts mehr.»

«Was soll das jetzt heißen?»

«Mir reicht’s. Ich bin hundemüde, und ich will nur noch nach Hause. Noch dazu nach dieser unfassbar peinlichen Nummer beim Palenak. Ich bin ja echt froh, dass ich den und die Gerstmeierin jetzt wieder ein paar Jahrzehnte nicht sehe.»

Grasel konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. «Aber wir können deinen Bullenfreund doch nicht mit dieser Geschichte davonkommen lassen! Und der Bertl? Tut der dir jetzt auf einmal gar nicht mehr leid?»

«Doch. Nur fällt mir jetzt echt nichts mehr ein, was ich für ihn tun könnte. Und außerdem: In drei Stunden sind Viertagebodenseeinselmainauschaffhausenrheinfall vorbei.»

«Was?»

«Meine Eltern kommen zurück. Bis dahin ziehe ich mir noch einen fetten Joint rein und freue mich des Lebens. Und dann bin ich eine Staubwolke.»

«Na geh, komm! »

Suchanek winkte ab. «Ehrlich, Grasel. Genug ist genug. Zum Detektiv bin ich offenbar auch nicht wirklich geboren. Und ich fürchte, du auch nicht.»

Grasel lächelte. «Aber lustig war’s allemal. Was glaubst du, wie viele Erfolge wir allein mit der Wurmgeschichte noch feiern werden? Also gut – wann fährst du?»

«Ich soll meine Eltern um halb sieben am Hauptplatz abholen. Dann bring ich sie heim, drücke ihnen den Schlüssel in die Hand und bin weg.»

«Okay. Schau halt nachher noch einen Sprung bei mir im Café vorbei. Ist eine lange Fahrt. Da wirst du ein Lunchpaket brauchen.»

Als Suchanek, der ja sein Auto am Vortag zu Hause gelassen hatte und deshalb diesen entsetzlich langen Weg zu Fuß überwinden musste, vor dem Gartentor seiner Eltern stand, zögerte er. Da gab es doch noch etwas, das er klären sollte, bevor er Wulzendorf wieder verließ. Er ging also weiter, um ein Haus, zwei, schließlich vier. Am Fuß der Treppe, die zu Susis Tür führte, blieb er noch einmal stehen und atmete tief durch. Dann ging er langsam hinauf und klopfte zögerlich an.

Nichts rührte sich. Er probierte es noch einmal. Wieder nichts. Offenbar war niemand zu Hause. Sollte er vielleicht eine Nachricht schreiben, einen Zettel in die Tür stecken? Oder nein. Er rief sie besser an, später. Obwohl er sie jetzt doch noch gern gesehen hätte, um ihr zu sagen, dass ihm sein gestriger Auftritt leidtat. Und dass er … Nein. Dass ihm sein gestriger Auftritt leidtat. Das musste reichen.

Er ging die Treppe wieder hinunter und drehte sich dann noch einmal um. Und in diesem Moment konnte er deutlich sehen, wie sich der Vorhang im Fenster neben der Tür bewegte. Suchanek nickte. Und dann ging er nach Hause.

Der Radiowecker, den sein Vater im Fußballtoto gewonnen hatte, schnippte gerade auf 16.34 Uhr, als Suchanek mit einer eleganten finalen Streichelbewegung den ersten Joint des Tages fertigstellte.

Normalerweise war er natürlich mit den wichtigsten Verrichtungen seines Tagewerks nicht so spät dran. Da war er schon konsequent. Man brauchte ja eine gewisse Struktur in so einem Tag, und wenn man alles immer nur verschob und verschob, dann erledigte man es unter Umständen nie. Und das wäre gerade in diesem Fall doch sehr schade gewesen. Aber in letzter Zeit war da ja überhaupt so einiges durcheinandergekommen.

Suchanek ging auf den Balkon. Der erste, tiefe Zug füllte seine Lungen, und mit ihm breitete sich das wohlige Gefühl in seinem Körper aus, dass jetzt alles wieder beim Alten war. Zumindest fast. Er musste nur noch in zwei Stunden seine Eltern einsammeln, ihnen einigermaßen schonend beibringen, dass ihr Hund ein Skin-Arsch war und darüber hinaus das Haus vollgepinkelt hatte – wobei Suchanek diese Information, wenn er nicht mehr mit reinging, eigentlich auch noch zurückhalten konnte, bis er außer Schussweite war –, sich von seinem Vater zwei, drei Hunderter zustecken lassen, ohne dass es seine Mutter merkte, und dann aufs Gas steigen. Keine Verpflichtungen mehr und, was man keineswegs gering schätzen sollte, kein Neuner-Ranreiter, der nachts ins Schlafzimmer kam, weil er einem rasch einmal den Hals durchschneiden wollte.

Er schaute auf die Brandruine beim Fünfer. Schon verrückt. Es war gerade einmal … wie lange her? Ja. Knappe sechzig Stunden erst, dass er genau hier gestanden war und gesehen hatte, wie der Neuner da drüben das Feuer gelegt hatte. Und was in der Zeit alles passiert war. Gut, bei Kiefer Sutherland in dieser Serie passierte in 24 Stunden noch viel mehr. Atomkriegsvermeidung, Erdachsenverschiebungsstopp und Supernovahintanhaltung inklusive.

Aber in dieser Serie würde es auch garantiert nicht vorkommen, dass man am Ende, wenn dann selbst Sutherland schon ein klitzekleiner Gedanke an Schlaf durch den Kopf schoss, nicht wusste, was denn eigentlich mit dem Bertl passiert war. Abgesehen davon, dass der Bertl dort nicht Bertl hieße, sondern Bob und auch nicht ORF 2 sondern CNN. Oder CBS. Oder ABC. Oder …

Sieben oder acht amerikanische Networks später dachte Suchanek, dass der Neuner dem Wimmer, der ihn jetzt gerade in der Mangel hatte, ja eigentlich gestehen konnte, was er mit dem Bertl gemacht hatte. Für den Doppelmord bekam er sowieso schon lebenslänglich, ein dritter würde also überhaupt nichts mehr ändern. Und irgendwann würde die Leiche ohnehin auftauchen, so viel Zeit, sie gründlich zu beseitigen, hatte er ja nun wirklich nicht gehabt. Und falls der Bertl sogar noch leben sollte und nur irgendwo sicher verwahrt war, konnte sich der Ranreiter vielleicht sogar noch irgendwas aushandeln. Weniger Schmalz zwar sicher nicht, aber wenigstens eine Zelle mit Aussicht und einem Mitbewohner mit geringem sexuellen Appetit. Andererseits hatten die den Neuner-Hof sicher schon in seine Einzelteile zerlegt, und wenn der Bertl dabei zutage gefördert worden wäre, hätte man das wohl schon gehört. Das sprach wiederum dagegen, dass er noch lebte.

Aber warum, fix noch einmal? Warum der Bertl? Was hatte der bloß dem Neuner getan? Wobei, vielleicht hatte er ihm ja gar nichts getan. Vielleicht war er ja nur Zeuge von irgendwas geworden. So wie der Suchanek selber. Natürlich, das musste es sein. Der Bertl hatte irgendwas gesehen, und der Neuner wollte verhindern, dass er es wem erzählte.

Suchanek sog ein letztes Mal an dem in der Zwischenzeit nur mehr fingernagelgroßen Joint, schnippte ihn dann über das Geländer und sah ihm interessiert nach. Verdammt! Da unten wackelte gerade ein weißer Trichter vorbei. Er wollte seinen Eltern nicht auch noch ein zusätzliches Brandloch im Restfell von Fritzi oder Franzi, Ferdi, Fredi? erklären müssen. Der Hund blieb stehen und schnüffelte an etwas, das im Gras lag. Dadurch verfehlte ihn die Kippe glücklicherweise und fiel vielleicht 20 Zentimeter vor seiner Nase auf den Boden. Vorsichtig roch er ihr entgegen, zuckte zurück und schaute dann aus seinem Trichter nach oben.

«Brav ist er!», gurrte Suchanek dämlich und winkte dem geplagten Tier. Der Schwanz des Hundes bewegte sich sachte hin und her. Er wedelte schon wieder! War das nicht allerliebst? Der arme Kerl war so lange im Haus eingesperrt gewesen. Und Suchanek hatte nicht den Eindruck, dass seine Schuld ihm gegenüber schon beglichen war. Zeit genug, bis seine Eltern kamen, war noch. Da ging sich auf jeden Fall noch ein netter Belohnungsspaziergang aus.

Eine Viertelstunde später bog Suchanek, einen diesmal durchaus erfreuten Hund an der Leine, aus der Sackgasse auf die Gstettenstraße hinaus. Und der Hund zog energisch Richtung Lacke. Wahrscheinlich konnte er den Willi immer noch riechen. So oft kam man ja als Wulzendorfer Haushund nicht in den Genuss, echtes Menschenaas in der Nase haben zu dürfen. Also gab Suchanek dem Ziehen nach.

Tatsächlich steuerte der Hund ohne Umschweife das Rohr an und begann begeistert herumzuschnüffeln, wo gestern die mit Willi-Aroma gewürzte Gatschsuppe versickert war.

Über dem schmalen Schilfstreifen am linken Ufer thronte ein Hut. Ein sehr charakteristischer Hut, mit ganz vielen Wandernadeln, Wappen und sonstigen Trophäen drauf. Der Schneckerl war sicherlich heilfroh, dass an seinem Wasser wieder Ruhe eingekehrt war. Und dass die Fische überlebt hatten, weil die befürchtete Wasserverschmutzung durch den Inhalt des Rohres dann doch nicht eingetreten war. Und nur der Willi kurz in der Lacke auf Tauchstation gegangen war. Quasi sein ganzes Auto besuchen.

«Suchanek!»

Schneckerl war aufgestanden, winkte Suchanek übers Wasser her zu und deutete dann auf die bauchige grüne Flasche, die er in der anderen Hand hielt. «Komm her! Nimm einen Hacker!»

Suchanek mühte sich hoch, deutete dem Hund mit einer Kopfbewegung, er solle mitkommen. Dann gingen sie am Ufer entlang zu Schneckerl. Der hielt Suchanek die Flasche entgegen.

«Danke. Ist sehr nett von dir, aber ich muss heute noch nach Wien fahren», sagte Suchanek. Es war eine Sache, zugekifft zu fahren. Aber besoffen auch noch?

Schneckerl zog die Hand mit der Flasche zurück. «Dann kriegst du nichts», sagte er ernst. «Mit der depperten Fahrerei passiert eh so viel.»

«Beißen sie?», fragte Suchanek.

Schneckerl schüttelte den Kopf.

«Ach so, ja», lächelte Suchanek. «Seit dem Atom nicht mehr.»

Schneckerl nickte erregt. «Genau. Und wegen dem ganzen Dreck, der da drinliegt.»

«Aber jetzt ist aus dem Rohr eh nichts Schlimmes rausgekommen», beruhigte ihn Suchanek. «Außer dem Willi.»

«Da war vorher schon genug drin.»

Suchanek schaute über das Wasser hinweg zu Willis Werkstatt. Das war natürlich ausnehmend praktisch gewesen für den Feinmechaniker. Von seiner Ausfahrt zehn Meter geradeaus – und da war das Loch.

«Das hat der Bertl auch gesagt», schob Schneckerl nach.

Der Bertl? Wieso der Bertl?

«Wieso der Bertl?»

«Na, wie er da mit seiner Flasche und den Flossen herumgetaucht ist.»

Flasche, Flossen …? Ach, der Bertl war also der verrückte Feuerwehrtaucher gewesen, der hier allein einen Tauchgang gemacht hatte! Das sah ihm ähnlich. Wobei es ja ein Wunder war, dass es Taucherbrillen gab, die man auf diese Kopfgröße einstellen konnte. Da musste man der Wirtschaft einmal wirklich ein Kompliment machen.

«Um den Bertl tut’s mir leid», sagte Schneckerl betrübt.

«Wer weiß, Schneckerl, vielleicht ist ihm ja gar nichts passiert. Vielleicht sitzt er nur irgendwo herum, und der Neuner verrät der Polizei, wo er ist, und morgen kannst du mit ihm ein Viertel trinken darauf, dass eh noch alles gutgegangen ist.»

Schneckerl schob die Unterlippe vor, nahm einen langgezogenen Schluck aus seinem Doppler und stellte ihn dann wieder ins Wasser.

«Um den Bertl tut es mir leid», wiederholte er trotzig. «Schon allein wegen den Hasen. Ohne ihn keine Hasen.»

Nun wollte der Suchanek nicht tiefer in den Schneckerl dringen, um Näheres über Bertls besondere Beziehung zu den Hasen herauszufinden. Mit einem Gesprächspartner wie dem Schneckerl kam man ja leicht einmal vom Hundertsten ins Tausendste. Er wickelte sich die Leine einmal um die Hand und sagte dann: «Ich muss weiter, Schneckerl. Wir werden uns jetzt wieder länger nicht sehen. Mach’s gut.»

Er streckte ihm die Hand entgegen. Schneckerl schüttelte sie abwesend. «Auf Wien fahrst du also», sagte er. «Was machst du denn leicht dort?»

«Wohnen.»

«Ah eh.»

Suchanek kletterte die Böschung hinauf und ging dann langsam Richtung Bahnübergang. Der Bertl war der Feuerwehrtaucher gewesen! Suchanek schüttelte den Kopf und lachte leise. Dieser dumme Hund. Allein herumtauchen, ausgerechnet in der Lacke. Kein Wunder, dass der Fünfer narrisch geworden war.

Wegen den Hasen.

Suchanek war in der Zwischenzeit vor den Gleisen angekommen und blieb stehen. Aber diesmal nicht, weil er fürchtete, er könnte in einen Zug hineinrennen. Er versank in Gedanken. Und wenn er was geraucht hatte, konnte er verdammt tief sinken.

Ein ganzes Auto.

Nicht zu übersehen, hatte der Wimmer gesagt. Verdammter Angeber. So gut, wie er da tat, konnten auch diese Polizeitaucher nicht sein. Unten im Loch war es sicher schlammig und dunkel und alles. Selbstverständlich konnte man da ein paar Autoreifen und Lichtmaschinen und sonstige Trümmer übersehen.

Es sei denn.

Der Bertl taucht. Der Fünfer tobt. Wegen den Hasen.

Der Hut.

Der Hut!

Suchanek drehte sich um und rannte los. Der Hund, der ihn jetzt doch schon vier Tage kannte, wurde von der untypischen Schnelligkeit dieser Bewegung völlig überrascht und quietschte beleidigt auf, als er mitgerissen wurde. Suchanek stampfte über die Böschung hinab auf Schneckerl zu, bremste sich knapp, bevor er ihn ins Wasser gerempelt hätte, ein und riss ihm den Hut vom Kopf.

Da waren sie. Die rammelnden Hasen, die der Bertl aus dem Wasser geholt hatte. Nur das lustige «Injection», das eigentlich daruntergehörte, fehlte.

Das Auto vom Willi da unten war nicht zu übersehen, weil es eben wirklich ein ganzes Auto war. Und der Fünfer war nicht etwa durchgedreht, weil er sich Sorgen gemacht hatte, der Bertl hätte ersaufen können.

Schneckerl trug Suchaneks etwas rohe Rückkehr mit Fassung. Er zupfte gelassen seinen Doppler aus dem Wasser und sagte: «Na, schau. Warst eh nicht so lang weg.»