Deadline
»Musst du los?«, fragte Edward in lockerem Ton. Er sah beherrscht aus. Er drückte Renesmee ein wenig fester an seine Brust.
»Ja, noch ein paar letzte Besorgungen …«, antwortete ich ebenso beiläufig.
Er lächelte mein Lieblingslächeln. »Komm schnell zu mir zurück.«
»Immer.«
Ich nahm wieder seinen Volvo und fragte mich, ob er nach meiner letzten Tour wohl auf den Kilometerzähler geschaut hatte. Wie viel hatte er sich zusammengereimt? Dass ich ein Geheimnis hatte, wusste er auf jeden Fall. Hatte er den Grund erraten, weshalb ich ihn nicht einweihte? Weil Aro womöglich schon bald alles wusste, was Edward wusste? Ich war mir fast sicher, dass er zu diesem Schluss gekommen war, das würde auch erklären, weshalb er nicht in mich gedrungen war. Bestimmt versuchte er, nicht so viel darüber nachzugrübeln, damit es nicht in seinen Gedanken auftauchte. Hatte er auch eine Verbindung zu meinem sonderbaren Verhalten am Morgen nach Alice’ Verschwinden hergestellt, als ich mein Buch ins Feuer geworfen hatte? Ich wusste nicht, ob er diesen Gedankensprung hatte machen können.
Es war ein düsterer Nachmittag, fast als würde es schon dämmern. Ich raste durch die Dunkelheit, den Blick auf die schweren Wolken gerichtet. Ob es heute noch Schnee gab? Genug, um den Boden zu bedecken und die Szene aus Alice’ Vision heraufzubeschwören? Edward ging davon aus, dass uns noch zwei Tage blieben. Dann würden wir uns auf die Lichtung begeben und die Volturi zu dem von uns gewählten Platz locken.
Während ich durch den dunkler werdenden Wald fuhr, dachte ich über meine letzte Fahrt nach Seattle nach. Ich meinte jetzt den Grund dafür zu kennen, dass Alice mich zu dem heruntergekommenen Treffpunkt geschickt hatte, an dem J. Jenks seine zwielichtigeren Klienten bezog. Wäre ich zu einem der anderen, weniger verdächtigen Büros gegangen, hätte ich dann überhaupt erfahren, wonach ich fragen musste? Hätte ich ihn als den ordentlichen Anwalt Jason Jenks oder Jason Scott kennengelernt, hätte ich dann je J. Jenks ausfindig gemacht, den Beschaffer falscher Papiere? Ich hatte den Weg gehen müssen, der mir verriet, dass ich nichts Gutes im Schilde führte. Das war der Schlüssel.
Es war stockdunkel, als ich den Wagen ein paar Minuten zu früh auf dem Parkplatz vor dem Restaurant abstellte, ohne die eilfertigen Hoteldiener zu beachten. Ich setzte die Kontaktlinsen ein, dann ging ich ins Restaurant, um dort auf J zu warten. Zwar hätte ich diese ebenso deprimierende wie unvermeidliche Sache gern schnell hinter mich gebracht, um zurück zu meiner Familie zu können, doch J schien darauf bedacht zu sein, sich durch seinen schlechten Umgang nicht beeinflussen zu lassen; ich hatte das Gefühl, eine Übergabe auf dem dunklen Parkplatz würde ihm gegen den Strich gehen.
Ich nannte dem devoten Oberkellner den Namen Jenks, und er führte mich eine Treppe hinauf zu einem kleinen separaten Raum, in dem ein Kaminfeuer knisterte. Er nahm mir den wadenlangen elfenbeinfarbenen Trenchcoat ab, den ich angezogen hatte, um zu verbergen, dass ich das trug, was Alice als angemessene Kleidung bezeichnet hätte, und er hielt die Luft an, als er mein Cocktailkleid aus austerngrauem Satin sah. Ich konnte nicht anders, als mich ein wenig geschmeichelt zu fühlen; ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass mich irgendjemand außer Edward schön fand. Der Oberkellner stammelte unartikulierte Komplimente und zog sich schwankend zurück.
Ich stand am Feuer und wartete, ich hielt die Hände nah an die Flammen, um sie vor dem unvermeidlichen Händedruck ein wenig anzuwärmen. Auch wenn J offensichtlich kapiert hatte, dass mit den Cullens etwas nicht stimmte, war es doch eine gute Übung in menschlichem Verhalten.
Ganz kurz überlegte ich, was es für ein Gefühl wäre, die Hand ins Feuer zu halten. Was es für ein Gefühl wäre zu brennen …
Js Ankunft bereitete meinen morbiden Gedanken ein Ende. Der Oberkellner nahm auch ihm den Mantel ab, und ich sah, dass ich nicht die Einzige war, die sich für diesen Anlass in Schale geworfen hatte.
»Entschuldigen Sie meine Verspätung«, sagte J, sobald wir allein waren.
»Nein, Sie sind auf die Minute pünktlich.«
Er gab mir die Hand, und ich merkte, dass sie immer noch deutlich wärmer war als meine. Es schien ihn nicht zu stören.
»Sie sehen umwerfend aus, wenn ich das so sagen darf, Mrs Cullen.«
»Danke sehr. Bitte nennen Sie mich doch Bella.«
»Ich muss sagen, es ist ganz anders, für Sie zu arbeiten als für Mr Jasper. Längst nicht so … beunruhigend.« Er lächelte zögernd.
»Wirklich? Ich finde immer, dass Jasper so eine beruhigende Ausstrahlung hat.«
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Tatsächlich?«, murmelte er höflich, ganz offenbar war er anderer Meinung. Wie merkwürdig. Was hatte Jasper diesem Mann getan?
»Kennen Sie Jasper schon lange?«
Er seufzte, er schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Ich arbeite seit über zwanzig Jahren für Mr Jasper, und mein alter Partner kannte ihn davor schon fünfzehn Jahre … Er verändert sich nicht.« J zuckte kaum merklich zusammen.
»Ja, das ist komisch bei ihm.«
J schüttelte den Kopf, als wollte er die verstörenden Gedanken vertreiben. »Möchten Sie sich nicht setzen, Bella?«
»Ehrlich gesagt bin ich ein wenig in Eile. Ich habe einen weiten Heimweg vor mir.« Während ich das sagte, holte ich den dicken weißen Umschlag mit der Prämie aus der Handtasche und reichte ihn J.
»Ach so«, sagte er, und das klang ein kleines bisschen enttäuscht. Er steckte den Umschlag in die Innentasche seines Jacketts, ohne das Geld nachzuzählen. »Ich hatte gehofft, wir könnten noch kurz miteinander reden.«
»Worüber?«, fragte ich neugierig.
»Warten Sie, ich möchte Ihnen erst die Ware geben. Ich möchte sichergehen, dass Sie zufrieden sind.«
Er drehte sich um, legte seinen Aktenkoffer auf den Tisch und klickte die Schnappverschlüsse auf. Er holte einen DIN-A4-großen braunen Briefumschlag heraus.
Obwohl ich keine Ahnung hatte, worauf ich achten musste, öffnete ich den Umschlag und schaute mir den Inhalt flüchtig an. J hatte Jacobs Foto gespiegelt und die Farbe verändert, damit man nicht sofort sah, dass er in seinem Pass und seinem Führerschein dasselbe Bild hatte. Beide sahen für mich völlig in Ordnung aus, aber das hieß nicht viel. Ich warf einen ganz kurzen Blick auf das Foto in Vanessa Wolfes Pass, dann schaute ich schnell wieder weg, weil ich einen Kloß im Hals hatte.
»Vielen Dank«, sagte ich.
Er verengte die Augen ein wenig, und ich spürte seine Enttäuschung darüber, dass ich die Dokumente nicht gründlicher prüfte. »Ich kann Ihnen versichern, dass jedes Teil vollkommen ist. Alles wird der gründlichsten Prüfung durch Spezialisten standhalten.«
»Das glaube ich Ihnen. Ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie für mich getan haben, J.«
»Es war mir ein Vergnügen, Bella. Sie können sich in Zukunft immer gern an mich wenden, wenn die Familie Cullen irgendetwas benötigt.« Er deutete es noch nicht einmal richtig an, aber für mich klang es wie eine Einladung, Jasper als Kontaktperson zu ersetzen.
»Sie wollten noch etwas besprechen?«
»Ähm, ja. Es ist ein wenig delikat …« Mit fragender Miene winkte er mich zum Kamin. Ich setzte mich auf den steinernen Rand, und er setzte sich neben mich. Er fing schon wieder zu schwitzen an, zog ein blaues Seidentaschentuch aus der Tasche und tupfte sich die Stirn ab.
»Sie sind die Schwester von Mr Jaspers Frau? Oder sind Sie mit seinem Bruder verheiratet?«, fragte er.
»Letzteres«, sagte ich und fragte mich, worauf er hinauswollte.
»Dann sind Sie also Mr Edwards Frau?«
»Ja.«
Er lächelte entschuldigend. »Ich habe all die Namen viele Male gesehen, wissen Sie. Nachträglich meinen Glückwunsch. Es freut mich, dass Mr Edward nach all den Jahren so eine reizende Partnerin gefunden hat.«
»Vielen Dank.«
Er schwieg eine Weile und trocknete wieder seine Stirn. »Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich im Lauf der Jahre einen gesunden Respekt vor Mr Jasper und der ganzen Familie entwickelt habe.«
Ich nickte vorsichtig.
Er holte tief Luft, dann atmete er aus, ohne etwas zu sagen.
»J, bitte sagen Sie, was Sie auf dem Herzen haben.«
Er holte wieder Luft, dann murmelte er schnell und undeutlich: »Wenn Sie mir nur versichern könnten, dass Sie nicht vorhaben, das kleine Mädchen von seinem Vater zu entführen, dann würde ich heute Nacht besser schlafen.«
»Oh«, sagte ich verdutzt. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, welche falschen Schlüsse er gezogen hatte. »Oh nein. So ist es überhaupt nicht.« Ich lächelte schwach und versuchte ihn zu beruhigen. »Ich muss sie nur in Sicherheit bringen, falls meinem Mann und mir etwas zustößt, und das bereite ich jetzt vor.«
Er machte die Augen schmal. »Rechnen Sie denn damit, dass etwas passiert?« Er wurde rot und entschuldigte sich. »Nicht, dass es mich etwas anginge.«
Ich sah, wie sich die Röte unter seiner zarten Haut ausbreitete, und war – wie so oft – froh darüber, dass ich nicht wie die anderen Neugeborenen war. J schien, abgesehen von seinen kriminellen Neigungen, eigentlich ganz nett zu sein, und es wäre schade um ihn gewesen.
»Man kann nie wissen«, sagte ich und seufzte.
Er runzelte die Stirn. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute. Und bitte nehmen Sie mir die Frage nicht übel, aber sollte Mr Jasper kommen und wissen wollen, was für Namen ich für die Papiere gewählt habe …«
»Dann sagen Sie es ihm natürlich sofort. Es wäre mir sehr lieb, wenn Mr Jasper über unsere Transaktion voll im Bilde wäre.«
Meine offensichtliche Aufrichtigkeit schien ihn ein wenig zu beruhigen.
»Sehr gut«, sagte er. »Und ich kann Sie nicht überreden, zum Abendessen zu bleiben?«
»Es tut mir leid. Ich habe im Augenblick wirklich keine Zeit.«
»Dann wünsche ich Ihnen noch einmal alles Gute, Glück und Gesundheit. Wenn die Familie Cullen irgendetwas benötigen sollte, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen, Bella.«
»Vielen Dank, J.«
Dann ging ich mit meiner verbotenen Ware, und als ich mich kurz umblickte, sah ich, dass J mir mit einer Mischung aus Angst und Bedauern hinterherstarrte.
Die Rückfahrt dauerte nicht so lange wie die Hinfahrt. Es war schwarze Nacht, deshalb schaltete ich die Scheinwerfer aus und gab Vollgas. Als ich beim Haus ankam, waren die meisten Autos weg, darunter Alice’ Porsche und mein Ferrari. Die normalen Vampire entfernten sich so weit wie möglich, um ihren Durst zu stillen. Ich versuchte nicht an ihre nächtliche Jagd zu denken, beim Gedanken an ihre Opfer sträubte sich alles in mir.
Nur Kate und Garrett waren im Wohnzimmer, sie stritten scherzhaft über den Nährwert von Tierblut. Ich schloss daraus, dass Garrett die »vegetarische« Variante der Jagd ausprobiert und wenig Gefallen daran gefunden hatte.
Edward hatte Renesmee schon zum Schlafen nach Hause gebracht. Jacob war bestimmt im Wald nah bei unserem Häuschen. Der Rest meiner Familie war offenbar auch auf der Jagd. Vielleicht waren sie mit den anderen Denalis unterwegs.
Das bedeutete, dass ich das Haus praktisch für mich hatte, und diese Tatsache würde ich ausnutzen.
Ich roch, dass ich seit langem die Erste war, die das Zimmer von Alice und Jasper betrat, vielleicht die Erste seit jener Nacht, in der sie uns verlassen hatten. Leise durchwühlte ich ihr riesiges Ankleidezimmer, bis ich die richtige Tasche gefunden hatte. Sie musste Alice gehören, es war ein kleiner schwarzer Lederrucksack, so einer, wie man ihn für gewöhnlich als Handtasche benutzt, so klein, dass selbst Renesmee ihn tragen konnte, ohne dass es komisch aussah. Dann plünderte ich die Portokasse, ich nahm etwa doppelt so viel, wie eine amerikanische Durchschnittsfamilie im Jahr hatte, und stopfte es in den Rucksack. Ich ging davon aus, dass mein Diebstahl in diesem Zimmer am wenigsten auffallen würde, weil es alle zu traurig machte, hierherzukommen. Den Briefumschlag mit den gefälschten Papieren legte ich oben auf das Geld. Dann setzte ich mich auf die Kante von Alice’ und Jaspers Bett und schaute auf das armselige Bündel, das alles darstellte, was ich meiner Tochter und meinem besten Freund mitgeben konnte, damit sie ihr Leben retteten. Ich ließ mich an den Bettpfosten sinken, ich kam mir hilflos vor.
Aber was konnte ich sonst noch tun?
Einige Minuten saß ich mit gesenktem Kopf da, bis mir die Ahnung einer guten Idee kam.
Wenn …
Wenn ich davon ausging, dass Jacob und Renesmee fliehen konnten, dann bedeutete das, dass Demetri tot sein musste. Damit hätten alle Überlebenden ein wenig Zeit gewonnen, inklusive Alice und Jasper.
Weshalb konnten Alice und Jasper dann nicht Jacob und Renesmee helfen? Wenn sie wieder zusammen wären, hätte Renesmee den bestmöglichen Schutz. Nichts sprach dagegen, außer der Tatsache, dass Jake und Renesmee beide blinde Flecken für Alice waren. Wie würde sie anfangen nach den beiden zu suchen?
Ich überlegte einen Augenblick, dann ging ich aus dem Zimmer und durch den Flur zu Carlisles und Esmes Suite. Wie üblich war Esmes Schreibtisch mit Plänen und Entwürfen bedeckt, alle ordentlich gestapelt. Auf dem Tisch waren viele kleine Ablagefächer, in einem davon war eine Schachtel mit Briefpapier. Ich nahm mir ein Blatt und einen Stift.
Dann starrte ich geschlagene fünf Minuten auf das leere elfenbeinfarbene Blatt und konzentrierte mich auf meinen Entschluss. Jacob und Renesmee konnte Alice vielleicht nicht sehen, aber sie konnte mich sehen. Ich stellte mir vor, wie sie diese Szene sah, und hoffte verzweifelt, dass sie nicht zu beschäftigt war, um darauf zu achten.
Langsam und ganz bewusst schrieb ich die Worte RIO DE JANEIRO in Großbuchstaben quer über das Blatt.
Rio schien mir am besten als Fluchtort für die beiden geeignet: Es war weit weg; soweit wir wussten, befanden sich Alice und Jasper bereits in Südamerika, und außerdem hatten sich unsere alten Probleme ja nicht in Luft aufgelöst, nur weil wir jetzt neue Sorgen hatten. Da war immer noch das Rätsel um Renesmees Zukunft, die Tatsache, dass sie so erschreckend schnell älter wurde. Wir hatten ja sowieso geplant in der Gegend zu suchen. Jetzt würde es Jacobs und hoffentlich Alice’ Aufgabe sein, die Legenden aufzuspüren.
Wieder senkte ich den Kopf, ich musste plötzlich ein Schluchzen unterdrücken und biss die Zähne zusammen. Es war besser, dass Renesmee weiterlebte, wenn auch ohne mich. Aber ich vermisste sie jetzt schon so sehr, dass es kaum auszuhalten war.
Ich holte tief Luft und legte den Zettel unten in den Rucksack, wo Jacob ihn schon finden würde.
Ich drückte die Daumen, dass Jake – da seine Schule bestimmt kein Portugiesisch im Angebot hatte – wenigstens Spanisch gewählt hatte.
Jetzt konnten wir nur noch warten.
Zwei Tage lang standen Edward und Carlisle auf der Lichtung, auf der Alice die Volturi hatte ankommen sehen. Es war dasselbe Schlachtfeld, auf dem Victorias Neugeborene im letzten Sommer angegriffen hatten. Ich fragte mich, ob es sich für Carlisle wie eine Wiederholung anfühlte, ein Déjà-vu. Für mich würde es völlig neu sein. Diesmal würden Edward und ich gemeinsam unserer Familie beistehen.
Wir mussten davon ausgehen, dass die Volturi entweder Edward oder Carlisle aufzuspüren versuchten. Ich fragte mich, ob sie sich wohl darüber wunderten, dass ihre Opfer nicht flohen. Ob das ihren Argwohn erregte? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Volturi sich jemals hatten in Acht nehmen müssen.
Obwohl ich für Demetri – hoffentlich – unsichtbar war, blieb ich bei Edward. Natürlich. Uns blieben nur noch wenige Stunden zusammen.
Es hatte keine dramatische Abschiedsszene zwischen Edward und mir gegeben, und ich wollte auch keine. Sobald ich es aussprechen würde, wäre es endgültig. Das wäre so, als würde man das Wort ENDE auf die letzte Seite eines Manuskripts schreiben. Also nahmen wir keinen Abschied, und wir blieben sehr nah beisammen, immer in Berührung. Welches Ende wir auch finden würden, wir würden es gemeinsam finden.
Ein paar Meter weit im schützenden Wald bauten wir ein Zelt für Renesmee auf, und dann gab es noch ein Déjà-vu, als wir wieder mit Jacob zusammen in der Kälte zelteten. Es war fast unvorstellbar, was sich seit letztem Juni alles verändert hatte. Noch vor sieben Monaten schien unsere Dreiecksbeziehung unmöglich, ein dreifaches Leid, unvermeidlich. Jetzt war alles im Gleichgewicht. Welch grausame Ironie des Schicksals, dass die Puzzleteile sich gerade rechtzeitig zusammengefügt hatten, nur um allesamt zerstört zu werden.
Am Silvesterabend begann es wieder zu schneien. Diesmal zerfielen die winzigen Flocken nicht auf dem steinigen Boden der Lichtung. Während Renesmee und Jacob schliefen – Jacob schnarchte so laut, es war erstaunlich, dass Renesmee nicht davon aufwachte –, überzog der Schnee die Erde erst mit einer dünnen Schicht, dann wuchs er immer höher. Als die Sonne aufging, war die Szene aus Alice’ Vision vollkommen. Edward und ich hielten uns an der Hand, während wir über das glitzerweiße Feld schauten, keiner von uns sagte ein Wort.
Bis zum frühen Morgen hatten sich auch die anderen versammelt, ihre Augen waren stumme Zeugen ihrer Vorbereitungen – manche hellgolden, andere blutrot. Bald darauf hörten wir, wie sich die Wölfe im Wald regten. Jacob tauchte aus dem Zelt auf und gesellte sich zu ihnen, Renesmee ließ er weiterschlafen.
Edward und Carlisle stellten die anderen in einer lockeren Schlachtordnung auf, die Zeugen wie Säulen an den Rand.
Ich schaute aus einiger Entfernung zu, ich wartete am Zelt darauf, dass Renesmee aufwachte. Dann half ich ihr beim Anziehen der Kleider, die ich zwei Tage zuvor sorgfältig ausgewählt hatte. Kleider, die ein bisschen rüschig und mädchenhaft aussahen, die jedoch so robust waren, dass man sie nicht so schnell abnutzte – selbst wenn man damit auf dem Rücken eines riesigen Werwolfs durch mehrere Staaten ritt. Über der Jacke trug sie den schwarzen Lederrucksack mit den Papieren, dem Geld, dem Hinweis und meinen Briefen an sie und Jacob, Charlie und Renée. Sie war so stark, dass ihr das Gewicht nichts ausmachte.
Mit großen Augen sah sie, wie ich litt. Doch sie hatte sich schon so viel zusammengereimt, dass sie mich nicht fragte, was ich tat.
»Ich hab dich lieb«, sagte ich. »Mehr als alles auf der Welt.«
»Ich hab dich auch lieb, Momma«, sagte sie. Sie berührte das Medaillon, das sie um den Hals trug und in dem ein kleines Foto von ihr, Edward und mir steckte. »Wir bleiben immer zusammen.«
»In unseren Herzen bleiben wir immer zusammen«, verbesserte ich sie flüsternd, leise wie ein Atemhauch. »Doch wenn heute die Zeit gekommen ist, musst du mich verlassen.«
Ihre Augen weiteten sich und sie legte die Hand an meine Wange. Das stumme Nein war lauter, als wenn sie es geschrien hätte.
Ich versuchte zu schlucken, meine Kehle fühlte sich geschwollen an. »Wirst du das für mich tun? Bitte?«
Sie presste die Finger fester an mein Gesicht. Warum?
»Das kann ich dir nicht sagen«, flüsterte ich. »Aber du wirst es bald verstehen. Das verspreche ich dir.«
In meinem Kopf sah ich Jacobs Gesicht.
Ich nickte. Dann nahm ich ihre Hand von meinem Gesicht. »Denk nicht daran«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Sag Jacob nichts davon, bis ich dir sage, du sollst wegrennen, ja?«
Das verstand sie. Auch sie nickte.
Ich holte eine letzte Kleinigkeit aus der Tasche.
Als ich die Sachen für Renesmee eingepackt hatte, war mir auf einmal etwas Funkelndes ins Auge gestochen. Ein zufälliger Sonnenstrahl war durch das Dachfenster gefallen und hatte die Edelsteine auf dem wertvollen antiken Kästchen erleuchtet, das ich weit oben in einem Regal versteckt hatte. Ich hatte einen Moment überlegt, und dann die Schultern gezuckt. Nach allem, was ich aus Alice’ Hinweisen geschlossen hatte, konnte ich nicht davon ausgehen, dass die bevorstehende Begegnung friedlich verlaufen würde. Aber warum sollte man nicht so freundlich wie möglich beginnen? Das konnte ja nicht schaden. Also hatte ich vielleicht doch noch einen Rest Hoffnung – blinde, sinnlose Hoffnung –, denn ich war auf die Leiter gestiegen und hatte das Hochzeitsgeschenk, das Aro mir geschickt hatte, aus dem Regal geholt.
Jetzt legte ich mir das goldene Seil um den Hals und spürte, wie sich das Gewicht des gewaltigen Diamanten in die Mulde meiner Kehle drückte.
»Schön«, flüsterte Renesmee. Dann schlang sie die Arme wie einen Schraubstock um meinen Hals. Ich drückte sie an die Brust. So mit ihr verschlungen, trug ich sie aus dem Zelt hinaus auf die Lichtung.
Edward hob eine Braue, als ich näher kam, sagte jedoch nichts über unsere Accessoires. Er hielt uns nur lange umschlungen und ließ uns dann mit einem tiefen Seufzer los. Nirgends in seinen Augen konnte ich einen Abschiedsgruß erkennen. Vielleicht hatte er doch mehr Hoffnung, dass es noch etwas nach diesem Leben geben könnte, als er zugab.
Wir nahmen unsere Plätze ein, Renesmee kletterte behände auf meinen Rücken, so dass ich die Hände frei hatte. Ich stand ein Stück hinter der Frontlinie, die aus Carlisle, Edward, Emmett, Rosalie, Tanya, Kate und Eleazar bestand. Dicht neben mir waren Benjamin und Zafrina; meine Aufgabe bestand darin, sie so lange wie möglich abzuschirmen. Sie waren unsere besten Angreifer. Wenn die Volturi diejenigen wären, die nichts sehen könnten, und sei es auch nur für einige Augenblicke, könnte das alles ändern.
Zafrina sah grimmig aus, unbeugsam, Senna an ihrer Seite fast ihr Spiegelbild. Benjamin saß auf dem Boden, die Hände in die Erde gedrückt, er murmelte leise etwas von Verwerfungslinien. In der vergangenen Nacht hatte er an der einen Seite der Wiese haufenweise Felsbrocken zu natürlich aussehenden, jetzt schneebedeckten Stapeln aufgetürmt. Damit konnte man keinen Vampir wirklich verletzen, aber hoffentlich ablenken.
Die Zeugen fanden sich links und rechts von uns zusammen, einige standen näher bei uns als andere – diejenigen, die sich zu uns bekannt hatten, waren am nächsten. Ich sah, dass Siobhan sich die Schläfen rieb, sie hatte die Augen konzentriert geschlossen; tat sie es Carlisle zuliebe? Versuchte sie eine friedliche Lösung herbeizuwünschen?
Im Wald hinter uns hielten sich die Wölfe unsichtbar und leise bereit; wir hörten nur ihr schweres Hecheln und ihren Herzschlag.
Die Wolken zogen weiter und zerstreuten das Licht, so dass man nicht hätte sagen können, ob es Morgen oder Nachmittag war. Edward nahm alles genau in Augenschein, und ich war mir sicher, dass er dieses Bild jetzt zum zweiten Mal sah – zum ersten Mal hatte er es in Alice’ Vision gesehen. Genau so würde es aussehen, wenn die Volturi kamen. Jetzt blieben uns nur noch Minuten, vielleicht Sekunden.
Wir alle, Familie und Verbündete, wappneten uns.
Aus dem Wald kam der riesige rostrote Leitwolf und trat an meine Seite; es war wohl doch zu schwer für ihn, sich von Renesmee fernzuhalten, wenn sie in so unmittelbarer Gefahr schwebte.
Renesmee streckte die Hand aus und vergrub die Finger im Fell seiner kräftigen Schulter, ihr Körper entspannte sich ein wenig. Mit Jacob in der Nähe war sie ruhiger. Auch mir ging es jetzt ein kleines bisschen besser. Solange Jacob bei Renesmee war, hatte sie es gut.
Ohne einen Blick nach hinten zu riskieren, streckte Edward die Hand zu mir aus. Ich reckte den Arm nach vorn, und er drückte meine Finger.
Noch eine Minute verging und ich merkte, dass ich auf das Geräusch ihrer Ankunft lauschte.
Und dann erstarrte Edward und zischte leise zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er richtete den Blick auf den Wald im Norden.
Wir folgten seinem Blick und warteten, während die letzten Sekunden verrannen.