Ein Gefallen

Schon bald darauf erinnerte Edward mich an meine Prioritäten.

Er brauchte nur ein Wort zu sagen.

»Renesmee …«

Ich seufzte. Sie würde bald aufwachen. Es musste fast sieben Uhr früh sein. Ob sie mich suchte? Plötzlich durchfuhr mich so etwas wie Panik, und ich erstarrte. Wie sah sie heute wohl aus?

Edward spürte, dass ich nicht mehr bei der Sache war. »Es ist in Ordnung, Liebste. Zieh dich an, in zwei Sekunden sind wir wieder beim Haus.«

Ich muss ausgesehen haben wie eine Comicfigur, als ich aufsprang, zu ihm schaute – sein Diamantkörper glitzerte schwach in dem diffusen Licht –, dann nach Westen, wo Renesmee wartete, dann wieder zu ihm, dann wieder zu ihr, sechsmal ging mein Kopf innerhalb einer Sekunde hin und her. Edward lächelte, aber er lachte nicht; er hatte sich im Griff.

»Es geht immer wieder um das richtige Maß, Liebste. Du machst das alles so gut, dass es gewiss nicht lange dauern wird, bis sich alles zurechtrückt.«

»Und wir haben ja die ganze Nacht, oder?«

Sein Lächeln wurde breiter. »Glaubst du, sonst könnte ich es ertragen, dass du dich anziehst?«

Das musste reichen, um mich über den Tag zu bringen. Ich würde schon das richtige Maß für dieses überwältigende, wahnsinnige Verlangen finden und eine gute … Es war schwer, das Wort zu denken. Obwohl Renesmee so real und wichtig für mich war, fiel es mir immer noch schwer, mich als Mutter zu sehen. Aber das würde wahrscheinlich jeder Frau so gehen, ohne die neun Monate Vorbereitungszeit. Und mit einem Kind, das sich stündlich veränderte.

Als ich daran dachte, wie rasend schnell Renesmee sich entwickelte, war ich sofort wieder nervös. Ich blieb noch nicht mal an der mit Schnitzereien verzierten Flügeltür stehen, um einmal durchzuatmen, bevor ich mir anschaute, was Alice für mich vorbereitet hatte. Ich platzte einfach hinein, wild entschlossen, das Erstbeste anzuziehen, das mir in die Finger kam. Ich hätte mir denken können, dass es nicht ganz so einfach sein würde.

»Welche sind meine?«, zischte ich. Wie versprochen war der Raum größer als unser Schlafzimmer. Vielleicht sogar größer als das ganze restliche Haus, doch um das festzustellen, hätte ich ihn abschreiten müssen. Ich stellte mir kurz vor, wie Alice Esme dazu überredet haben mochte, die klassischen Proportionen zu vernachlässigen und dieses Monstrum zuzulassen. Ich fragte mich, wie sie das geschafft hatte.

Alles war in Kleiderhüllen verpackt, weiß und unberührt, Reihe um Reihe um Reihe.

»Soweit ich weiß, gehört alles dir bis auf diese Kleiderstange.« Edward berührte eine Stange, die sich über die schmale Wand links neben der Tür erstreckte.

»Das alles?«

Er zuckte die Achseln.

»Alice«, sagten wir wie aus einem Mund. Er sprach ihren Namen aus wie eine Erklärung, ich wie ein Schimpfwort.

»Na gut«, murmelte ich und zog den Reißverschluss der ersten Hülle herunter. Ich knurrte leise, als ein bodenlanges Seidenkleid zum Vorschein kam – babyrosa.

Es konnte den ganzen Tag dauern, bis ich etwas Normales zum Anziehen fand!

»Ich helfe dir«, bot Edward an. Er schnupperte bedächtig, dann folgte er einem Duft in den hinteren Teil des länglichen Raums. Dort befand sich eine eingebaute Kommode. Er schnupperte wieder und zog dann eine Schublade auf. Mit einem triumphierenden Grinsen holte er eine modisch verwaschene blaue Jeans heraus.

Ich flitzte zu ihm. »Wie hast du das gemacht?«

»Denim hat seinen eigenen Geruch, wie alles andere auch. Und jetzt … Baumwolle?

Er folgte dem Duft zu einer Schranktür und förderte ein langärmliges weißes T-Shirt zu Tage. Er warf es mir zu.

»Danke«, sagte ich aus tiefstem Herzen. Ich beschnüffelte die Stoffe und merkte mir den Geruch für künftige Suchaktionen in diesem Irrenhaus. Seide und Satin kannte ich schon, die würde ich meiden.

Er brauchte nur ein paar Sekunden, um seine eigenen Sachen zu finden – hätte ich ihn nicht nackt gesehen, hätte ich geschworen, dass es nichts Schöneres gab als Edward in seiner Khakihose und dem hellbeigefarbenen Pulli –, dann nahm er meine Hand. Wir sausten durch den verborgenen Garten, sprangen leichtfüßig über die Steinmauer und rasten in Höchstgeschwindigkeit in den Wald. Ich befreite meine Hand, damit wir ein Wettrennen machen konnten. Diesmal gewann er.

Renesmee war wach, sie saß auf dem Boden und spielte mit einem kleinen Haufen verbogenen Silberbestecks, während Rose und Emmett neben ihr saßen. In der rechten Hand hatte sie einen krummen Löffel. Kaum erspähte sie mich durch die Glastür, pfefferte sie den Löffel zu Boden – wo er eine Kerbe im Holz hinterließ – und zeigte fordernd in meine Richtung. Ihre Zuschauer lachten; Alice, Jasper, Esme und Carlisle saßen auf dem Sofa und schauten ihr zu, als sähen sie einen spannenden Film.

Ich war schon im Zimmer, bevor sie zu Ende gelacht hatten; auf Renesmee zulaufen und sie hochheben war eins. Wir strahlten uns an.

Sie war verändert, aber nicht so sehr. Wieder ein wenig größer, ihr Körper verlor das Babyhafte und wurde kindlicher. Ihre Haare waren schon wieder zwei Zentimeter gewachsen, die Locken hüpften bei jeder Bewegung wie Sprungfedern. Auf dem Weg zum Haus war meine Phantasie mit mir durchgegangen, ich hatte mir das Schlimmste ausgemalt. Dank meiner übertriebenen Ängste waren diese kleinen Veränderungen fast eine Erleichterung. Auch ohne Carlisles Messergebnisse zu kennen, war ich mir sicher, dass sie langsamer gewachsen war als gestern.

Renesmee tätschelte meine Wange. Ich zuckte zusammen. Sie hatte schon wieder Hunger.

»Seit wann ist sie wach?«, fragte ich, als Edward durch die Küchentür verschwunden war. Bestimmt machte er Frühstück für sie, denn er kannte ihre Gedanken ja genauso wie ich. Ich fragte mich, ob er ihre kleine Eigenart überhaupt bemerkt hätte, wenn nur er sie gekannt hätte. Für ihn war es wahrscheinlich nichts Besonderes, weil er ja alle Gedanken hören konnte.

»Erst seit ein paar Minuten«, sagte Rose. »Wir hätten dich bald angerufen. Sie hat nach dir gefragt – oder verlangt, sollte man wohl besser sagen. Esme hat ihr zweitbestes Silberbesteck geopfert, um das kleine Monster bei Laune zu halten.« Rose lächelte Renesmee so liebevoll an, dass der kleine Spott kein Gewicht hatte. »Wir wollten euch nicht … stören.«

Rosalie biss sich auf die Lippe und versuchte, nicht zu lachen. Ich spürte Emmetts stummes Gelächter hinter mir, das Haus schien in seinen Fundamenten zu erbeben.

Ich ließ mir nichts anmerken. »Wir richten gleich dein Zimmer ein«, sagte ich zu Renesmee. »Das Häuschen wird dir gefallen. Es ist bezaubernd.« Ich schaute zu Esme. »Danke, Esme. Vielen, vielen Dank. Es ist einfach vollkommen.«

Bevor Esme antworten konnte, lachte Emmett wieder – diesmal alles andere als leise.

»Dann steht es also noch?«, stieß er mühsam hervor. »Ich dachte, ihr beide hättet es in Trümmer gelegt. Was habt ihr letzte Nacht getrieben? Die Staatsverschuldung diskutiert?« Er jaulte vor Lachen.

Ich biss die Zähne zusammen und sagte mir, dass ich nur Schaden anrichten würde, wenn ich so ausrastete wie gestern. Auch wenn Emmett nicht so zerbrechlich war wie Seth …

Als ich an Seth dachte, fiel mir auf, dass weder er noch Jacob da waren. »Wo sind die Wölfe heute?«, fragte ich und schaute zum Fenster hinaus, doch von Leah war nichts zu sehen.

»Jacob ist heute Morgen ziemlich früh losgezogen«, sagte Rosalie mit leicht gerunzelter Stirn. »Seth ist ihm gefolgt.«

»Worüber hat er sich so aufgeregt?«, fragte Edward, als er mit Renesmees Tasse wieder ins Zimmer kam. In Rosalies Erinnerung musste noch mehr gewesen sein, als ich ihr angesehen hatte.

Ohne zu atmen, überreichte ich Rosalie Renesmee. Wenn ich auch eine Superselbstbeherrschung hatte, füttern konnte ich sie auf keinen Fall. Noch nicht.

»Ich weiß nicht – und es ist mir auch einerlei«, sagte Rosalie leise, aber dann beantwortete sie Edwards Frage doch. »Er sah Nessie beim Schlafen zu, mit offenem Mund, vertrottelt, wie er ist, dann sprang er einfach ohne jeden Anlass auf – jedenfalls habe ich keinen bemerkt – und stürmte hinaus. Ich war froh, dass ich ihn los war. Je mehr Zeit er hier verbringt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass wir den Gestank jemals wieder herausbekommen.«

»Rose«, sagte Esme mit sanftem Tadel.

Rosalie warf die Haare zurück. »Ich nehme an, es spielt keine Rolle. Wir bleiben ohnehin nicht mehr lange hier.«

»Ich bin immer noch der Ansicht, dass wir direkt nach New Hampshire reisen und alles vorbereiten sollten«, sagte Emmett, offenbar hatten sie schon vorher darüber gesprochen. »Bella ist in Dartmouth ja schon eingeschrieben, und es sieht nicht so aus, als würde sie allzu lange brauchen, bis sie auf die Uni kann.« Er sah mich mit spöttischem Grinsen an. »Du schaffst das garantiert alles mit links … Du hast ja nachts offenbar nicht Besseres zu tun, als zu büffeln.«

Rosalie kicherte.

Nicht ausrasten, nicht ausrasten, sagte ich mir immer wieder und war stolz auf mich, weil ich einen kühlen Kopf bewahrte.

Deshalb war ich einigermaßen verblüfft über Edwards Reaktion.

Er knurrte – ein plötzlicher, erschreckend rauer Laut – und eine ohnmächtige Wut trat auf sein Gesicht wie Gewitterwolken.

Ehe einer von uns etwas sagen konnte, war Alice schon aufgesprungen.

»Was macht er? Was hat der Hund angestellt, das meine ganzen Pläne für den heutigen Tag ausgelöscht hat? Ich kann überhaupt nichts mehr sehen! Nein!« Sie warf mir einen gequälten Blick zu. »Sieh dich nur an! Du musst dich von mir in deinen Kleiderschrank einweisen lassen!«

Einen winzigen Augenblick lang war ich dankbar für das, was Jacob im Schilde führte.

Aber dann ballte Edward die Hände zu Fäusten und knurrte: »Er hat mit Charlie gesprochen. Er geht davon aus, dass Charlie ihm folgt. Hierher. Heute.«

Alice sagte ein Wort, das so gar nicht zu ihrer melodiösen, damenhaften Stimme passte, dann sauste sie wie der Blitz zur Hintertür hinaus.

»Er hat es Charlie erzählt?«, stieß ich hervor. »Aber – versteht er denn gar nichts? Wie konnte er das tun?« Charlie durfte nicht erfahren, was mit mir los war! Durfte nichts von Vampiren wissen! Damit stünde er auf einer Abschussliste, von der ihn nicht einmal die Cullens retten konnten. »Nein!«

Edward sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Jacob ist gleich hier.«

Weiter östlich hatte es offenbar angefangen zu regnen. Jacob kam zur Tür herein und schüttelte die nassen Haare wie ein Hund, die Tropfen spritzten auf den Teppich und auf das Sofa, wo sie kleine graue Flecken auf dem weißen Stoff hinterließen. Seine Zähne glänzten hinter den dunklen Lippen; seine Augen leuchteten aufgeregt. Er ging mit ruckartigen Bewegungen, als fände er es wahnsinnig aufregend, das Leben meines Vaters zu zerstören.

»Hi, Leute«, sagte er grinsend.

Es blieb vollkommen still.

Leah und Seth schlüpften nach ihm zur Tür herein, in Menschengestalt – bis jetzt noch, die Spannung im Zimmer ließ beiden die Hände zittern.

»Rose«, sagte ich und streckte die Arme aus. Wortlos reichte Rosalie mir Renesmee. Ich drückte sie fest an mein regloses Herz, als wäre sie mein Talisman gegen überstürzte Reaktionen. Ich wollte sie so lange in den Armen halten, bis ich mir sicher war, dass ich Jacob nicht nur aus Wut töten wollte, sondern aus vernünftigen Gründen.

Sie war ganz still, sie schaute und lauschte. Wie viel konnte sie verstehen?

»Charlie müsste bald hier sein«, sagte Jacob beiläufig. »Nur so als Vorwarnung. Ich nehme an, Alice besorgt dir eine Sonnenbrille oder so?«

»Du nimmst viel zu viel an«, fauchte ich. »Was. Hast. Du. Getan?«

Jacobs Lächeln geriet ins Wanken, aber er war noch immer zu aufgedreht, um mir eine ernsthafte Antwort zu geben. »Blondie und Emmett haben mich heute mit einer endlosen Diskussion darüber geweckt, dass ihr alle ans andere Ende des Landes ziehen wollt. Als ob ich euch einfach so ziehen lassen könnte. Das größte Problem war doch immer Charlie, oder? Na, das hätten wir jetzt gelöst.«

»Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da angerichtet hast? In was für eine Gefahr du ihn bringst?«

Er schnaubte. »Ich bringe ihn nicht in Gefahr. Von dir mal abgesehen. Aber du hast doch so eine übernatürliche Selbstbeherrschung, oder? Nicht ganz so gut wie Gedankenlesen, wenn du mich fragst. Vergleichsweise öde.«

Jetzt kam Leben in Edward, er sauste durchs Zimmer, um Jacob anzufahren. Obwohl Edward einen halben Kopf kleiner war, wich Jacob vor seiner unbändigen Wut zurück, als würde er ihn überragen.

»Das ist nur eine Theorie, du Bastard«, fauchte er. »Meinst du, wir sollten sie an Charlie testen? Hast du bedacht, welche körperlichen Schmerzen du Bella zumutest, selbst wenn sie widerstehen kann? Oder die seelische Qual, falls sie es nicht kann? Was mit Bella geschieht, betrifft dich jetzt wohl nicht mehr?« Die letzten Worte fauchte er.

Renesmee presste die Finger ängstlich an meine Wange, die Angst spiegelte sich in den Bildern in ihrem Kopf.

Edwards Worte holten Jacob schließlich aus seiner eigentümlich elektrisierten Stimmung heraus. Sein Mund klappte auf. »Bella wird Schmerzen haben?«, sagte er strinrunzelnd.

»Als ob du ihr ein glühend heißes Bügeleisen in den Hals schieben würdest.«

Ich erschrak, als ich mich an den Geruch von Menschenblut erinnerte.

»Das wusste ich nicht«, flüsterte Jacob.

»Dann hättest du vielleicht vorher fragen sollen«, knurrte Edward.

»Dann hättest du mich aufgehalten.«

»Man hätte dich aufhalten sollen …«

»Hier geht es nicht um mich«, unterbrach ich ihn. Ich stand ganz still da, versuchte Renesmee festzuhalten und die Ruhe zu bewahren. »Hier geht es um Charlie, Jacob. Wie konntest du ihn nur so in Gefahr bringen? Bist du dir im Klaren, dass auch er jetzt nur noch die Wahl zwischen dem Tod und einem Leben als Vampir hat?« Meine Stimme zitterte von den Tränen, die meine Augen nicht mehr vergießen konnten.

Jacob war immer noch beunruhigt wegen Edwards Vorwürfen, während meine ihn offenbar nicht weiter beschäftigten. »Keine Panik, Bella, ich hab ihm nichts erzählt, was du ihm nicht sowieso erzählen wolltest.«

»Aber er kommt hierher!«

»Ja, so ist es gedacht. War doch deine Idee, dass er die falschen Schlüsse ziehen soll, oder? Ich will mich ja nicht loben, aber ich glaube, ich hab ein ganz nettes Ablenkungsmanöver inszeniert.«

Meine Finger lösten sich von Renesmee, dann hielt ich sie wieder fest. »Sag es einfach direkt, Jacob. Ich hab jetzt nicht die Geduld für solche Spielchen.«

»Ich hab ihm nichts von dir erzählt, Bella. Nicht direkt. Ich hab ihm von mir erzählt. Oder besser gesagt, ich hab es ihm gezeigt

»Er hat sich vor Charlies Augen verwandelt«, zischte Edward.

»Du hast was?«, flüsterte ich.

»Er ist mutig. Genau wie du. Ist nicht ohnmächtig geworden, hat sich nicht übergeben oder so. Ich muss sagen, ich war beeindruckt. Aber du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich anfing mich auszuziehen. Zum Schreien«, gluckste Jacob.

»Du Vollidiot! Er hätte einen Herzinfarkt kriegen können!«

»Charlie geht es bestens. Er ist hart im Nehmen. Wenn du mir nur eine Minute Zeit lassen würdest, dann würdest du einsehen, dass ich dir einen Gefallen getan hab.«

»Die Hälfte, Jacob.« Meine Stimme war tonlos und eisenhart. »Du hast dreißig Sekunden Zeit, um mir alle Einzelheiten zu erzählen, bevor ich Renesmee Rosalie gebe und dir deinen armseligen Kopf abreiße. Diesmal kann Seth mich nicht aufhalten.«

»Meine Güte, Bella. Du warst doch sonst nicht so melodramatisch. Ist das so bei Vampiren?«

»Sechsundzwanzig Sekunden.«

Jacob verdrehte die Augen und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Sein kleines Rudel stellte sich links und rechts neben ihn, nicht ganz so locker, wie er sich den Anschein gab; Leahs Blick war auf mich gerichtet, die Zähne hatte sie leicht gebleckt.

»Also, heute Morgen hab ich bei Charlie an die Tür geklopft und ihn zu einem Spaziergang eingeladen. Erst hat er sich gewundert, aber als ich ihm sagte, dass es um dich geht und dass du wieder in Forks bist, ist er mit mir in den Wald gekommen. Ich hab ihm erzählt, dass du nicht mehr krank bist und dass alles ein bisschen merkwürdig, aber gut ist. Er wollte sofort zu dir, aber da hab ich gesagt, ich müsste ihm erst etwas zeigen. Und dann hab ich mich verwandelt.« Jacob zuckte die Schultern.

Es fühlte sich so an, als würden meine Zähne von einem Schraubstock zusammengehalten. »Ich will jedes einzelne Wort wissen, du Monster.«

»Hey, du hattest doch gesagt, ich hätte nur dreißig Sekunden Zeit – schon gut, schon gut.« Mein Anblick hatte ihn wohl davon überzeugt, dass ich nicht zu Scherzen aufgelegt war. »Warte mal … ich hab mich zurückverwandelt, hab mich angezogen, und als er wieder Luft holen konnte, hab ich so was gesagt wie: Charlie, die Welt ist nicht so, wie du bisher geglaubt hast. Aber das Gute ist, dass sich eigentlich nichts verändert hat – außer dass du jetzt Bescheid weißt. Das Leben wird so weitergehen wie früher. Du kannst einfach so tun, als ob du nichts davon glaubst.

Es dauerte eine Weile, bis er die Kurve kriegte, und dann wollte er wissen, was wirklich mit dir los war, was das für eine komische seltene Krankheit gewesen sein soll. Ich hab ihm gesagt, dass du wirklich krank warst, dass es dir jetzt aber wieder gutgeht – dass du dich während der Genesung nur ein wenig verändert hast. Er wollte wissen, was das für eine Veränderung sein soll, und da hab ich gesagt, dass du jetzt eher so aussiehst wie Esme als wie Renée.«

Edward zischte, ich guckte entsetzt; das führte in eine gefährliche Richtung.

»Nach ein paar Minuten fragte er ganz leise, ob du dich auch in ein Tier verwandelst. Da hab ich gesagt: So cool wär sie wohl gern!« Er kicherte.

Rosalie gab einen angewiderten Laut von sich.

»Ich wollte ihm mehr über Werwölfe erzählen, aber ich konnte nicht mal das Wort aussprechen, da unterbrach er mich schon und sagte, er würde lieber keine Einzelheiten erfahren. Dann fragte er, ob du wusstest, worauf du dich einlässt, als du Edward geheiratet hast, und ich hab gesagt: Klar, sie weiß das alles schon seit Jahren, schon seit sie nach Forks gekommen ist. Das gefiel ihm nicht besonders. Ich ließ ihn schimpfen, bis er es sich von der Seele geschafft hatte. Als er sich wieder beruhigt hatte, wollte er zwei Dinge. Er wollte dich sehen, aber ich hab gesagt, es wär besser, wenn er mir einen Vorsprung lässt, damit ich alles erklären kann.«

Ich holte tief Luft. »Und das Zweite?«

Jacob lächelte. »Das wird dir gefallen. Er hat ausdrücklich betont, dass er von alldem so wenig erfahren möchte wie möglich. Wenn es nicht absolut erforderlich ist, dass er etwas weiß, dann behalt es für dich. Nur das, was er wissen muss.«

Zum ersten Mal, seit Jacob aufgetaucht war, empfand ich Erleichterung. »Damit komme ich klar.«

»Ansonsten möchte er so tun, als wäre alles ganz normal.« Jacobs Lächeln war jetzt beinahe selbstgefällig; er schien zu merken, dass ich fast so etwas wie Dankbarkeit empfand.

»Was hast du ihm von Renesmee erzählt?« Ich bemühte mich um einen unvermindert scharfen Ton, ich wollte mich nicht milde stimmen lassen, das wäre verfrüht gewesen. So vieles an der Situation war völlig verkehrt. Auch wenn Charlie die Sache besser aufgenommen hatte, als ich je zu hoffen gewagt hätte …

»Ach so, ja. Ich hab ihm erzählt, Edward und du hättet jetzt noch ein Mäulchen mehr zu füttern«, sagte er mit einem Seitenblick auf Edward. »Sie ist dein verwaistes Mündel – wie bei Batman und Robin.« Jacob schnaubte. »Ich hab mir gedacht, dass es dir bestimmt nichts ausmacht, wenn ich lüge. Das gehört dazu, oder?« Edward gab keine Antwort, also erzählte Jacob weiter. »Das konnte Charlie dann auch nicht mehr schocken, aber er hat gefragt, ob ihr sie adoptieren wollt. Wie eine Tochter? Bin ich dann sozusagen Großvater? Das waren seine Worte. Ich hab ja gesagt, Herzlichen Glückwunsch, Opa und so weiter. Er hat sogar ein bisschen gelächelt.«

Jetzt stach es wieder in meinen Augen, aber diesmal nicht vor Angst oder Kummer. Charlie lächelte bei der Vorstellung, Großvater zu werden? Er würde Renesmee kennenlernen?

»Aber sie verändert sich so schnell«, flüsterte ich.

»Ich hab ihm gesagt, dass sie ungewöhnlicher ist als wir alle zusammen«, sagte Jacob sanft. Er stand auf und kam auf mich zu, und als Leah und Seth hinterherkommen wollten, gab er ihnen ein Zeichen zurückzubleiben. Renesmee streckte die Arme nach ihm aus, doch ich drückte sie noch fester an mich. »Ich hab ihm gesagt: Glaub mir, du willst das alles gar nicht wissen. Aber wenn du über all das Merkwürdige hinwegsiehst, wirst du staunen. Sie ist das wunderbarste Wesen auf der ganzen Welt. Und dann hab ich zu ihm gesagt, wenn er es aushält, würdet ihr eine Weile hierbleiben und er könnte sie kennenlernen. Aber dass ihr, wenn es zu viel für ihn wäre, wegziehen würdet. Er meinte, solange ihm keiner zu viele Informationen aufdrängt, würde er das schon hinkriegen.«

Jacob schaute mich mit einem halben Lächeln an, er wartete.

»Glaub bloß nicht, dass ich mich bei dir bedanke«, sagte ich. »Immerhin setzt du Charlie einem großen Risiko aus.«

»Es tut mir echt leid, dass es für dich schmerzhaft ist. Das wusste ich nicht. Bella, unser Verhältnis ist jetzt anders als früher, aber du wirst immer meine beste Freundin sein, und ich werde dich immer lieben. Aber ich liebe dich jetzt so, wie es sein soll. Endlich ist alles im Gleichgewicht. Wir haben beide jemanden, ohne den wir nicht leben können.«

Er lächelte sein schönstes Jacob-Lächeln. »Sind wir noch Freunde?«

Obwohl ich mit aller Macht dagegen ankämpfte, konnte ich nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Nur ein klein wenig.

Er streckte eine Hand nach mir aus: ein Angebot.

Ich holte tief Luft und hielt Renesmee mit einem Arm. Dann legte ich die linke Hand in seine – er zuckte nicht einmal zusammen, als er meine kühle Haut spürte. »Wenn ich Charlie bis heute Abend nicht umgebracht habe, denke ich darüber nach, ob ich dir verzeihe.«

»Weil du Charlie heute nicht umbringst, bist du mir einiges schuldig.«

Ich verdrehte die Augen.

Er streckte eine Hand nach Renesmee aus, diesmal eine Bitte. »Darf ich?«

»Eigentlich halte ich sie, damit ich die Hände nicht frei hab, um dich umzubringen. Vielleicht später.«

Er seufzte, aber er drängte nicht weiter. Sehr klug von ihm.

Da kam Alice wieder zur Tür herein, sie hatte die Hände voll und ihr Gesicht stand auf Sturm.

»Du, du und du«, sagte sie barsch und schaute die Werwölfe zornig an. »Wenn ihr schon bleiben müsst, verzieht euch in die Ecke und rührt euch eine Weile nicht vom Fleck. Ich muss jetzt etwas sehen. Bella, gib ihm lieber auch das Baby. Du musst sowieso die Arme frei haben.«

Jacob grinste triumphierend.

Die nackte Angst durchfuhr mich, als mir klarwurde, was mir da bevorstand. Ich sollte auf meine zweifelhafte Selbstbeherrschung setzen und mein armer Vater spielte das Versuchskaninchen. Edwards Worte von vorhin dröhnten mir wieder in den Ohren. Hast du bedacht, welche körperlichen Schmerzen du Bella zumutest, selbst wenn sie widerstehen kann? Oder die seelische Qual, falls sie es nicht kann?

Ich konnte mir den Schmerz, falls ich versagte, nicht vorstellen. Mein Atem wurde zu einem Keuchen.

»Nimm sie«, flüsterte ich und drückte Jacob Renesmee in die Arme.

Er nickte, auf seiner Stirn bildete sich eine Sorgenfalte. Er machte eine Handbewegung zu den anderen und sie verzogen sich alle in die hinterste Ecke des Zimmers. Seth und Jacob setzten sich sofort auf den Boden, aber Leah schüttelte den Kopf und schob die Lippen vor.

»Kann ich auch gehen?«, maulte sie. Sie schien sich in Menschengestalt unwohl zu fühlen, sie trug immer noch dasselbe schmutzige T-Shirt und die Baumwollshorts wie an dem Tag, als sie mich wegen Jacob angeschrien hatte, ihre kurzen Haare standen in wilden Büscheln hoch. Noch immer zitterten ihr die Hände.

»Klar«, sagte Jacob.

»Halt dich östlich, damit du Charlie nicht über den Weg läufst«, fügte Alice hinzu.

Leah sah Alice nicht an, sie verschwand zur Hintertür hinaus und stapfte in die Büsche, um sich zu verwandeln.

Edward war wieder an meiner Seite und streichelte mein Gesicht. »Du wirst es schaffen. Ich werde dir helfen und die anderen auch.«

Ich schaute ihn an und merkte, dass mir die Panik ins Gesicht geschrieben war. War er stark genug, um mich zurückzuhalten, falls ich eine falsche Bewegung machte?

»Wenn ich nicht glaubte, dass du damit fertigwirst, würden wir noch heute abreisen. Auf der Stelle. Doch du wirst es schaffen. Und du wirst glücklicher sein, wenn du Charlie weiterhin sehen kannst.«

Ich versuchte ruhiger zu atmen.

Alice streckte die Hand aus. Ein kleines weißes Döschen lag darin. »Sie sind unangenehm in den Augen – sie tun nicht weh, aber sie trüben möglicherweise deine Sicht. Das ist lästig. Sie haben auch nicht die gleiche Farbe, die deine Augen früher hatten, aber immer noch besser als Hellrot, stimmt’s?«

Sie warf das Döschen mit den Kontaktlinsen hoch und ich fing es auf.

»Wann hast du …?«

»Bevor ihr zu eurer Hochzeitsreise aufgebrochen seid. Ich habe mich auf verschiedene Zukunftsversionen vorbereitet.«

Ich nickte und öffnete das Döschen. Ich hatte noch nie Kontaktlinsen getragen, aber so schwer konnte das ja nicht sein. Ich nahm eine der kleinen braunen Linsen und legte sie mit der konkaven Seite auf mein Auge.

Ich blinzelte, ein Film störte meine Sicht. Ich konnte zwar hindurchsehen, aber ich sah auch die Struktur der Linse. Unweigerlich konzentrierte sich mein Auge auf die winzigen Kratzer und unregelmäßigen Stellen.

»Jetzt verstehe ich, was du meinst«, sagte ich und setzte die zweite Linse ein. Diesmal versuchte ich, nicht zu blinzeln. Mein Auge wollte den Fremdkörper automatisch loswerden.

»Wie seh ich aus?«

Edward lächelte. »Hinreißend. Natürlich …«

»Ja, ja, sie sieht immer hinreißend aus«, beendete Alice ungeduldig seinen Satz. »Es ist besser als Rot, aber das ist auch schon das Beste, was ich dazu sagen kann. Schlammfarben. Dein Braun war viel schöner. Denk daran, dass sie nicht unbegrenzt haltbar sind – das Gift in deinen Augen wird sie innerhalb weniger Stunden auflösen. Sollte Charlie länger bleiben, musst du dich entschuldigen, um sie zu wechseln. Was aber ohnehin ratsam ist, da die Menschen hin und wieder zur Toilette müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Esme, gib ihr ein paar Tipps, wie man sich als Mensch benimmt, während ich das Bad mit Kontaktlinsen bestücke.«

»Wie viel Zeit habe ich?«

»Charlie wird in fünf Minuten hier sein. Also nicht zu sehr in die Tiefe gehen.«

Esme nickte und nahm meine Hand. »Das Wichtigste ist, nicht zu still zu sitzen oder sich zu schnell zu bewegen«, erklärte sie.

»Setz dich hin, wenn er sich setzt«, warf Emmett ein. »Menschen stehen nicht gern einfach nur da.«

»Lass deinen Blick etwa alle dreißig Sekunden schweifen«, fügte Jasper hinzu. »Menschen starren nicht so lange auf eine Stelle.«

»Schlag fünf Minuten lang die Beine übereinander, danach die Füße«, sagte Rosalie.

Ich nickte zu jedem Vorschlag. All das war mir gestern bei ihnen aufgefallen. Ich traute es mir zu, das nachzumachen.

»Und mindestens dreimal pro Minute blinzeln«, sagte Emmett. Er runzelte die Stirn, dann flitzte er zu der Fernbedienung am Ende des Tisches. Er schaltete den Fernseher ein, wo ein Footballspiel lief, und nickte zufrieden.

»Die Hände musst du auch bewegen. Streich die Haare zurück oder tu so, als müsstest du dich kratzen«, sagte Jasper.

»Ich sagte, Esme«, beschwerte sich Alice, als sie zurückkam. »Ihr überfordert sie ja völlig.«

»Nein, ich glaube, ich hab alles kapiert«, sagte ich. »Sitzen, sich umschauen, blinzeln, ein bisschen herumzappeln.«

»Genau«, sagte Esme beifällig. Sie umfasste meine Schultern.

Jasper zog die Stirn in Falten. »Du wirst die Luft anhalten, soweit es geht, aber du musst ein wenig die Schultern bewegen, damit es so aussieht, als würdest du atmen.«

Ich atmete einmal tief ein und nickte wieder.

Edward umarmte mich von der anderen Seite. »Du schaffst das«, sagte er mir ins Ohr.

»Noch zwei Minuten«, sagte Alice. »Vielleicht ist es am besten, wenn du am Anfang auf dem Sofa sitzt. Dann sieht er nicht gleich als Erstes, ob du dich richtig bewegst.« Alice zog mich zum Sofa. Ich versuchte, langsam und ein wenig schwerfällig zu gehen. Sie verdrehte die Augen, also machte ich meine Sache wohl nicht so gut.

»Jacob, ich brauche Renesmee«, sagte ich.

Jacob runzelte die Stirn und rührte sich nicht vom Fleck.

Alice schüttelte den Kopf. »Bella, wie soll ich denn dann etwas sehen?«

»Aber ich brauche sie. Nur mit ihr kann ich ruhig bleiben.« Die leichte Panik in meiner Stimme war unüberhörbar.

»Na gut.« Alice stöhnte. »Halt sie, so still du kannst, und ich versuche um sie herumzusehen.« Sie seufzte müde, als hätte man sie gebeten an einem Feiertag Überstunden zu machen. Auch Jacob seufzte, doch er brachte mir Renesmee, dann entzog er sich schnell Alice’ wütendem Blick.

Edward setzte sich neben mich und legte die Arme um Renesmee und mich. Er beugte sich vor und schaute Renesmee sehr ernst in die Augen.

»Renesmee, jemand Besonderes wird dich und deine Mutter gleich besuchen«, sagte er feierlich, als erwarte er, dass sie jedes Wort verstand. War es so? Sie schaute ihn mit klarem, ernsthaftem Blick an. »Aber er ist nicht so wie wir und auch nicht wie Jacob. Wir müssen ganz vorsichtig mit ihm sein. Es ist besser, wenn du ihm nichts erzählst, so wie du uns alles erzählst.«

Renesmee berührte sein Gesicht.

»Genau«, sagte er. »Und er wird dir Durst machen. Aber du darfst ihn nicht beißen. Bei ihm verheilen die Wunden nicht so schnell wie bei Jacob.«

»Versteht sie dich?«, flüsterte ich.

»Sie versteht. Du wirst aufpassen, nicht wahr, Renesmee? Du wirst uns doch helfen?«

Renesmee berührte ihn wieder.

»Nein, wenn du Jacob beißt, macht das nichts. Das ist in Ordnung.«

Jacob kicherte.

»Vielleicht solltest du lieber gehen, Jacob«, sagte Edward kalt und schaute wütend zu ihm hin. Edward hatte Jacob noch nicht verziehen, denn er wusste, dass ich Schmerzen haben würde, ganz gleich, was jetzt geschah. Aber wenn nichts Schlimmeres passierte, wollte ich das Brennen gern in Kauf nehmen.

»Ich hab Charlie gesagt, dass ich auch da bin. Er braucht die moralische Unterstützung.«

»Moralische Unterstützung«, spottete Edward. »Nach allem, was Charlie weiß, bist du doch das abscheulichste Monster hier.«

»Abscheulich?«, protestierte Jacob, dann lachte er leise in sich hinein.

Ich hörte, wie die Reifen vom Highway auf die ruhige, feuchte Erde unserer Auffahrt fuhren, und jetzt ging mein Atem wieder schneller. Mein Herz hätte eigentlich hämmern müssen. Es machte mich nervös, dass mein Körper nicht die richtigen Reaktionen zeigte.

Um mich zu beruhigen, konzentrierte ich mich auf das regelmäßige Pochen von Renesmees Herz. Das zeigte schon bald Wirkung.

»Gut gemacht, Bella«, flüsterte Jasper.

Edward nahm mich noch fester in den Arm.

»Bist du dir sicher?«, fragte ich.

»Ganz sicher. Du kannst alles.« Er lächelte und küsste mich.

Es war nicht nur ein hingehauchter Kuss, und meine wilde Vampirleidenschaft traf mich wieder völlig unvorbereitet. Edwards Lippen waren wie eine Droge, die direkt in mein Nervensystem eingespritzt wurde. Sofort hatte ich das Verlangen nach mehr. Ich musste mich sehr konzentrieren, um an das Baby in meinen Armen zu denken.

Jasper spürte meine veränderte Stimmung. »Hm, Edward, es wäre nett, wenn du sie jetzt nicht unbedingt derart ablenken würdest. Sie muss in der Lage sein, sich zu konzentrieren.«

Edward wich zurück. »Uups«, sagte er.

Ich lachte. Das hatte ich am Anfang immer gesagt, schon beim allerersten Kuss.

»Später«, sagte ich, und vor lauter Vorfreude rollte sich mein Magen zu einer Kugel zusammen.

»Konzentration, Bella«, sagte Jasper drängend.

»Ach ja.« Ich versuchte das zittrige Gefühl nicht zu beachten. Charlie, jetzt kam es auf ihn an. Dass ihm nichts zustieß. Wir hatten ja noch die ganze Nacht …

»Bella.«

»Entschuldige, Jasper.«

Emmett lachte.

Das Geräusch von Charlies Streifenwagen kam immer näher. Der ungezwungene Moment war vorüber, alle verstummten. Ich schlug die Beine übereinander und übte zu blinzeln.

Der Wagen hielt vor dem Haus, aber der Motor lief noch eine Weile. Ich fragte mich, ob Charlie wohl genauso aufgeregt war wie ich. Dann erstarb der Motor und eine Tür schlug zu. Drei Schritte über den Rasen, dann acht dumpf hallende Schritte auf der Holztreppe. Noch vier Schritte auf der Veranda. Dann Stille. Charlie atmete zweimal tief durch.

Er klopfte.

Ich holte tief Luft, als wäre es das letzte Mal. Renesmee schmiegte sich tiefer in meine Arme und verbarg das Gesicht in meinem Haar.

Carlisle ging zur Tür. Sein Gesichtsausdruck wechselte von angespannt zu herzlich, wie ein Fernsehprogramm, das umgeschaltet wird.

»Hallo, Charlie«, sagte er und blickte verlegen drein, wie es sich gehörte. Schließlich hätten wir eigentlich in der Seuchenschutzbehörde in Atlanta sein müssen. Charlie wusste, dass wir ihn angelogen hatten.

»Carlisle«, sagte Charlie steif. »Wo ist Bella?«

»Hier bin ich, Dad.«

Bah! Meine Stimme war so daneben. Außerdem hatte ich den Sauerstoffvorrat fast aufgebraucht. Schnell sorgte ich für Nachschub und war froh, dass Charlies Geruch den Raum noch nicht durchtränkt hatte.

Charlies verständnislose Miene verriet mir, wie verkehrt meine Stimme war. Als sein Blick mich gefunden hatte, wurden seine Augen groß.

Ich sah die unterschiedlichen Gefühle in seinem Gesicht aufblitzen.

Entsetzen. Fassungslosigkeit. Kummer. Verlust. Angst. Argwohn. Und noch mehr Kummer.

Ich biss mir auf die Lippe. Wie komisch sich das anfühlte. Meine neuen Zähne waren an meiner Granithaut schärfer, als meine Menschenzähne an meinen weichen Lippen gewesen waren.

»Bella, bist du das?«, flüsterte er.

»Ja.« Ich zuckte zusammen, als ich meine Stimme hörte, klingend wie ein Windspiel. »Hallo, Dad.«

Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen.

»Hi, Charlie«, sagte Jacob aus seiner Ecke. »Wie geht’s?«

Charlie warf Jacob einen wütenden Blick zu, eine Erinnerung ließ ihn schaudern, dann starrte er mich wieder an.

Langsam kam er durchs Zimmer, bis er nur noch ein kleines Stück von mir entfernt war. Er schaute vorwurfsvoll zu Edward, dann wieder zu mir. Mit jedem Herzschlag strömte die Wärme seines Körpers zu mir.

»Bella?«, fragte er wieder.

Ich sprach jetzt leiser und versuchte es nicht so melodisch klingen zu lassen. »Ich bin’s wirklich.«

Er biss die Zähne zusammen.

»Es tut mir leid, Dad«, sagte ich.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

»Super, wirklich und wahrhaftig«, sagte ich. »Bin fit wie ein Turnschuh.«

Und damit war mein Sauerstoff aufgebraucht.

»Jake sagte mir, das sei … notwendig gewesen. Dass du sonst gestorben wärst.« Er sagte es, als glaubte er kein Wort.

Ich wappnete mich, konzentrierte mich auf Renesmees warmen Körper, lehnte mich haltsuchend an Edward und atmete tief ein.

Charlie zu riechen, das war so, als würde mir jemand eine brennende Fackel in die Kehle stoßen. Aber es war nicht nur der Schmerz. Es war gleichzeitig ein glühendes Verlangen. Charlie roch köstlicher, als ich es mir je hätte vorstellen können. Die unbekannten Wanderer auf unserer Jagd waren schon verlockend gewesen, aber Charlie war mindestens doppelt so appetitlich. Und er war nur ein kleines Stück von mir entfernt und erfüllte die trockene Luft mit köstlicher Wärme und Feuchtigkeit.

Aber ich war nicht auf der Jagd. Und das hier war mein Vater.

Edward drückte mir mitfühlend die Schultern, und Jacob warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

Ich versuchte mich zusammenzureißen und den schmerzhaften Durst zu ignorieren. Charlie wartete auf meine Antwort.

»Jacob hat dir die Wahrheit gesagt.«

»Immerhin einer«, knurrte Charlie.

Hoffentlich konnte Charlie trotz all der Veränderungen in meinem Gesicht sehen, wie leid es mir tat.

Renesmee, die das Gesicht unter meinen Haaren verborgen hatte, schnupperte, auch sie bemerkte Charlies Duft. Ich hielt sie noch fester.

Charlie sah, dass ich besorgt nach unten schaute, und folgte meinem Blick. »Oh«, sagte er und jetzt wirkte er nicht mehr wütend, nur noch erschrocken. »Das ist sie also. Das Waisenkind, das ihr adoptieren wollt.«

»Meine Nichte.« Die Lüge ging Edward glatt über die Lippen. Er dachte sich wohl, dass die Ähnlichkeit zwischen ihm und Renesmee zu groß war, um darüber hinwegzugehen. Lieber gleich zugeben, dass er mit ihr verwandt war.

»Ich dachte, du hättest deine Familie verloren«, sagte Charlie, und seine Stimme klang jetzt wieder vorwurfsvoll.

»Ich habe meine Eltern verloren. Mein älterer Bruder wurde adoptiert, genau wie ich. Ich hab ihn danach nie wieder gesehen. Doch die Gerichte machten mich ausfindig, als er und seine Frau bei einem Autounfall ums Leben kamen und ihr einziges Kind ohne weitere Verwandte zurückblieb.«

Edward konnte das wirklich gut. Er erzählte es ganz ruhig, in genau dem richtigen unschuldigen Ton. Ich würde einige Übung brauchen, bis ich das konnte.

Renesmee lugte unter meinen Haaren hervor und schnupperte wieder. Schüchtern schaute sie Charlie durch ihre langen Wimpern an, dann versteckte sie wieder das Gesicht.

»Sie ist … sie ist … also, sie ist wunderschön.«

»Das ist sie«, sagte Edward.

»Aber das ist ja eine ziemlich große Verantwortung. Ihr steht ja noch ganz am Anfang.«

»Was blieb uns anderes übrig?« Edward strich ihr mit den Fingern sanft über die Wange. Ich sah, wie er ganz kurz ihre Lippen berührte – eine sanfte Mahnung. »Hättest du sie zurückgewiesen?«

»Hmpf. Tja.« Er schüttelte abwesend den Kopf. »Jake sagt, ihr nennt sie Nessie?«

»Nein«, sagte ich, und meine Stimme war etwas zu scharf und stechend. »Sie heißt Renesmee.«

Jetzt wandte Charlie seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Wie denkst du denn darüber? Vielleicht könnten Carlisle und Esme …«

»Sie gehört zu mir«, unterbrach ich ihn. »Ich will sie haben.«

Charlie runzelte die Stirn. »Willst du mich jetzt schon zum Großvater machen?«

Edward lächelte. »Carlisle ist jetzt auch Großvater.«

Charlie schaute ungläubig zu Carlisle, der immer noch an der Haustür stand und aussah wie Zeus’ jüngerer, schönerer Bruder.

Charlie schnaubte, dann lachte er. »Das ist irgendwie ein Trost.« Sein Blick schweifte wieder zu Renesmee. »Sie ist wirklich ein niedliches Ding.« Sein warmer Atem wehte leicht zu mir herüber.

Renesmee beugte sich zu dem Geruch, schüttelte meine Haare ab und schaute ihn zum ersten Mal direkt an. Charlie schnappte nach Luft.

Ich wusste, was er sah. Meine Augen – seine Augen –, die originalgetreu in ihr Gesicht hineinkopiert waren.

Charlie begann zu hyperventilieren. Seine Lippen zitterten und ich las die Zahlen, die sie formten. Er rechnete zurück, versuchte neun Monate in einen zu packen. Er versuchte es zu verstehen, wurde jedoch aus dem Beweis, den er vor der Nase hatte, nicht schlau.

Jacob stand auf und klopfte Charlie auf den Rücken. Er beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr; Charlie wusste als Einziger nicht, dass wir alle es hören konnten.

»Denk dran: nur das, was du unbedingt wissen musst, Charlie. Es ist in Ordnung, du kannst mir glauben.«

Charlie schluckte, dann nickte er. Seine Augen blitzten, als er mit geballten Fäusten einen Schritt auf Edward zuging.

»Ich will gar nicht alles wissen, aber erzählt mir keine Lügen mehr!«

»Es tut mir leid«, sagte Edward ruhig, »aber es ist wichtiger, dass du die offizielle Version kennst, als dass du die Wahrheit erfährst. Wenn du Teil dieses Geheimnisses bist, ist die offizielle Version das Entscheidende. Sie dient dazu, Bella, Renesmee und auch uns Übrige zu schützen. Kannst du die Lügen um ihretwillen mittragen?«

Lauter Statuen befanden sich im Raum. Ich schlug die Füße übereinander.

Charlie schnaubte, dann schaute er mich wütend an. »Du hättest mich vorwarnen können.«

»Wäre es denn dann leichter gewesen?«

Er runzelte die Stirn, dann kniete er sich vor mir auf den Boden. Ich sah, wie das Blut durch seinen Hals strömte. Ich spürte das warme Pulsieren unter seiner Haut.

Renesmee spürte es auch. Sie lächelte und streckte eine rosa Hand nach ihm aus. Ich hielt sie zurück. Sie legte die andere Hand an meinen Hals, in ihren Gedanken sah ich Durst, Neugier und Charlies Gesicht. Sie schien Edwards Worte genau verstanden zu haben; sie zeigte ihren Durst, widerstand ihm aber gleichzeitig.

»Wow«, sagte Charlie verblüfft, als er ihr vollständiges Gebiss sah. »Wie alt ist sie?«

»Hm …«

»Drei Monate«, sagte Edward, und dann fügte er langsam hinzu: »Oder besser gesagt, sie hat die Größe eines drei Monate alten Babys, mehr oder weniger. In mancher Hinsicht ist sie jünger, in anderer weiter.«

Renesmee winkte ihm zu.

Charlie blinzelte krampfhaft.

Jacob stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie ungewöhnlich ist, oder?«

Charlie schrak vor der Berührung zurück.

»Ach, komm schon, Charlie«, stöhnte Jacob. »Ich bin immer noch derselbe wie vorher. Tu einfach so, als hätte es diesen Nachmittag gar nicht gegeben.«

Bei der Erinnerung daran wurden Charlies Lippen weiß, aber er nickte kurz. »Aber was ist deine Rolle in dem ganzen Spiel, Jake?«, fragte er. »Wie viel weiß Billy? Und warum bist du hier?« Er sah in Jacobs glühendes Gesicht, während der Renesmee anschaute.

»Tja, das könnte ich dir ganz genau erklären – Billy kennt alle Einzelheiten –, aber es handelt ziemlich viel von Werw…«

»Bäh!«, protestierte Charlie und hielt sich die Ohren zu. »Schon gut.«

Jacob grinste. »Es wird alles super, Charlie. Versuch einfach, nichts von dem zu glauben, was du siehst.«

Mein Vater murmelte irgendetwas Unverständliches.

»Jaa!«, dröhnte Emmett plötzlich mit seiner Bassstimme. »Los, Gators!«

Jacob und Charlie fuhren hoch. Wir anderen erstarrten.

Charlie fasste sich wieder, dann schaute er Emmett über die Schulter. »Gewinnt Florida?«

»Sie haben gerade den ersten Touchdown erzielt«, bestätigte Emmett. Er feuerte einen Blick in meine Richtung ab und wackelte mit den Augenbrauen wie der Schurke auf der Bühne. »Wird langsam Zeit, dass hier auch mal jemand einen reinkriegt.«

Ich unterdrückte ein Zischen. Vor Charlie? Das ging zu weit.

Aber Charlie war nicht in der Verfassung, Anspielungen zu bemerken. Er atmete tief durch, er saugte die Luft ein, als sollte sie bis in die Zehen gehen. Ich beneidete ihn. Schwankend richtete er sich auf, ging um Jacob herum und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Tja«, sagte er seufzend. »Dann wollen wir mal sehen, ob sie den Vorsprung halten können.«