Reisepläne
Seit ich Vampir geworden war, nahm ich die Mythologie sehr viel ernster.
Wenn ich an meine ersten drei Monate als Unsterbliche zurückdachte, stellte ich mir oft vor, wie der Faden meines Lebens im Webstuhl des Schicksals aussehen mochte – wer wollte schon bestreiten, dass es ihn wirklich gab? Ich war mir sicher, dass mein Faden die Farbe gewechselt hatte; anfangs war er wahrscheinlich von einem braven Beige gewesen, irgendeine Farbe, die sich mit keiner anderen beißt und sich gut im Hintergrund macht. Jetzt war der Faden bestimmt von leuchtendem Karmesinrot, vielleicht auch von glitzerndem Gold.
Der Teppich aus Familie und Freunden um mich herum war so wunderbar und leuchtend, angefüllt mit ihren fröhlichen, einander ergänzenden Farben.
Über einige Fäden, die sich in mein Leben fügten, wunderte ich mich. Die Werwölfe mit ihren satten, holzigen Farben hatte ich eigentlich nicht erwartet; Jacob natürlich schon und Seth auch. Doch auch meine alten Freunde Quil und Embry fügten sich in den Stoff ein, als sie sich Jacobs Rudel anschlossen, und selbst Sam und Emily waren freundlich. Die Spannungen zwischen unseren Familien legten sich, vor allem dank Renesmee. Man musste sie einfach lieb haben.
Auch Sue und Leah Clearwater waren mit unserem Leben verflochten – noch zwei, mit denen ich nicht gerechnet hatte.
Sue schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, Charlie den Übergang in die Welt der Sagen und Legenden zu erleichtern. Meistens begleitete sie ihn, wenn er zu uns kam, obwohl sie sich nie so wohl zu fühlen schien wie ihr Sohn und die meisten anderen aus Jakes Rudel. Sie sagte nicht viel, sie stand nur beschützend neben Charlie. Sie war immer die Erste, die er anschaute, wenn Renesmee etwas machte, was noch überhaupt nicht ihrem Alter entsprach – und das kam häufig vor. Sue warf Seth dann immer einen vielsagenden Blick zu, als wollte sie sagen: Na, das kennen wir doch!
Leah fühlte sich noch unwohler als Sue, sie war die Einzige aus unserer erweiterten Familie, der die Vereinigung überhaupt nicht passte. Doch sie und Jacob standen sich jetzt so nahe, dass wir alle mit ihr verbunden waren. Ich hatte ihn einmal danach gefragt – zögernd, ich wollte nicht bohren, doch die Beziehung der beiden hatte sich so sehr verändert, dass ich neugierig war. Er hatte die Achseln gezuckt und gesagt, es sei eine Wolfsangelegenheit. Sie war jetzt die Nummer zwei in seinem Rudel, direkt hinter dem Alphatier.
»Ich hab mir gedacht, solange ich den Job als Leitwolf mache«, hatte Jacob erklärt, »stelle ich lieber klare Regeln auf.«
Die neue Verantwortung führte dazu, dass Leah sich häufig mit ihm in Verbindung setzte, und da er immer bei Renesmee war …
Leah war nicht glücklich in unserer Nähe, aber sie war eine Ausnahme. Glück war jetzt der Hauptbestandteil meines Lebens, das vorherrschende Muster im Teppich. So sehr, dass meine Beziehung zu Jasper auf einmal enger war, als ich es mir je hätte träumen lassen.
Doch am Anfang war ich richtig genervt.
»Mann!«, sagte ich eines Abends zu Edward, nachdem wir Renesmee in ihr schmiedeeisernes Bettchen gelegt hatten. »Wenn ich Charlie und Sue bis jetzt noch nicht umgebracht habe, werde ich es auch höchstwahrscheinlich nicht mehr tun. Kann Jasper nicht mal damit aufhören, mich immer zu bewachen?«
»Niemand zweifelt an dir, Bella, nicht im mindesten«, versicherte er mir. »Du weißt doch, wie Jasper ist – einem guten emotionalen Klima kann er nicht widerstehen. Du bist fortwährend so glücklich, Liebste, dass er sich unwillkürlich zu dir hingezogen fühlt.«
Und dann nahm Edward mich fest in die Arme, denn nichts freute ihn mehr als meine rauschhafte Begeisterung über mein neues Leben.
Die meiste Zeit war ich wirklich euphorisch. Die Tage reichten mir nicht aus, um meine Tochter lange genug zu bewundern; die Nächte hatten nicht genug Stunden, um mein Verlangen nach Edward zu stillen.
Doch das Glück hatte auch seine Kehrseite. Wenn man den Stoff, aus dem unser Leben gewebt war, umdrehte, dann würde sich die Rückseite wohl in trostlosem Grau aus Zweifel und Angst zeigen.
Renesmee sprach ihr erstes Wort, als sie genau eine Woche alt war. Das Wort war Momma, was mich überglücklich gemacht hätte, wäre ich über ihre Fortschritte nicht so erschrocken gewesen. Meine Miene erstarrte und ich konnte mich kaum dazu durchringen, sie anzulächeln. Dass sie dann im selben Atemzug ihren ersten kompletten Satz sagte, machte es nicht gerade besser. »Momma, wo ist Opa?«, fragte sie mit klarer, heller Sopranstimme, und sie sagte es nur deshalb laut, weil ich mich am anderen Ende des Zimmers befand. Sie hatte dieselbe Frage bereits Rosalie gestellt, auf ihre übliche (oder, wenn man es mit normalen Maßstäben betrachtete, eigentlich ganz unübliche) Art. Rosalie wusste es nicht, deshalb wandte Renesmee sich an mich.
Als sie ihre ersten Schritte machte, weniger als drei Wochen später, war es ähnlich. Sie sah Alice nur einen Augenblick lang an und schaute aufmerksam zu, wie ihre Tante Blumensträuße in den verschiedenen Vasen verteilte, mit den Armen voller Blumen tanzte sie im Zimmer hin und her. Renesmee stand auf, kein bisschen wacklig, und lief beinahe ebenso anmutig durchs Zimmer.
Jacob brach in heftigen Applaus aus, denn das war natürlich die Reaktion, die Renesmee haben wollte. Er war so innig mit ihr verbunden, dass seine eigenen Gefühle zweitrangig waren; als Erstes wollte er Renesmee immer das geben, was sie brauchte. Doch als unsere Blicke sich trafen, sah ich ein Abbild meiner eigenen Panik. Auch ich zwang mich zu klatschen und versuchte ihr meine Angst nicht zu zeigen. Edward applaudierte still neben mir, und auch ohne es auszusprechen, wussten wir, dass wir dasselbe dachten.
Edward und Carlisle recherchierten mit Feuereifer, sie suchten nach Antworten, auf alles gefasst. Es gab sehr wenig Informationen, und nichts war richtig nachprüfbar.
Alice und Rosalie begannen den Tag für gewöhnlich mit einer Modenschau. Renesmee trug nie zweimal dasselbe, teils weil sie aus ihren Kleidern fast sofort herauswuchs, teils weil Alice und Rosalie versuchten ein Babyalbum zusammenzustellen, das eher Jahre als Wochen zu umspannen schien. Sie machten Tausende von Fotos und dokumentierten jede Phase von Renesmees beschleunigter Kindheit.
Im Alter von drei Monaten hätte Renesmee als großes einjähriges oder als kleines zweijähriges Kind durchgehen können. Ihr Körper war allerdings nicht der eines Kleinkindes, sie war schlanker und zierlicher, ihre Proportionen waren gleichmäßiger, wie die eines Erwachsenen. Die bronzefarbenen Ringellocken gingen ihr bis zur Taille; ich brachte es nicht über mich, sie zu schneiden, selbst wenn Alice es erlaubt hätte. Renesmee sprach fehlerfrei, sowohl in der Grammatik als auch in der Aussprache, doch sie machte sich kaum je die Mühe zu sprechen; sie zeigte uns lieber, was sie wollte. Sie konnte nicht nur gehen, sondern auch rennen und tanzen. Sogar lesen konnte sie schon.
Eines Abends hatte ich ihr Tennyson vorgelesen, weil Klang und Rhythmus seiner Gedichte etwas Beruhigendes hatten. (Ich musste andauernd etwas Neues suchen; Renesmee bekam nicht gern dasselbe zweimal vorgelesen, wie es bei anderen Kindern angeblich der Fall war, und für Bilderbücher fehlte ihr die Geduld.) Sie fasste mir an die Wange, das Bild in ihrem Kopf zeigte uns beide, nur dass sie das Buch hielt. Lächelnd gab ich es ihr.
»Hier ist Musik«, las sie, ohne zu stocken, »die lieblich ist und weicher fällt als windverwehte Rosenblätter auf das Gras oder als Tau der Nacht auf stilles Wasser, das sich hält in Schatten zwischen Granitwänden auf schimmerndem Pass …«
Mit eckigen Bewegungen nahm ich ihr das Buch wieder ab.
»Wenn du liest, wie willst du dann einschlafen?«, sagte ich und konnte nur mit Mühe ein Zittern in der Stimme unterdrücken.
Nach Carlisles Berechnungen verlangsamte sich ihr Körperwachstum allmählich, doch ihr Verstand spurtete weiter. Selbst mit diesem verlangsamten Wachstum war sie in weniger als vier Jahren erwachsen.
Vier Jahre. Und in fünfzehn Jahren war sie eine alte Frau.
Nur fünfzehn Jahre leben.
Doch sie war kerngesund. Lebendig, aufgeweckt, strahlend und fröhlich. Es ging ihr so gut, dass es mir leichtfiel, nur den Augenblick mit ihr zu genießen und die Gedanken an die Zukunft zu verdrängen.
Carlisle und Edward besprachen die Zukunftsperspektiven leise aus allen möglichen Blickwinkeln, und ich versuchte nicht hinzuhören. Nur wenn Jacob dabei war, redeten sie nicht darüber, denn es gab ja eine sichere Möglichkeit, das Älterwerden zu stoppen, aber davon wäre Jacob ganz bestimmt nicht begeistert. Ich auch nicht. Viel zu gefährlich!, schrien meine Instinkte. Jacob und Renesmee schienen sich in so vielerlei Hinsicht ähnlich zu sein, beide Halbwesen, beide von zweierlei Art. Und alle Werwolflegenden behaupteten, Vampirgift sei der sichere Tod, nicht der Weg zur Unsterblichkeit …
Carlisle und Edward hatten alles erforscht, was es aus der Ferne zu erforschen gab, und stellten sich jetzt darauf ein, die alten Legenden am Ort ihres Entstehens zu untersuchen. Unser Ausgangspunkt sollte Brasilien sein. Die Ticunas hatten Legenden über Kinder wie Renesmee … Wenn es je andere Wesen wie sie gegeben hatte, dann fanden wir dort vielleicht auch etwas über die Lebensdauer halbsterblicher Kinder …
Die einzige Frage war, wann wir aufbrechen sollten.
Ich war der Hemmschuh. Zu einem kleinen Teil deshalb, weil ich wegen Charlie bis nach den Ferien in der Nähe von Forks bleiben wollte. Aber vor allem war da eine andere Reise, die vorher stattfinden musste – so lagen die Prioritäten nun einmal. Und es war eine Reise, auf die ich allein gehen musste.
Das war der einzige Streit, den Edward und ich gehabt hatten, seit ich ein Vampir war. Die Auseinandersetzung drehte sich hauptsächlich um das »allein«. Aber es war, wie es war, und mein Plan war der einzig vernünftige. Ich musste zu den Volturi, und ich musste ganz allein dorthin.
Obwohl ich von den alten Albträumen befreit war, von Träumen überhaupt, war es unmöglich, die Volturi zu vergessen. Und sie versäumten es auch nicht, unserem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
Bis zu dem Tag, an dem Aros Geschenk kam, hatte ich nicht gewusst, dass Alice den Volturi eine Heiratsanzeige geschickt hatte. Wir waren weit weg auf Esmes Insel, als sie plötzlich eine Vision von Volturi-Kriegern hatte, darunter Jane und Alec, die zerstörerischen, furchtbaren Zwillinge. Caius hatte vor, eine Jagdgesellschaft auszusenden, um zu sehen, ob ich entgegen ihrem Erlass immer noch ein Mensch war (da ich über die geheime Welt der Vampire Bescheid wusste, musste ich mich ihr entweder anschließen oder zum Schweigen gebracht werden … für immer). Deshalb hatte Alice ihnen die Heiratsanzeige geschickt, denn sie sah, dass sie ihr Vorhaben verschieben würden, wenn sie die richtigen Schlüsse zogen. Aber letztlich würden sie kommen. Das stand außer Zweifel.
Das Geschenk selbst war auf den ersten Blick nicht bedrohlich. Extravagant, ja, und in seiner Extravaganz beinahe erschreckend. Die Drohung lag in dem Abschiedsgruß von Aros Glückwunschkarte; mit schwarzer Tinte hatte er auf ein schweres, quadratisches weißes Stück Papier eigenhändig geschrieben:
Ich kann es kaum erwarten, die neue Mrs Cullen persönlich zu sehen.
Das Geschenk lag in einer mit Schnitzereien verzierten antiken Holzschachtel mit Inkrustationen aus Gold und Perlmutt, verziert mit einem Regenbogen von Edelsteinen. Alice sagte, die Schachtel an sich sei schon von unschätzbarem Wert und würde so ziemlich jedes Schmuckstück in den Schatten stellen bis auf das, was darin lag.
»Ich habe mich schon immer gefragt, wohin die Kronjuwelen verschwunden sind, nachdem Johann Ohneland sie im dreizehnten Jahrhundert verpfändete«, sagte Carlisle. »Nun, es überrascht mich nicht, dass sich die Volturi einen Anteil gesichert haben.«
Die Kette war schlicht – ein dickes Seil aus Gold, beinahe geschuppt, wie eine glatte Schlange, die sich eng um die Kehle schmiegte. Ein einziger Edelstein hing an dem Seil: ein weißer Diamant, so groß wie ein Golfball.
Der Wink mit dem Zaunpfahl in Aros Schreiben interessierte mich mehr als der Schmuck. Die Volturi wollten sehen, dass ich unsterblich war, dass die Cullens den Befehl der Volturi befolgt hatten, und sie wollten es bald sehen. Ich konnte es nicht zulassen, dass sie nach Forks kamen. Es gab nur eine Möglichkeit, unser Leben hier zu schützen.
»Du fliegst nicht allein«, hatte Edward mit zusammengebissenen Zähnen gesagt, die Hände zu Fäusten geballt.
»Sie werden mir nichts tun«, sagte ich so beruhigend, wie ich konnte, und gab mir alle Mühe, meine Stimme überzeugt klingen zu lassen. »Dazu haben sie keinen Grund. Ich bin ein Vampir und fertig.«
»Nein. Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Edward, nur so können wir Renesmee schützen.«
Und dem konnte er nicht widersprechen. Meine Logik war zwingend.
In der kurzen Zeit, in der ich Aro erlebt hatte, war mir klargeworden, dass er ein Sammler war – und seine kostbarsten Schätze waren die lebenden Stücke. Schönheit, Talent und Vortrefflichkeit seiner unsterblichen Anhänger begehrte er mehr als alle Juwelen in den Schatzkammern. Es war schon verhängnisvoll genug, dass er begonnen hatte, Alice’ und Edwards Gaben zu begehren. Ich würde ihm keinen zusätzlichen Grund liefern, die Familie Cullen zu beneiden. Renesmee war schön, talentiert und außergewöhnlich – sie war einzigartig. Er durfte sie nicht zu sehen bekommen, nicht einmal in den Gedanken eines anderen.
Und ich war die Einzige, deren Gedanken er nicht hören konnte. Natürlich musste ich allein fliegen.
Alice hatte keine Probleme mit meiner Reise, aber sie machte sich Sorgen, weil ihre Visionen verschwommen waren. Sie sagte, manchmal sei das der Fall, wenn Entscheidungen von außen hineinspielen könnten, die noch nicht endgültig getroffen waren. Diese Ungewissheit nahm Edward, der sowieso schon unschlüssig war, stark gegen mein Vorhaben ein. Er wollte mich bis zu meinem Anschlussflug in London begleiten, doch ich wollte Renesmee auf keinen Fall ohne einen ihrer Eltern zurücklassen. Stattdessen sollte Carlisle mitkommen. Sowohl Edward als auch mich selbst beruhigte der Gedanke ein wenig, dass Carlisle nur wenige Stunden von mir entfernt sein würde.
Alice fahndete weiter nach der Zukunft, aber was sie fand, hatte nichts mit dem zu tun, wonach sie suchte. Ein neuer Trend auf dem Börsenmarkt; ein möglicher Versöhnungsbesuch von Irina, allerdings stand ihr Entschluss noch nicht fest; ein Schneesturm, der aber frühestens in sechs Wochen kommen würde; ein Anruf von Renée (ich übte meine »raue« Stimme und wurde von Tag zu Tag besser – für Renée war ich immer noch krank, aber auf dem Wege der Besserung).
Einen Tag nachdem Renesmee drei Monate alt wurde, kauften wir die Flugtickets. Es sollte nur eine kurze Reise werden, deshalb hatte ich Charlie gar nichts davon erzählt. Jacob wusste Bescheid und er sah die Sache genauso wie Edward. Heute jedoch ging der Streit um Brasilien. Jacob war wild entschlossen, uns zu begleiten.
Wir drei, Jacob, Renesmee und ich, waren zusammen auf der Jagd. Die Ernährung mit Tierblut gefiel Renesmee nicht besonders – deshalb durfte Jacob mitkommen. Jacob hatte einen Wettkampf daraus gemacht, und das war für sie ein größerer Anreiz als alles andere.
Renesmee war ganz unserer Meinung, dass man keine Jagd auf Menschen machen sollte, aber sie meinte, Spenderblut sei ein guter Kompromiss. Menschliches Essen sättigte sie und sie schien es gut zu vertragen, aber sie ließ jede Art von fester Nahrung nur märtyrerhaft über sich ergehen wie ich einst Blumenkohl und dicke Bohnen. Da war ihr sogar Tierblut noch lieber. Wettkämpfe machte sie für ihr Leben gern und mit der Aussicht, Jacob zu schlagen, war sie ganz wild auf die Jagd.
»Jacob«, sagte ich und versuchte ihm noch einmal ins Gewissen zu reden, während Renesmee auf der schmalen Lichtung vor uns herhüpfte und nach einem Geruch suchte, den sie mochte. »Du hast deine Verpflichtungen hier. Seth, Leah …«
Er schnaubte. »Ich bin nicht der Babysitter für mein Rudel. Und sie haben alle ihre Aufgaben in La Push.«
»So wie du zum Beispiel? Fliegst du jetzt offiziell von der Schule? Wenn du mit Renesmee mithalten willst, musst du mal ein bisschen fleißiger lernen.«
»Ich setze nur ein Schuljahr aus. Wenn alles … wieder in der Reihe ist, mache ich mit der Schule weiter.«
Als er das sagte, konnte ich mich nicht mehr auf den Streit konzentrieren und wir schauten beide automatisch zu Renesmee. Sie blickte hoch zu den Schneeflocken, die über ihr schwebten und die schmolzen, noch ehe sie auf dem vergilbten Gras der länglichen pfeilspitzenförmigen Wiese landen konnten, auf der wir standen. Renesmees elfenbeinfarbenes Rüschenkleid war genau eine Schattierung dunkler als der Schnee, und ihre rotbraunen Locken schimmerten, obwohl die Sonne hinter den Wolken versteckt war.
Renesmee ging kurz in die Hocke, dann sprang sie fünf Meter hoch in die Luft. Ihre kleinen Hände umschlossen eine Schneeflocke, dann landete sie leichtfüßig wieder auf dem Boden.
Sie drehte sich zu uns um mit ihrem bezaubernden Lächeln – wirklich, man konnte sich einfach nicht daran gewöhnen – und öffnete die Hände, um uns den vollkommenen sternförmigen Schneekristall zu zeigen, ehe er schmolz.
»Hübsch«, rief Jacob. »Aber ich glaube, du willst ablenken, Nessie.«
Sie rannte auf Jacob zu, er breitete die Arme aus, und genau in dem Moment sprang sie hinein. Sie hatten die Bewegung perfekt aufeinander abgestimmt. So machte sie das immer, wenn sie etwas sagen wollte. Sie sprach immer noch nicht gern laut.
Renesmee berührte Jacobs Gesicht und setzte eine herrlich finstere Miene auf, während wir alle den Geräuschen einer kleinen Wapitiherde lauschten, die tiefer in den Wald vordrang.
»Ich weiß, du hast gaaar keinen Durst, Nessie«, sagte Jacob mit leisem Sarkasmus, doch die Nachsicht überwog. »Du hast ja bloß Angst, dass ich wieder den größten fange!«
Sie sprang rückwärts aus Jacobs Armen, landete behände auf den Füßen und verdrehte die Augen – wenn sie das tat, sah sie Edward so ähnlich. Dann flitzte sie in den Wald.
»Ich mach schon«, sagte Jacob, als ich mich vorbeugte, um ihr hinterherzulaufen. Er riss sich das T-Shirt vom Leib, und als er ihr nachjagte, zitterte er schon. »Schummeln gilt nicht!«, rief er Renesmee hinterher.
Ich lächelte kopfschüttelnd, als ich sah, wie die Blätter hinter ihnen flatterten. Manchmal war Jacob mehr Kind als Renesmee.
Ich wartete, ließ den beiden Jägern einen kleinen Vorsprung. Es würde eine Kleinigkeit sein, sie aufzuspüren, und Renesmee würde sich freuen, wenn sie mich mit einer fetten Beute überraschen konnte. Wieder lächelte ich.
Die schmale Wiese war sehr still und sehr einsam. Der rieselnde Schnee über mir hatte nachgelassen, beinahe aufgehört. Alice hatte gesehen, dass er noch lange nicht liegen bleiben würde.
Normalerweise gingen Edward und ich immer gemeinsam auf die Jagd. Aber heute war Edward bei Carlisle geblieben, sie planten die Reise nach Rio, redeten hinter Jacobs Rücken … Ich runzelte die Stirn. Wenn ich wieder nach Hause kam, würde ich für Jacob Partei ergreifen. Er musste uns begleiten. Für ihn stand genauso viel auf dem Spiel wie für uns – sein ganzes Leben stand auf dem Spiel, genau wie meins.
Während ich mit den Gedanken in der nahen Zukunft weilte, glitt mein Blick routinemäßig über die Berge, ich hielt nach Beute Ausschau und nach Gefahr. Ich dachte nicht darüber nach, es war ein instinktives Bedürfnis.
Oder vielleicht gab es diesmal doch einen Grund, einen winzigen Auslöser, den meine messerscharfen Sinne wahrgenommen hatten, ehe er in mein Bewusstsein drang.
Als mein Blick über den Rand einer Klippe in der Ferne glitt, die sich in knalligem Graublau von dem grünschwarzen Wald abhob, erregte ein Silberschimmer – oder war es Gold? – meine Aufmerksamkeit.
Sofort konzentrierte sich mein Blick auf die Farbe, die dort nicht hingehörte, so weit weg im Dunst, dass selbst ein Adler sie nicht entdeckt hätte. Ich starrte.
Sie starrte zurück.
Es war eindeutig, dass sie ein Vampir war. Ihre Haut war marmorweiß und tausendmal glatter als die Haut eines Menschen. Selbst unter den Wolken glitzerte sie ein klein wenig. Hätte ihre Haut sie nicht verraten, hätte ich es an ihrer Reglosigkeit erkannt. Nur Vampire und Statuen konnten so bewegungslos verharren.
Ihre Haare waren von einem sehr, sehr hellen Blond, fast Silber. Das war der Glanz, der mir ins Auge gestochen hatte. Wie mit dem Lineal gezogen gingen sie ihr bis zum Kinn, in der Mitte streng gescheitelt.
Ich kannte sie nicht. Ich war mir ganz sicher, dass ich sie noch nie gesehen hatte, auch nicht als Mensch. Keines der Gesichter in meiner trüben Erinnerung stimmte mit diesem überein. Doch ich erkannte sie sofort an ihren dunkelgoldenen Augen.
Irina hatte sich nun doch entschlossen zu kommen.
Einen Augenblick lang starrte ich sie an und sie starrte zurück. Ich fragte mich, ob auch sie sofort begriffen hatte, wer ich war. Ich hob die Hand halb, um zu winken, doch da verzog sie ganz leicht die Lippen, auf einmal sah sie feindselig aus.
Ich hörte Renesmees Siegesschrei aus dem Wald, hörte Jacobs johlendes Echo und sah, wie Irina den Kopf ruckartig zu dem Geräusch bewegte, als das Echo wenige Sekunden später bei ihr ankam. Sie wandte den Blick leicht nach rechts, und ich wusste, was sie sah. Einen gigantischen rostbraunen Werwolf, vielleicht den, der ihren Laurent getötet hatte. Wie lange beobachtete sie uns schon? Lange genug, um unser freundschaftliches Miteinander zu sehen, da war ich mir sicher.
Ihr Gesicht zuckte vor Schmerz.
Instinktiv hob ich die Hände zu einer Geste der Entschuldigung. Sie wandte sich wieder zu mir und zog die Oberlippe über die Zähne. Sie knurrte mit geöffnetem Mund.
Als das leise Geräusch zu mir drang, hatte sie sich schon umgedreht und war in den Wald verschwunden.
»Mist!«, stöhnte ich.
Ich raste in den Wald zu Renesmee und Jacob, ich wollte sie in Sichtweite haben. Ich wusste nicht, in welche Richtung Irina verschwunden war, und ich wusste auch nicht genau, wie wütend sie war. Vampire waren in der Regel rachsüchtig, und das war nicht leicht zu unterdrücken.
Ich rannte so schnell ich konnte und war in zwei Sekunden bei ihnen.
»Meiner ist größer«, hörte ich Renesmee rufen, als ich durch die dichten Dornensträucher auf die kleine Lichtung stürmte, wo sie standen.
Als Jacob mein Gesicht sah, legte er die Ohren an; er duckte sich und bleckte die Zähne – seine Schnauze war noch blutig von der Jagd. Sein Blick durchkämmte den Wald. Ich hörte, wie ihm ein Knurren in der Kehle aufstieg.
Renesmee war ganz genauso wachsam wie Jacob. Sie warf den toten Hirsch zu Boden, sprang in meine Arme und legte neugierig die Hände an meine Wangen.
»Ich übertreibe bestimmt«, sagte ich schnell zu den beiden. »Es ist sicher in Ordnung. Wartet mal.«
Ich holte mein Handy heraus und drückte auf die Kurzwahltaste. Edward antwortete nach dem ersten Klingeln. Jacob und Renesmee hörten aufmerksam zu, als ich Edward alles erzählte.
»Komm her und bring Carlisle mit«, sagte ich mit meiner Glockenstimme, so schnell, dass ich nicht wusste, ob Jacob mitkam. »Ich hab Irina gesehen und sie mich auch, aber dann hat sie Jacob gesehen und ist wütend geworden und weggerannt – glaube ich. Sie ist nicht mehr aufgetaucht – jedenfalls noch nicht –, aber sie sah ziemlich aufgebracht aus, sie kommt bestimmt wieder. Wenn nicht, musst du mit Carlisle hinter ihr her und mit ihr reden. Ich komme mir so mies vor.«
Jacob grollte.
»In einer halben Minute sind wir da«, sagte Edward, und ich hörte den Wind zischen, als er losrannte.
Wir liefen zurück zu der schmalen Wiese und warteten schweigend; Jacob und ich lauschten, ob wir jemanden kommen hörten, den wir nicht kannten.
Doch als jemand kam, hörte es sich vertraut an. Und dann war Edward bei mir, Carlisle ein paar Sekunden später. Ich war überrascht, als ich hinter Carlisle das schwere Stapfen großer Pfoten hörte. Aber es war ja klar, dass Jacob, wenn Renesmee auch nur die kleinste Gefahr drohte, sofort Verstärkung rief.
»Sie war da oben auf der Klippe«, sagte ich und zeigte zu der Stelle. Falls Irina auf der Flucht war, hatte sie bereits einen ordentlichen Vorsprung. Würde sie stehen bleiben und Carlisle zuhören? So, wie sie vorhin ausgesehen hatte, bezweifelte ich es. »Vielleicht ist es besser, wenn du Emmett und Jasper anrufst, damit sie mitkommen. Sie schien … wirklich außer sich zu sein. Sie hat mich angeknurrt.«
»Was?«, sagte Edward wütend.
Carlisle legte ihm eine Hand auf den Arm. »Sie trauert noch immer. Ich werde ihr folgen.«
»Ich komme mit«, beharrte Edward.
Sie schauten sich lange an – vielleicht wog Carlisle Edwards Zorn gegen seine Fähigkeit ab, Gedanken zu lesen. Schließlich nickte er und sie machten sich auf die Suche nach Irinas Spur, ohne Jasper oder Emmett anzurufen.
Jacob schnaubte ungeduldig und stupste mir mit der Nase in den Rücken. Bestimmt wollte er Renesmee wieder nach Hause bringen, sicherheitshalber. Ich war einverstanden und wir liefen mit Seth und Leah an unserer Seite zurück.
Renesmee lag wohlig in meinen Armen, eine Hand hielt sie immer noch an mein Gesicht. Da die Jagd abgebrochen werden musste, würde sie mit Spenderblut über die Runden kommen müssen. Sie war ziemlich zufrieden.