Die erste Jagd
»Durchs Fenster?«, fragte ich und schaute zwei Stockwerke tief nach unten.
An sich hatte ich bisher keine Höhenangst gehabt, aber die Tatsache, dass ich alle Einzelheiten so deutlich sehen konnte, machte die Aussicht nicht ganz so verlockend. Die Kanten der Felsen unten waren schärfer, als ich gedacht hätte.
Edward lächelte. »Es ist der bequemste Weg hinaus. Wenn du Angst hast, kann ich dich tragen.«
»Wir haben alle Zeit der Welt und du machst dir Sorgen, weil es zu lange dauern könnte, zur Tür hinauszugehen?«
Er runzelte leicht die Stirn. »Renesmee und Jacob sind unten …«
»Oh.«
Ach ja. Ich war ja jetzt das Monster. Ich musste mich von Gerüchen fernhalten, die mich in eine wilde Bestie verwandeln könnten. Vor allem von den Menschen, die ich liebte. Selbst von denen, die ich noch gar nicht richtig kannte.
»Ist Renesmee … in Sicherheit … wenn Jacob da ist?«, flüsterte ich. Erst jetzt wurde mir klar, dass es Jacobs Herz gewesen sein musste, das ich gehört hatte. Wieder lauschte ich angestrengt, aber ich konnte nur den einen regelmäßigen Pulsschlag hören. »Er kann sie ja nicht besonders gut leiden.«
Edwards Lippen wurden merkwürdig dünn. »Vertraue mir, es kann ihr überhaupt nichts passieren. Ich weiß genau, was Jacob denkt.«
»Natürlich«, murmelte ich und sah wieder nach unten.
»Ist das eine Verzögerungstaktik?«, fragte er herausfordernd.
»Ein bisschen. Ich weiß nicht, wie …«
Und ich war mir sehr wohl bewusst, dass meine Familie hinter mir stand und stumm zuschaute. Fast stumm. Emmett hatte schon einmal leise gekichert. Ein Fehler von mir und er würde sich auf dem Boden kugeln. Dann konnte ich mich auf lauter Witze über den einzigen tollpatschigen Vampir der Welt gefasst machen …
Außerdem hätte ich mir dieses Kleid – in das Alice mich gesteckt haben musste, als ich so sehr brannte, dass ich nichts anderes merkte – weder zum Springen noch für die Jagd ausgesucht. Ein eng anliegendes eisblaues Seidenkleid? Was dachte sie, wozu ich das gebrauchen konnte? Gab es nachher noch eine Cocktailparty?
»Schau mir zu«, sagte Edward. Und dann trat er sehr lässig aus dem hohen Fenster und ließ sich fallen.
Ich sah genau zu, analysierte den Winkel, in dem er die Knie gebeugt hatte, um den Aufprall abzufangen. Es klang ganz leise, als er landete – ein dumpfes Geräusch wie eine Tür, die sanft zugezogen wird, oder ein Buch, das jemand auf einen Tisch legt.
Es sah nicht schwer aus.
Ich biss konzentriert die Zähne zusammen und versuchte seinen lässigen Schritt in die Luft nachzumachen.
Ha! Der Boden schien mir so langsam entgegenzukommen, dass es ein Kinderspiel war, mit den Füßen – was für Schuhe hatte Alice mir angezogen? Stilettos? Sie hatte den Verstand verloren – oder besser mit den albernen Schuhen genau richtig aufzukommen, so dass die Landung nicht schwieriger war, als auf einer geraden Fläche einen Schritt vorwärtszugehen.
Ich fing den Aufprall mit den Fußballen ab, weil ich die dünnen Absätze nicht abbrechen wollte. Meine Landung war genauso leise wie seine. Ich grinste ihn an.
»Stimmt. Total einfach.«
Er erwiderte mein Lächeln. »Bella?«
»Ja?«
»Das war ziemlich anmutig – sogar für einen Vampir.«
Darüber dachte ich einen Moment nach, dann strahlte ich. Hätte er das nur so gesagt, dann hätte Emmett gelacht. Aber niemand fand seine Bemerkung witzig, also musste es stimmen. Es war das erste Mal, das mich jemand anmutig genannt hatte, in meinem ganzen Leben … oder, na ja, jedenfalls in meiner ganzen Existenz.
»Danke«, sagte ich.
Dann schlüpfte ich erst aus dem einen, dann aus dem anderen silbernen Satinschuh und warf sie in hohem Bogen durch das offene Fenster. Vielleicht ein wenig zu fest, doch ich hörte, wie jemand sie auffing, bevor sie die Vertäfelung beschädigen konnten.
Alice grummelte: »Im Gegensatz zu ihrem Gleichgewichtssinn hat sich ihr Geschmack kein bisschen verbessert.«
Edward nahm meine Hand – ich konnte nicht aufhören, die Glätte, die angenehme Temperatur seiner Haut zu bewundern – und sauste durch den Garten zum Ufer des Flusses. Mühelos lief ich mit ihm mit.
Alles Körperliche kam mir so leicht vor.
»Sollen wir schwimmen?«, fragte ich, als wir am Wasser stehen blieben.
»Und dein schönes Kleid ruinieren? Nein. Wir springen.«
Ich schob die Lippen vor und versuchte abzuschätzen, wie breit der Fluss an dieser Stelle wohl war. Etwa fünfzig Meter, dachte ich.
»Du zuerst«, sagte ich.
Er berührte meine Wange, trat zwei schnelle Schritte zurück, dann nahm er Anlauf und sprang von einem flachen Stein ab, der fest am Ufer verankert war. Ich sah seiner blitzartigen Bewegung zu, als er in einem Bogen über das Wasser flog und schließlich einen Salto schlug, bevor er in den dichten Bäumen am anderen Ufer verschwand.
»Angeber«, murmelte ich und hörte sein unsichtbares Lachen.
Ich ging fünf Schritte zurück, für alle Fälle, und holte tief Luft.
Plötzlich hatte ich wieder Angst. Nicht dass ich fallen oder mir wehtun könnte – eher dass ich dem Wald wehtun könnte.
Sie war langsam gekommen, aber jetzt spürte ich sie – die rohe, gewaltige Kraft, die in meinen Gliedern zitterte. Plötzlich hatte ich das sichere Gefühl, dass ich, sollte ich auf die Idee kommen, durch den felsigen Boden unter dem Fluss hindurch einen Tunnel zu graben, nicht besonders lange dafür brauchen würde. Alles um mich herum – die Bäume, die Sträucher, die Felsen … das Haus – sah auf einmal ganz zerbrechlich aus.
Ich hoffte sehr, dass es am anderen Ufer keine Bäume gab, an denen Esme besonders hing, und begann mit dem ersten Schritt. Und blieb stehen, als der enge Satin einen fünfzehn Zentimeter langen Riss bis zu meinem Oberschenkel bekam. Alice!
Nun ja, Alice tat ja immer so, als wären Kleider Einwegartikel, also dürfte es ihr nicht viel ausmachen. Ich bückte mich, fasste an der unversehrten rechten Seite vorsichtig den Saum und riss das Kleid so sanft wie möglich bis ganz zum Oberschenkel auf. Dann nahm ich mir die andere Seite vor, damit sie zusammenpassten.
Viel besser.
Ich hörte unterdrücktes Lachen im Haus, und ich hörte sogar, dass jemand mit den Zähnen knirschte. Das Lachen kam sowohl von oben als auch von unten, und ich erkannte sofort das ganz andere, raue, kehlige Kichern aus dem Erdgeschoss.
Dann schaute Jacob mir also auch zu? Ich konnte mir nicht vorstellen, was er sich jetzt dachte oder was er immer noch hier tat. Ich hatte angenommen, dass unser Wiedersehen – falls er mir je verzeihen konnte – irgendwann in ferner Zukunft stattfinden würde, wenn ich stabiler war und die Zeit die Wunden geheilt hatte, die ich seinem Herzen zugefügt hatte.
Ich sah nicht zurück, um ihn anzuschauen, ich war mir meiner Stimmungsschwankungen nur allzu bewusst. Es war besser, wenn ich mich nicht allzu starken Gefühlen aussetzte. Auch Jaspers Ängste machten mich nervös. Ich musste jagen, bevor ich mich mit irgendetwas anderem beschäftigte. Ich versuchte alles andere zu vergessen, damit ich mich konzentrieren konnte.
»Bella?«, rief Edward aus dem Wald, seine Stimme kam näher. »Soll ich es dir noch einmal zeigen?«
Aber natürlich erinnerte ich mich ganz genau an alles und ich wollte Emmett keinen Anlass geben, sich über meine Einführung in das Dasein als Vampir noch mehr zu amüsieren. Hier handelte es sich um eine körperliche Aktion – es müsste also instinktiv gehen. Ich holte tief Luft und rannte auf den Fluss zu.
Ungehindert von meinem Kleid hatte ich das Ufer schon mit einem langen Satz erreicht. Nur eine vierundachtzigstel Sekunde und doch lange genug – meine Augen und meine Gedanken waren so schnell, dass ein Schritt genügte. Es war einfach, den rechten Fuß so auf den flachen Stein zu stellen und den richtigen Druck auszuüben, dass mein Körper in die Luft geschleudert wurde. Ich hatte mehr auf das Ziel geachtet als auf die Kraft, und ich hatte die Kraft, die nötig war, falsch eingeschätzt – aber immerhin hatte ich mich nicht so verschätzt, dass ich nass wurde. Die fünfzig Meter waren etwas zu leicht zu schaffen …
Es war merkwürdig, schwindelerregend und elektrisierend, aber sehr kurz. Schon nach einer Sekunde war ich drüben.
Ich hatte gedacht, die dichten Bäume könnten zum Problem werden, aber sie waren überraschend hilfreich. Es war ein Leichtes, eine Hand auszustrecken, als ich tief im Wald wieder herunterkam, und mich an dem nächstbesten Ast festzuhalten; ich schwang mich hinunter und landete auf den Zehen, immer noch in fünf Metern Höhe, auf dem breiten Ast einer Sitkafichte.
Es war phantastisch.
Über mein begeistertes Gelächter hinweg hörte ich, wie Edward zur mir hinrannte. Ich war doppelt so weit gesprungen wie er. Als er bei meinem Baum ankam, machte er große Augen. Behände sprang ich von dem Ast zu ihm hinunter und landete lautlos auf den Fußballen.
»War das gut?«, fragte ich, mein Atem ging schnell vor Aufregung.
»Sehr gut.« Er lächelte anerkennend. Doch der beiläufige Ton passte nicht ganz zu seinem überraschten Gesichtsausdruck.
»Können wir das noch mal machen?«
»Konzentrier dich, Bella – wir sind auf der Jagd.«
»Ach ja.« Ich nickte. »Die Jagd.«
»Folge mir … wenn du kannst.« Er grinste, jetzt sah er plötzlich spöttisch aus, und rannte los.
Er war schneller als ich. Ich begriff nicht, wie er die Beine mit einer solchen Geschwindigkeit bewegen konnte, es war mir ein Rätsel. Aber ich war die Stärkere von uns beiden, und wenn ich einen Schritt machte, machte er drei. Und so flog ich mit ihm durch das Netz aus grünen Zweigen, Seite an Seite, es konnte nicht die Rede davon sein, dass ich ihm folgte. Während ich rannte, konnte ich ein Lachen nicht zurückhalten, solch eine freudige Erregung durchfuhr mich; durch das Lachen wurde ich weder langsamer noch störte es meine Konzentration.
Endlich begriff ich, weshalb Edward beim Rennen nie gegen die Bäume stieß – was ich früher immer unglaublich gefunden hatte. Es war ein eigentümliches Gefühl, dieses Zusammenspiel von Geschwindigkeit und Klarheit. Denn während ich so schnell durch das dichte jadegrüne Gestrüpp schoss, dass alles um mich herum hätte aussehen müssen wie ein einziger verschwommener grüner Streifen, sah ich noch das winzigste Blatt an all den kleinen Zweigen jedes einzelnen Strauchs, an dem ich vorbeikam, gestochen scharf.
Der Flugwind wehte meine Haare und mein zerrissenes Kleid nach hinten, und obwohl ich wusste, dass das eigentlich nicht sein konnte, fühlte er sich warm auf meiner Haut an. Genauso wie sich der raue Waldboden nicht wie Samt unter meinen nackten Füßen hätte anfühlen dürfen und die Zweige, die mir an die Haut schlugen, nicht wie zarte Federn.
Der Wald war viel lebendiger, als ich bisher wusste – in den Blättern um mich herum wimmelte es von kleinen Wesen, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte. Als wir vorbeikamen, verstummten sie alle, ihr Atem beschleunigte sich vor Angst. Die Tiere reagierten sehr viel klüger auf unseren Geruch als die Menschen. Auf mich hatte er jedenfalls die gegenteilige Wirkung gehabt.
Ich wartete darauf, dass ich erschöpft wurde, aber mein Atem ging immer noch regelmäßig. Ich wartete darauf, dass mir die Muskeln wehtaten, doch als ich mich einmal an meine großen Schritte gewöhnt hatte, schien meine Kraft sogar noch anzuwachsen. Immer länger wurden meine hüpfenden Sprünge, und schon bald musste Edward sich anstrengen, mit mir Schritt zu halten. Ich lachte wieder, begeistert, als ich hörte, wie er zurückfiel. Jetzt berührten meine nackten Füße den Boden nur noch so selten, dass es sich eher wie Fliegen anfühlte als wie Rennen.
»Bella«, rief er mit gleichförmiger Stimme. Mehr hörte ich nicht; er war stehen geblieben.
Ganz kurz erwog ich, mich taub zu stellen.
Doch mit einem Seufzen wirbelte ich herum und sprang leichtfüßig neben ihn, ein paar hundert Meter zurück. Ich schaute ihn erwartungsvoll an. Er lächelte, eine Augenbraue hochgezogen. Er war so schön, dass ich ihn nur ansehen konnte.
»Hattest du vor, im Land zu bleiben?«, fragte er belustigt. »Oder wolltest du heute Nachmittag noch bis nach Kanada?«
»Hier ist es gut«, sagte ich und konzentrierte mich weniger auf das, was er sagte, als auf die faszinierende Art, wie er beim Sprechen die Lippen bewegte. Es war schwer, sich nicht ablenken zu lassen, alles war so frisch für meine starken neuen Augen. »Was jagen wir?«
»Wapiti, ich dachte mir, etwas Einfaches für den Anfang …« Er verstummte, als meine Augen bei den Worten »etwas Einfaches« schmal wurden.
Aber ich wollte nicht streiten, dafür hatte ich zu großen Durst. Sobald ich an das trockene Brennen in meiner Kehle dachte, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Es wurde eindeutig schlimmer. Mein Mund fühlte sich an wie an einem Juninachmittag im Death Valley.
»Wo?«, fragte ich und suchte ungeduldig die Bäume ab. Jetzt, da ich dem Durst Beachtung schenkte, schien er jeden anderen Gedanken in meinem Kopf zu vergiften, er sickerte in die angenehmeren Gedanken wie Rennen und Edwards Lippen und Küssen und … brennender Durst. Ich kam nicht davon los.
»Sei mal einen Augenblick ganz still«, sagte er und legte mir leicht die Hände auf die Schultern. Bei seiner Berührung wurde mein Durst sofort weniger drängend.
»Jetzt schließe die Augen«, sagte er leise. Als ich gehorchte, hob er die Hände zu meinem Gesicht, strich mir über die Wangenknochen. Ich merkte, wie mein Atem schneller ging, und wartete einen kurzen Moment wieder auf die Röte, die nicht kam.
»Horche«, sagte Edward. »Was hörst du?«
Alles, hätte ich sagen können; seine vollkommene Stimme, seinen Atem, seine Lippen, die einander berührten, während er sprach, das Flüstern der Vögel, die in den Baumwipfeln ihre Federn putzten, ihren flatternden Herzschlag, die Ahornblätter, die aneinanderraschelten, das leise Knacken der Ameisen, die in einer langen Reihe hintereinander die Rinde des nächsten Baumes emporkrabbelten. Doch ich wusste, dass er etwas Bestimmtes meinte, also richtete ich die Ohren auf weiter Entferntes, suchte etwas anderes als das kleine Gesumm von Leben um mich herum. Ganz in der Nähe gab es eine Lichtung – über dem offenen Gras klang der Wind anders – und einen kleinen Bach mit steinigem Flussbett. Und dort, nah bei dem Geräusch des Wassers, war das Spritzen schleckender Zungen zu hören, das laute Hämmern schwerer Herzen, die dicke Blutströme pumpten …
Meine Kehle fühlte sich an den Seiten an wie zugeschnürt.
»Am Bach, im Nordosten?«, fragte ich, die Augen noch immer geschlossen.
»Ja«, sagte er anerkennend. »Jetzt … warte auf die nächste Brise … was riechst du?«
Vor allem ihn – seinen seltsamen Honig-Flieder-Sonnenduft. Und außerdem den satten, erdigen Geruch von Fäulnis und Moos, vom Harz der Nadelbäume, das warme, fast nussige Aroma der kleinen Nagetiere, die unter den Baumwurzeln kauerten. Aber als ich meine Sinne weiter ausstreckte, roch ich sauberes Wasser, das mich trotz meines Dursts erstaunlicherweise gar nicht reizte. Ich konzentrierte mich auf das Wasser und fand den Geruch, der zu dem Schlecken und den pochenden Herzen passte. Ein warmer Geruch, üppig und durchdringend, kräftiger als die anderen. Und doch kaum reizvoller als der Bach. Ich rümpfte die Nase.
Er kicherte. »Ich weiß – man muss sich erst daran gewöhnen.«
»Drei?«, riet ich.
»Fünf. Zwei sind noch hinter ihnen im Wald.«
»Und was mache ich jetzt?«
Seine Stimme klang, als ob er lächelte. »Was möchtest du denn gern machen?«
Mit geschlossenen Augen dachte ich darüber nach, während ich lauschte und den Geruch einatmete. Wieder überfiel mich brennender Durst, und plötzlich fand ich den warmen, kräftigen Geruch gar nicht mehr so übel. Wenigstens wäre es etwas Heißes, Nasses in meinem ausgetrockneten Mund. Ich riss die Augen auf.
»Gar nicht darüber nachdenken«, sagte er, nahm die Hände von meinem Gesicht und ging einen Schritt zurück. »Folge einfach deinen Instinkten.«
Ich ließ mich von dem Geruch treiben, merkte kaum, dass ich mich bewegte, während ich den Hang zu der schmalen Wiese hinunterging, wo der Bach floss. Automatisch duckte ich mich, als ich zögernd am farnbewachsenen Waldrand stehen blieb. Am Rand des Baches sah ich einen großen Hirsch, zwei Dutzend Geweihenden krönten sein Haupt, und die schattengefleckten Formen der vier anderen Wapitis, die gemächlich in Richtung Osten in den Wald gingen.
Ich konzentrierte mich auf den Geruch des Hirschs, auf die heiße Stelle an seinem struppigen Hals, wo die Wärme am stärksten pulsierte. Nur dreißig Meter – zwei oder drei Sprünge – lagen zwischen uns. Ich hielt mich für den ersten Sprung bereit.
Doch als meine Muskeln sich zusammenzogen, drehte sich der Wind, er blies jetzt stärker und kam von Süden her. Ohne zu zögern, raste ich aus dem Wald hinaus auf einem Weg, der den Pfad kreuzte, den ich ursprünglich nehmen wollte, scheuchte den Hirsch in den Wald und rannte hinter einem neuen Duft her, der mich so anzog, dass ich keine Wahl hatte. Es war wie ein Zwang.
Der Duft beherrschte mich vollkommen. Ich dachte an nichts anderes, als ich ihm folgte, spürte nur den Durst und den Geruch, der mir versprach ihn zu löschen. Der Durst wurde schlimmer, war jetzt so schmerzhaft, dass meine Gedanken sich verwirrten und er mich an das brennende Gift in meinen Adern erinnerte.
Nur eines konnte meine Konzentration jetzt noch durchdringen, nur ein Instinkt war noch stärker, noch grundlegender als das Bedürfnis, das Feuer zu löschen – der Instinkt, mich vor Gefahr zu schützen. Selbsterhaltung.
Plötzlich merkte ich alarmiert, dass ich verfolgt wurde. Die Anziehungskraft der unwiderstehlichen Beute kämpfte mit dem Impuls, mich umzudrehen und mein Jagdrevier zu verteidigen. Ein Laut entstand in meiner Brust, meine Lippen zogen sich ganz von selbst zu einem warnenden Zähnefletschen zurück. Meine Füße wurden langsamer, das Bedürfnis, meinen Rücken zu schützen, kämpfte gegen das Verlangen, den Durst zu stillen.
Und dann hörte ich, wie mein Verfolger aufholte, und mein Verteidigungsinstinkt gewann die Oberhand. Als ich herumwirbelte, stiegen die Laute aus meiner Brust in meine Kehle.
Das wilde Knurren, das aus meinem eigenen Mund kam, überraschte mich dermaßen, dass ich innehielt. Es beunruhigte mich und einen kurzen Augenblick konnte ich wieder klar denken – die Umnebelung, in die der Durst mich gestürzt hatte, löste sich auf, auch wenn meine Kehle immer noch brannte.
Der Wind wechselte wieder, blies mir den Geruch von nasser Erde und nahendem Regen ins Gesicht und befreite mich weiter aus dem feurigen Griff des anderen Dufts – eines so köstlichen Dufts, dass er nur von einem Menschen stammen konnte.
Edward stand zögernd ein paar Meter entfernt, die Arme erhoben, als wollte er mich umarmen – oder festhalten. Seine Miene war gespannt und wachsam, während ich vor Entsetzen erstarrte.
Mir wurde klar, dass ich ihn beinahe angegriffen hätte. Mit einem Ruck gab ich meine Verteidigungshaltung auf. Ich hielt den Atem an, während ich mich sammelte, voller Angst, der Duft aus südlicher Richtung könnte wieder zu mir herwehen.
Er sah, dass ich langsam wieder zur Vernunft kam, ging einen Schritt auf mich zu und ließ die Arme sinken.
»Ich muss hier weg«, stieß ich zwischen den Zähnen hervor.
Erschrocken sah er mich an. »Kannst du denn jetzt fort?«
Ich hatte keine Zeit, ihn zu fragen, was er damit meinte. Ich wusste, dass ich nur so lange einen kühlen Kopf bewahren konnte, wie ich vermied, daran zu denken …
Wieder rannte ich los, ich raste nach Norden, konzentrierte mich nur auf das unangenehme Gefühl, einen Sinn weniger zu haben, anscheinend die einzige Reaktion meines Körpers auf den Sauerstoffentzug. Ich hatte nur ein Ziel – so weit wegzukommen, dass der Geruch hinter mir völlig verschwand. So dass ich ihn auf keinen Fall wiederfinden konnte, selbst wenn ich meine Meinung ändern sollte …
Wieder merkte ich, dass mich jemand verfolgte, aber diesmal war ich bei klarem Verstand. Ich kämpfte gegen den Impuls zu atmen – mich mit Hilfe der Gerüche in der Luft zu versichern, dass es Edward war. Ich brauchte nicht lange zu kämpfen; obwohl ich schneller lief denn je, kometengleich den geradesten Weg entlangschoss, holte Edward mich kurz darauf ein.
Da kam mir ein neuer Gedanke, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Ich war mir sicher, dass hier keine Gefahr drohte, aber für alle Fälle hielt ich doch die Luft an.
Edward rannte an mir vorbei, erstaunt über meine plötzliche Reglosigkeit. Er wirbelte herum und war sofort bei mir. Er legte mir die Hände auf die Schultern und schaute mir in die Augen, er sah immer noch erschrocken aus.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte er.
»Du hast mich vorhin gewinnen lassen, stimmt’s?«, fragte ich, ohne auf seine Frage zu antworten. »Und ich hatte gedacht, ich wäre so gut gewesen.«
Als ich den Mund öffnete, schmeckte ich die Luft – sie war jetzt rein, keine Spur von dem unwiderstehlichen Duft, der mich quälte. Vorsichtig atmete ich ein.
Er zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf, er wollte sich nicht davon abbringen lassen. »Bella, wie hast du das gemacht?«
»Wie ich weggelaufen bin? Ich hab die Luft angehalten.«
»Aber wie konntest du aufhören zu jagen?«
»Als du hinter mir aufgetaucht bist … es tut mir so leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich war es, der sträflich leichtsinnig war. Ich nahm an, dass kein Mensch so weitab der Wege sei, doch ich hätte es überprüfen müssen. Welch ein törichter Fehler! Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.«
»Aber ich hab dich angeknurrt!« Ich war immer noch entsetzt, dass ich zu so einer Beleidigung im Stande war.
»Natürlich. Das ist ganz normal. Doch ich verstehe immer noch nicht, wie du weglaufen konntest.«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«, fragte ich. Sein Verhalten irritierte mich – was hätte ich denn seiner Meinung nach machen sollen? »Es hätte ja jemand sein können, den ich kenne!«
Ich erschrak, als er plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach, er warf den Kopf in den Nacken, sein Lachen hallte von den Bäumen wider.
»Warum lachst du mich aus?«
Sofort verstummte er und ich sah, dass er wieder auf der Hut war.
Reiß dich zusammen, sagte ich mir. Ich musste meine Wut im Zaum halten. Als wäre ich ein junger Werwolf, kein Vampir.
»Ich lache dich nicht aus, Bella. Ich lache, weil ich erschrocken bin. Und erschrocken bin ich, weil ich über alle Maßen erstaunt bin.«
»Wieso?«
»Du dürftest nichts von alldem können. Du dürftest nicht so … rational sein. Du dürftest nicht hier stehen und diese Fragen ruhig und gelassen mit mir erörtern. Und vor allem dürftest du dich nicht mitten in der Jagd losreißen können, wenn der Geruch von Menschenblut in der Luft liegt. Selbst für reife Vampire ist das schwierig – wenn wir auf die Jagd gehen, passen wir immer sehr gut auf, nicht in Versuchung zu geraten. Bella, du verhältst dich so, als wärest du nicht Tage, sondern mehrere Dekaden alt.«
»Ach.« Aber ich hatte ja gewusst, dass es schwierig werden würde. Deshalb nahm ich mich so in Acht. Ich hatte damit gerechnet, dass es hart werden würde.
Wieder legte er mir die Hände an das Gesicht und sein Blick war voller Staunen. »Was würde ich geben, wenn ich nur in diesem einen Moment in deinen Kopf schauen könnte.«
So starke Gefühle. Auf den Durst war ich vorbereitet gewesen, auf das hier nicht. Ich war mir so sicher gewesen, dass es nicht mehr so sein würde wie früher, wenn er mich berührte. Nun ja, ehrlich gesagt war es auch nicht wie früher.
Es war stärker.
Ich zeichnete die Konturen seines Gesichts nach, meine Finger verharrten auf seinen Lippen.
»Ich dachte, ich würde das jetzt lange nicht mehr fühlen?« Meine Unsicherheit verwandelte den Satz in eine Frage. »Aber ich will dich immer noch.«
Er blinzelte entgeistert. »Wie kannst du dich nur darauf konzentrieren? Bist du nicht unerträglich durstig?«
Natürlich war ich das jetzt, da er wieder davon angefangen hatte!
Ich versuchte zu schlucken, dann seufzte ich und schloss wie zuvor die Augen, damit ich mich besser konzentrieren konnte. Ich streckte die Sinne aus, diesmal war ich gegen eine erneute Attacke des köstlichen, verbotenen Geruchs gewappnet.
Edward ließ die Hände sinken, er atmete nicht, während ich tiefer und tiefer in das Netz aus grünem Leben hineinlauschte und die Gerüche und Geräusche nach etwas durchforstete, dem ich nicht gänzlich abgeneigt war. Da war die Andeutung von etwas, eine schwache Fährte im Osten …
Ich riss die Augen auf, doch ich konzentrierte mich immer noch auf meine anderen Sinne, als ich mich umdrehte und leise in Richtung Osten lief. Es ging ganz plötzlich steil bergauf, und ich rannte in geduckter Jagdhaltung, nah am Boden, hielt mich an die Bäume, wenn das einfacher war. Ich spürte Edward eher, als dass ich ihn hörte, er bewegte sich still durch den Wald und überließ mir die Führung.
Je höher wir kamen, desto karger wurde die Gegend; der Geruch von Harz wurde deutlicher, ebenso wie die Fährte, der ich folgte – es war ein warmer Geruch, kräftiger und verlockender als der des Wapitis. Nur wenige Sekunden darauf hörte ich das gedämpfte Tapsen gewaltiger Füße, viel zarter als das Knirschen der Hufe. Das Geräusch kam von oben – es war eher in den Zweigen als auf dem Boden. Automatisch sauste auch ich die Äste hinauf und eroberte mir die höhere Position in einer mächtigen silbernen Fichte.
Die leisen Pfoten bewegten sich jetzt verstohlen unter mir, der saftige Geruch war ganz nah. Mein Blick lokalisierte die Bewegung, die mit dem Geräusch verbunden war, und ich sah das gelbbraune Fell einer Raubkatze, die über den breiten Ast einer Fichte schlich, genau links unter mir. Sie war groß – bestimmt viermal so schwer wie ich. Den Blick hatte sie aufmerksam nach unten gerichtet; auch die Raubkatze war auf der Jagd. Ich schnappte den Geruch von etwas Kleinerem auf – fad im Vergleich zu dem Duft meiner Beute –, das im Gebüsch unter dem Baum hockte. Der Schwanz des Pumas zuckte krampfhaft, als er zum Sprung ansetzte.
Mit einem leichten Satz segelte ich durch die Luft und landete auf dem Ast des Pumas. Er spürte, wie das Holz schwankte, und wirbelte herum, er schrie überrascht und herausfordernd. Er holte mit der Tatze aus, seine Augen flammend vor Zorn. Halb wahnsinnig vor Durst ignorierte ich die gebleckten Eckzähne und die ausgefahrenen Krallen und stürzte mich auf ihn, warf mich mit ihm auf den Waldboden.
Es war kein nennenswerter Kampf.
Seine Krallen hätten liebkosende Finger sein können, so wenig konnten sie meiner Haut anhaben. Seine Zähne fanden keinen Halt an meiner Schulter oder Kehle. Sein Gewicht war gar nichts. Zielstrebig suchten meine Zähne seine Kehle, sein instinktiver Widerstand war armselig im Vergleich zu meiner Kraft. Mit Leichtigkeit biss ich genau in die Stelle, wo sich der Blutstrom konzentrierte.
Es war so mühelos, wie in Butter zu beißen. Meine Zähne waren Rasiermesser aus Stahl, sie schnitten durch das Fell, das Fett und die Sehnen, als wäre das alles nichts.
Der Geschmack war nicht, wie er sein sollte, aber das Blut war heiß und nass und es linderte den rauen, kratzigen Durst, als ich in gieriger Hast trank. Der Widerstand des Tieres wurde immer schwächer, mit einem gurgelnden Laut erstarben seine Schreie. Die Wärme des Bluts breitete sich in meinem ganzen Körper aus, selbst meine Fingerspitzen und Zehen wurden warm.
Der Puma war leer getrunken, aber mein Durst war immer noch nicht gestillt. Er loderte wieder auf, und ich schob das tote Tier angewidert von meinem Körper. Wie konnte ich nach alldem immer noch Durst haben?
Mit einer schnellen Bewegung erhob ich mich. Als ich stand, merkte ich, dass ich ziemlich schlimm aussah. Ich wischte mir mit dem Arm das Gesicht ab und versuchte mein Kleid zu richten. Die Krallen, die an meiner Haut nichts ausrichten konnten, hatten mit dem dünnen Satin mehr Erfolg gehabt.
»Hmm«, machte Edward. Ich schaute auf und sah, wie er lässig an einem Baumstamm lehnte und mich nachdenklich beobachtete.
»Das hätte ich wohl besser hinkriegen können.« Ich war über und über beschmutzt, meine Haare waren zerzaust, mein Kleid blutbefleckt und zerfetzt. So kam Edward nicht von seinen Jagdausflügen nach Hause.
»Du warst sehr gut«, versicherte er mir. »Es ist nur … es hätte mir nicht so schwerfallen dürfen, dir dabei zuzusehen.«
Ich zog die Augenbrauen hoch, ich wusste nicht, was er meinte.
»Es geht mir gegen den Strich«, erklärte er, »dich mit Raubkatzen kämpfen zu lassen. Ich hatte die ganze Zeit Angstzustände.«
»Dummerchen.«
»Ich weiß. Alte Gewohnheiten lassen sich schwer ablegen. Doch dein Kleid gefällt mir so sehr viel besser.«
Jetzt wäre ich rot geworden, wenn ich gekonnt hätte. Ich wechselte das Thema. »Warum hab ich jetzt immer noch Durst?«
»Weil du jung bist.«
Ich seufzte. »Aber ich fürchte, es gibt nicht noch mehr Pumas in der Nähe, oder?«
»Dafür jedoch reichlich Wild.«
Ich verzog das Gesicht. »Das riecht aber nicht so gut.«
»Pflanzenfresser. Der Geruch der Fleischfresser ist dem der Menschen ähnlicher«, erklärte er.
»So ähnlich nun auch wieder nicht«, widersprach ich und versuchte, mich nicht daran zu erinnern.
»Wir könnten zurückgehen«, sagte er in ernsthaftem Ton, aber in seinen Augen glitzerte der Spott. »Falls es Männer waren, die dort herumliefen, würde ihnen der Tod gewiss nicht viel ausmachen, wenn du ihn bringst.« Er ließ den Blick wieder über mein zerfetztes Kleid wandern. »Sie würden vermutlich denken, sie seien schon tot und im Himmel, sobald sie dich sehen.«
Ich verdrehte die Augen und schnaubte. »Los, dann jagen wir eben ein paar stinkende Pflanzenfresser.«
Auf dem Rückweg stießen wir auf eine große Herde Maultierhirsche. Jetzt, da ich den Dreh raushatte, jagte Edward mit mir zusammen. Ich erlegte einen großen Hirsch, aber viel gesitteter als bei dem Puma ging es dabei nicht zu. Edward hatte schon zwei Tiere ausgesaugt, bevor ich mit dem ersten fertig war, und er war nicht ein bisschen zerzaust und hatte keinen Fleck auf seinem weißen Hemd. Wir jagten die zerstreute, zu Tode erschrockene Herde, doch anstatt noch einmal zu trinken, schaute ich diesmal genau zu, wie er es schaffte, so ordentlich zu speisen.
Wenn ich mir früher gewünscht hatte, Edward würde mich bei seinen Jagdausflügen nicht zurücklassen, war ich insgeheim auch immer ein kleines bisschen erleichtert gewesen. Denn ich war mir sicher, dass es ein erschreckender Anblick sein müsste. Gruselig. Dass er mir, wenn ich ihn auf der Jagd sehen würde, schließlich doch mehr wie ein Vampir vorkommen würde.
Natürlich war es aus dieser Perspektive ganz anders, jetzt, da ich selbst ein Vampir war. Doch ich war mir fast sicher, dass die Schönheit selbst meinen Menschenaugen nicht entgangen wäre.
Es hatte etwas erstaunlich Sinnliches, Edward beim Jagen zu beobachten. Sein weicher Sprung war wie die geschmeidige Bewegung einer Schlange, wenn sie zustößt; seine Hände waren so sicher, so stark, so völlig unausweichlich; seine Lippen waren vollkommen, als sie sich anmutig über seinen glänzenden Zähnen öffneten. Er war wunderbar. Stolz und Verlangen durchzuckten mich plötzlich. Er war mein. Jetzt konnte uns nichts mehr trennen. Ich war zu stark, um von seiner Seite gerissen zu werden.
Er war sehr schnell. Er drehte sich zu mir um und schaute neugierig in mein beglücktes Gesicht.
»Nicht mehr durstig?«, fragte er.
Ich zuckte die Schultern. »Du hast mich abgelenkt. Du kannst das viel besser als ich.«
»Jahrhundertelange Übung.« Er lächelte. Seine Augen waren jetzt von einem beunruhigend schönen Honiggold.
»Nur ein Jahrhundert«, verbesserte ich ihn.
Er lachte. »Genügt es dir für heute? Oder möchtest du noch weitermachen?«
»Ich glaube, es reicht.« Ich fühlte mich sehr satt, fast kurz davor, überzuschwappen. Ich war mir nicht sicher, wie viel Flüssigkeit noch in meinen Körper passen würde. Trotzdem war das Brennen in meiner Kehle nur betäubt. Aber ich hatte ja gewusst, dass der Durst ein unvermeidlicher Bestandteil meines Lebens sein würde.
Und das war es wert.
Ich hatte das Gefühl, es im Griff zu haben. Vielleicht wiegte ich mich in falscher Sicherheit, aber ich war fest davon überzeugt, dass ich heute niemanden umbringen würde. Wenn ich schon völlig fremden Menschen widerstehen konnte, müsste ich dann nicht auch dem Werwolf und dem Halbvampirkind widerstehen können, die ich liebte?
»Ich will Renesmee sehen«, sagte ich. Jetzt, da mein Durst gezähmt war (wenn auch keineswegs gelöscht), waren meine Sorgen von vorhin wieder sehr lebendig. Ich wollte die Fremde, die meine Tochter war, mit dem Wesen, das ich noch vor drei Tagen geliebt hatte, in Einklang bringen. Es war so merkwürdig, so falsch, sie nicht mehr in mir zu tragen. Auf einmal fühlte ich mich leer und unwohl.
Er reichte mir eine Hand. Ich nahm sie, und seine Haut fühlte sich wärmer an als zuvor. Seine Wangen hatten ein ganz bisschen Farbe, und die Schatten unter seinen Augen waren fast verschwunden.
Wieder einmal konnte ich nicht widerstehen, sein Gesicht zu streicheln. Und gleich noch mal.
Während ich in seine schimmernden goldenen Augen schaute, vergaß ich beinahe, dass er mir noch eine Antwort auf meine Bitte schuldig war.
Es fiel mir fast so schwer, wie vor dem Geruch des menschlichen Bluts zu fliehen, aber irgendwie schaffte ich es, mich daran zu erinnern, dass ich vorsichtig sein musste, als ich mich auf die Zehenspitzen stellte und die Arme um ihn legte. Sanft.
Er zögerte nicht, er schlang die Arme um meine Taille und zog mich fest an sich. Er presste die Lippen auf meine, doch sie fühlten sich weich an. Meine Lippen schmiegten sich nicht mehr um seine, wie früher, sie hielten ihnen stand.
Wie schon beim ersten Mal fühlte es sich so an, als würde er mit seiner Haut, seinen Lippen, seinen Händen meine harte glatte Haut durchdringen, bis in meine neuen Knochen hinein. Bis in mein Innerstes. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn noch mehr lieben könnte als früher.
Früher war nicht genug Platz in mir gewesen für so viel Liebe. Mein altes Herz war nicht stark genug gewesen, um sie auszuhalten.
Vielleicht war das die Eigenschaft, die ich in meinem neuen Leben noch verstärken konnte. So wie es bei Carlisle das Mitgefühl war und bei Esme die Fürsorge. Ich würde wahrscheinlich nie irgendwas rasend Interessantes oder Besonderes können wie Edward, Alice oder Jasper. Vielleicht würde ich einfach nur Edward mehr lieben, als je in der Weltgeschichte jemand einen anderen geliebt hatte.
Damit konnte ich leben.
Einiges kannte ich noch von früher – die Finger in sein Haar zu wühlen, über seine Brust zu streichen –, doch anderes war so neu für mich. Er war neu. Es war ein ganz anderes Erlebnis, wenn er mich so sorglos küsste, so heftig. Ich küsste ihn ebenso heftig zurück, und da fielen wir plötzlich hin.
»Huch«, sagte ich und er lachte unter mir. »Ich wollte mich nicht so auf dich stürzen. Alles in Ordnung?«
Er streichelte mein Gesicht. »Ein wenig mehr als in Ordnung.« Und dann trat ein fragender Ausdruck auf sein Gesicht. »Renesmee?«, sagte er unsicher und versuchte herauszufinden, was ich mir in diesem Moment am meisten wünschte. Eine schwierige Frage, denn ich wollte so vieles auf einmal.
Ich merkte, dass er eigentlich nichts dagegen hatte, unsere Rückkehr noch ein wenig aufzuschieben, und es war schwer, an etwas anderes zu denken als an seine Haut auf meiner – von dem Kleid war nicht mehr viel übrig. Doch meine Erinnerung an Renesmee vor und nach der Geburt kam mir immer mehr wie ein Traum vor. Immer unwirklicher. All meine Erinnerungen an sie waren menschliche Erinnerungen; sie hatten etwas Unechtes an sich. Nichts, was ich nicht mit diesen Augen gesehen, mit diesen Händen berührt hatte, kam mir wahr vor.
Mit jedem Augenblick entfernte sich die kleine Fremde weiter aus der Wirklichkeit.
»Renesmee«, stimmte ich mit leisem Bedauern zu, sprang wieder auf die Füße und zog ihn mit.