Wenn man ein schlechtes Gewissen

Als ich wieder zum Haus kam, war niemand draußen und wartete auf meinen Bericht. Waren sie immer noch auf der Hut?

Alles ruhig, dachte ich müde.

Da bemerkte ich eine kleine Veränderung an der jetzt schon vertrauten Szenerie. Auf der untersten Verandastufe lag ein heller Stoffhaufen. Ich ging hin, um nachzusehen, was es war. Ich hielt die Luft an, denn in dem Stoff hing ein unsäglicher Vampirgestank, und stupste den Haufen mit der Nase an.

Jemand hatte mir Kleider hingelegt. Tss. Edward musste meinen Ärger mitbekommen haben, als ich zur Tür hinausgestürzt war. Na ja. Das war irgendwie … nett. Und verrückt.

Behutsam nahm ich die Kleider mit den Zähnen auf – bah – und trug sie zurück zu den Bäumen. Nur für den Fall, dass es sich um einen Scherz der blonden Psychopathin handelte und ich einen Haufen Frauenkleider bekommen hatte. Bestimmt würde sie liebend gern meinen Gesichtsausdruck sehen, wenn ich in Menschengestalt nackt dastand und ein Sommerkleid in der Hand hielt.

Im Schutz der Bäume ließ ich den stinkenden Haufen fallen und verwandelte mich in einen Menschen. Ich schüttelte die Kleider aus und schlug sie gegen einen Baum, um ein bisschen von dem Gestank herauszuklopfen. Es waren eindeutig Männerklamotten – eine hellbraune Hose und ein weißes Button-down-Hemd. Beides ein bisschen kurz, aber von der Weite her schien es zu passen. Wahrscheinlich von Emmett. Bei dem Hemd krempelte ich die Manschetten hoch, aber bei der Hose war nicht viel zu machen. Na ja.

Ich musste zugeben, dass es mir mit ein paar Klamotten sofort besserging, auch wenn sie stanken und nicht passten. Es war hart, nicht einfach nach Hause gehen und mir eine alte Jogginghose holen zu können, wenn ich eine brauchte. Schon wieder wurde ich darauf gestoßen, dass ich kein Zuhause hatte – keinen Ort, zu dem ich zurückkehren konnte. Und auch keinen Besitz, was mich im Moment zwar nicht weiter störte, was jedoch schon bald lästig werden könnte.

Erschöpft ging ich in meinen schicken Secondhand-Klamotten die Verandatreppe der Cullens hoch, doch als ich an die Tür kam, zögerte ich. Sollte ich klopfen? Albern, wenn sie doch wussten, dass ich da war. Ich fragte mich, wieso dann niemand reagierte – mir sagte, ich solle hereinkommen, oder abhauen. Ich zuckte die Achseln und ging einfach hinein.

Weitere Veränderungen. Das Zimmer war in den letzten zwanzig Minuten wieder normal geworden, jedenfalls fast. Der große Flachbildfernseher war an, es lief irgendeine Schnulze, die offenbar niemand guckte. Carlisle und Esme standen am geöffneten Fenster, das nach hinten zum Fluss hinausging. Alice, Jasper und Emmett waren nicht zu sehen, doch ich hörte sie über uns murmeln. Bella lag wie gestern auf dem Sofa, nur noch einen Infusionsschlauch im Körper, der hinter der Sofalehne herabhing. Sie war wie ein Burrito in mehrere dicke Decken eingewickelt, also hatten sie wenigstens auf mich gehört. Rosalie saß am Kopfende im Schneidersitz auf dem Boden. Edward saß am anderen Ende des Sofas, Bellas Burritofüße auf dem Schoß. Als ich kam, blickte er auf und lächelte mich an – nur ein leichtes Zucken um den Mund –, als ob er sich über etwas freute.

Bella hörte mich nicht. Sie schaute nur auf, weil er es tat, und dann lächelte auch sie. Mit richtiger Energie, ihr ganzes Gesicht leuchtete. Ich konnte mich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so froh ausgesehen hatte, als sie mich sah.

Was hatte sie bloß? Sie war verheiratet, verdammt noch mal! Und zwar glücklich verheiratet – es gab keinen Zweifel daran, dass sie ihren Vampir über alle Grenzen der Vernunft liebte. Und zu alledem war sie hochschwanger.

Warum musste sie sich dann so wahnsinnig freuen, mich zu sehen? Als wäre ihr Tag erst jetzt vollkommen, als ich durch die Tür kam.

Wenn es ihr gleichgültig wäre … oder besser noch, wenn sie einfach nicht wollte, dass ich kam. Dann wäre es so viel einfacher, wegzubleiben.

Edward schien mir zuzustimmen – in letzter Zeit waren wir vollkommen auf einer Wellenlänge, wirklich verrückt. Jetzt runzelte er die Stirn und schaute ihr aufmerksam ins Gesicht, als sie mich anstrahlte.

»Sie wollten nur reden«, murmelte ich, ich sprach schleppend vor Erschöpfung. »Kein Angriff in Sicht.«

»Ja«, sagte Edward. »Das meiste habe ich gehört.«

Jetzt wurde ich ein bisschen munterer. Wir waren etwa fünf Kilometer entfernt gewesen. »Wie das?«

»Ich höre dich jetzt deutlicher – es hat mit Vertrautheit und Konzentration zu tun. Zudem sind deine Gedanken ein wenig leichter zu erfassen, wenn du in Menschengestalt bist. Daher habe ich das meiste von dem gehört, was sich zugetragen hat.«

»Ach so.« Das ärgerte mich ein bisschen, aber eigentlich gab es keinen Grund dafür, also schüttelte ich es ab. »Gut. Ich wiederhole mich so ungern.«

»Ich würde dir ja raten, ein bisschen zu schlafen«, sagte Bella. »Aber ich schätze, du schläfst in ungefähr sechs Sekunden sowieso ein, also was soll’s.«

Es war erstaunlich, wie viel besser sie sich anhörte, wie viel kräftiger sie aussah. Ich roch frisches Blut und sah, dass sie schon wieder die Tasse in den Händen hielt. Wie viel Blut brauchte sie, um durchzuhalten? Würden sie irgendwann bei den Nachbarn einfallen?

Ich ging zur Tür und zählte im Gehen die Sekunden für sie. »Einundzwanzig … zweiundzwanzig …«

»Oh, haben wir Hochwasser?«, murmelte Rosalie.

»Weißt du, wie man eine Blondine ertränkt, Rosalie?«, fragte ich, ohne stehen zu bleiben oder mich umzudrehen. »Indem man einen Spiegel auf den Grund eines Pools klebt.«

Ich hörte Edward kichern, als ich die Tür zuzog. Seine Laune schien sich genauso gebessert zu haben wie Bellas Gesundheitszustand.

»Den kannte ich schon«, rief Rosalie mir nach.

Ich stapfte die Treppe hinunter, ich wollte mich nur ein kleines Stück in den Wald schleppen, wo die Luft besser war. Ich nahm mir vor, die Klamotten nah am Haus zu deponieren, anstatt sie mir ans Bein zu binden, schon damit ich sie nicht immer riechen musste. Während ich mich an den Knöpfen des neuen Hemdes zu schaffen machte, dachte ich nebenbei, dass Knöpfe bei Werwölfen niemals in Mode kommen würden.

Ich hörte die Stimmen, während ich mich über die Wiese schleppte.

»Wo willst du hin?«, fragte Bella.

»Ich habe vergessen ihm etwas zu sagen.«

»Lass Jacob schlafen – das hat doch Zeit.«

Ja, bitte lass Jacob schlafen.

»Es wird nicht lange dauern.«

Langsam drehte ich mich um. Edward war schon zur Tür hinaus. Als er näher kam, sah er aus, als wollte er mich um Entschuldigung bitten.

»Himmel, was ist denn jetzt los?«

»Es tut mir leid«, sagte er, dann zögerte er, als fehlten ihm die richtigen Worte für das, was er sagen wollte.

Was denkst du, Gedankenleser?

»Als du vorhin mit Sams Abgesandten sprachst«, murmelte er, »da habe ich für Carlisle und Esme und die anderen eine Art Liveübertragung gemacht. Sie waren besorgt …«

»Hör mal, wir passen schon auf. Ihr braucht Sam nicht zu glauben, selbst wenn wir es tun. Wir halten trotzdem die Augen offen.«

»Nein, nein, Jacob. Darum geht es nicht. Wir vertrauen eurem Urteil. Esme war eher besorgt wegen der Entbehrungen, die dein Rudel wegen dieser Sache durchmacht. Sie bat mich, mit dir unter vier Augen darüber zu sprechen.«

Darauf war ich nicht vorbereitet. »Entbehrungen?«

»Vor allem, dass ihr kein Zuhause mehr habt. Es nimmt sie sehr mit, dass ihr so … ohne alles dasteht.«

Ich schnaubte. Eine Vampirglucke – grotesk. »Wir sind zäh. Sag ihr, sie soll sich keine Sorgen machen.«

»Dennoch würde sie gern tun, was sie kann. Ist es richtig, dass Leah nur ungern in Wolfsgestalt isst?«

»Und?«, sagte ich.

»Nun ja, wir haben normales Essen hier, Jacob. Um den Anschein zu wahren und natürlich für Bella. Leah ist herzlich eingeladen, sich zu bedienen. Ihr alle seid herzlich eingeladen.«

»Ich werd’s ausrichten.«

»Leah hasst uns.«

»Na und?«

»Dann richte es ihr doch bitte so aus, dass sie es in Erwägung zieht.«

»Ich tu, was ich kann.«

»Und dann wäre da noch die Sache mit den Kleidern.«

Ich schaute auf die Kleider, die ich am Leib trug. »Ach ja. Danke.« Es wäre wohl unhöflich zu erwähnen, wie sie stanken.

Er lächelte ein klein wenig. »Nun ja, wir können euch jederzeit aushelfen. Alice erlaubt uns kaum je, etwas zweimal zu tragen. Wir haben mehrere Stapel nagelneuer Kleider, die wir ohnehin weggeben werden, und ich denke, dass Leah etwa Esmes Größe hat …«

»Keine Ahnung, was sie von abgelegten Blutsauger-Klamotten hält. Sie ist nicht so praktisch veranlagt wie ich.«

»Gewiss kannst du ihr das Angebot im besten Licht erscheinen lassen. Ebenso wie das Angebot aller anderen Dinge, die ihr möglicherweise braucht, Autos oder was auch immer. Und auch eine Dusche, wenn ihr es weiterhin vorzieht, im Freien zu schlafen. Bitte … denkt nicht, ihr stündet ohne die Annehmlichkeiten eines Zuhauses da.«

Das Letzte sagte er sanft – nicht, weil er versuchte leise zu sprechen, sondern mit so etwas wie echtem Gefühl.

Ich starrte ihn einen Augenblick an und blinzelte einfältig. »Das ist … nett von euch. Sag Esme, wir wissen den, hm, Gedanken zu schätzen. Aber die Grenze geht an ein paar Stellen bis zum Fluss, deshalb bleiben wir ziemlich sauber, danke.«

»Wenn du es bitte trotzdem ausrichten könntest.«

»Ja, klar.«

»Ich danke dir.«

Ich drehte mich zum Gehen und blieb gleich darauf wie angewurzelt stehen, als ich einen leisen Schmerzensschrei aus dem Haus hörte. Als ich mich umdrehte, war Edward schon verschwunden.

Was war das denn jetzt?

Ich ging ihm nach, schlurfend wie ein Zombie. Und mit etwa der gleichen Anzahl aktiver Gehirnzellen. Es war, als hätte ich keine Wahl. Irgendetwas stimmte nicht. Und ich musste nachsehen, was es war. Obwohl ich nichts würde tun können. Und obwohl es mir schlechter gehen würde.

Es schien unausweichlich.

Wieder ging ich einfach ins Haus. Bella keuchte, sie war über ihren dicken Bauch gebeugt. Rosalie hielt sie, während Edward, Carlisle und Esme nervös dabeistanden. Ich erhaschte eine leichte Bewegung; Alice war oben auf der Treppe und starrte hinunter ins Zimmer, die Hände an die Schläfen gepresst. Es war eigenartig – als wäre ihr der Zutritt verwehrt.

»Warte einen Moment, Carlisle«, sagte Bella keuchend.

»Bella«, sagte der Doktor besorgt. »Ich habe gehört, das etwas brach. Ich muss es mir ansehen.«

»Ziemlich sicher« – keuch – »eine Rippe. Aua. Ja. Genau hier.« Sie zeigte auf ihre linke Seite, ohne die Stelle zu berühren.

Jetzt brach es ihr schon die Knochen.

»Ich muss eine Röntgenaufnahme machen. Möglicherweise sind da Splitter. Wir wollen nicht, dass etwas durchstoßen wird.«

Bella atmete tief durch. »Na gut.«

Rosalie hob Bella vorsichtig hoch. Edward sah aus, als wollte er sie ihr abnehmen, aber Rosalie zeigte ihm die Zähne und knurrte. »Ich hab sie schon.«

Also war Bella jetzt zwar stärker, aber das Ding auch. Wenn einer von beiden verhungerte, verhungerte auch der andere, und genauso war es mit der Genesung. Ein aussichtsloser Kampf.

Blondie trug Bella schnell die große Treppe hoch, Carlisle und Edward liefen hinter ihr her. Keiner von ihnen beachtete mich, wie ich verdattert in der Tür stand.

Dann hatten sie also eine Blutbank und einen Röntgenapparat? Anscheinend hatte der Doktor seine ganze Praxis mit nach Hause genommen.

Ich war zu müde, um ihnen nachzugehen, zu müde, mich zu bewegen. Ich lehnte mich an die Wand und ließ mich auf den Boden rutschen. Die Tür stand immer noch offen und ich drehte meine Nase dorthin, dankbar für den frischen Wind, der hereinwehte. Ich lehnte den Kopf an den Türpfosten und lauschte.

Ich hörte das Geräusch des Röntgenapparats von oben. Oder vielleicht bildete ich mir nur ein, dass es das war. Und ganz leise Schritte, sie kamen die Treppe herunter. Ich schaute nicht nach, welcher der Vampire es war.

»Möchtest du ein Kopfkissen?«, fragte Alice.

»Nein«, murmelte ich. Was sollte diese aufdringliche Gastfreundschaft? Das war ja gruselig.

»Das sieht nicht bequem aus«, bemerkte sie.

»Ist es auch nicht.«

»Warum legst du dich dann nicht woandershin?«

»Müde. Warum bist du nicht oben bei den anderen?«, schoss ich zurück.

»Kopfschmerzen«, antwortete sie.

Ich drehte den Kopf herum und sah sie an.

Alice war ein winziges Persönchen. Ungefähr so groß wie einer meiner Arme. Jetzt sah sie noch kleiner aus, irgendwie gebeugt. Ihr kleines Gesicht war schmerzverzerrt.

»Vampire kriegen Kopfschmerzen?«

»Die normalen nicht.«

Ich schnaubte. Normale Vampire!

»Wie kommt es, dass du gar nicht mehr bei Bella bist?«, fragte ich und ließ es wie einen Vorwurf klingen. Ich hatte so viel im Kopf, dass ich bisher nicht darüber nachgedacht hatte, aber es war merkwürdig, dass ich Alice nie bei Bella gesehen hatte, jedenfalls nicht, seit ich hier war. Wenn Alice bei Bella wäre, würde Rosalie vielleicht verschwinden. »Ich dachte, ihr zwei wärt so.« Ich hakte zwei Finger ineinander.

»Wie gesagt« – sie rollte sich ein Stück von mir entfernt auf den Fliesen zusammen, schlang die Arme um die mageren Knie –, »Kopfschmerzen.«

»Du kriegst von Bella Kopfschmerzen?«

»Ja.«

Ich runzelte die Stirn. Für Rätsel war ich jetzt auf jeden Fall zu müde. Ich drehte das Gesicht wieder zu der frischen Luft und schloss die Augen.

»Eigentlich nicht von Bella«, sagte sie. »Sondern von dem … Fötus.«

Aha, da war also noch jemand, der so empfand wie ich. Es war ziemlich offensichtlich. Sie sprach das Wort genauso widerwillig aus wie Edward.

»Ich kann ihn nicht sehen«, sagte sie, als spräche sie mit sich selbst. Sie dachte wohl, ich wäre schon eingeschlafen. »Ich kann nichts sehen, was mit ihm zu tun hat. Es ist genau wie bei dir.«

Ich zuckte und biss die Zähne zusammen. Ich wollte nicht mit dem Ding verglichen werden.

»Bella ist im Weg. Sie ist um das Wesen herumgeschlungen, und dadurch ist alles … verschwommen. Wie schlechter Empfang im Fernsehen – als wenn man versucht, die grieseligen Leute auf dem Bildschirm zu erkennen. Es ist Gift für meinen Kopf, wenn ich sie ansehe. Und ich kann im Moment ohnehin nicht mehr als ein paar Minuten in die Zukunft sehen. Der … Fötus ist zu sehr Teil der Zukunft. Als sie beschlossen hat … als sie wusste, dass sie es haben wollte, da wurde sie sofort verschwommen. Ich hab mich zu Tode erschreckt.«

Einen kurzen Augenblick schwieg sie, dann fügte sie hinzu: »Ich muss zugeben, dass es guttut, dich in der Nähe zu haben – trotz des Gestanks nach nassem Hund. Alles verschwindet. Als hätte ich die Augen geschlossen. Es betäubt den Kopfschmerz.«

»Freut mich, zu Diensten sein zu können, Ma’am«, murmelte ich.

»Ich frage mich, was es mit dir gemein hat … warum ihr in der Hinsicht gleich seid.«

Eine plötzliche Hitze flammte in meinen Knochen auf. Ich musste die Fäuste ballen, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen.

»Ich habe mit diesem Parasiten nichts gemein«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»Tja, irgendwas ist da aber.«

Ich gab keine Antwort. Die Hitze verging bereits wieder. Ich war zu erschlagen, um länger wütend zu sein.

»Es macht dir doch nichts aus, wenn ich hier neben dir sitze, oder?«, fragte sie.

»Nicht direkt. Stinken tut es sowieso.«

»Danke«, sagte sie. »Ich glaube, das ist das Beste, was ich tun kann. Aspirin kann ich nämlich nicht nehmen.«

»Geht’s auch ein bisschen leiser? Ich möchte schlafen.«

Sie gab keine Antwort, sie verstummte sofort. Wenige Sekunden später war ich weggetreten.

Ich träumte, ich hätte großen Durst. Vor mir stand ein großes Glas Wasser – ganz kalt, das Kondenswasser lief am Glas herunter. Ich nahm das Glas und trank einen großen Schluck, als ich merkte, dass es gar kein Wasser war – es war pures Bleichmittel. Ich spuckte es aus, prustete es überallhin, und ein Strahl kam mir durch die Nase. Meine Nase brannte …

Von dem Schmerz in der Nase wachte ich auf, und sofort wusste ich, wo ich eingeschlafen war. Der Geruch war ziemlich heftig dafür, dass meine Nase gar nicht richtig im Haus war. Pfui. Und es war laut. Jemand lachte zu laut. Ein vertrautes Lachen, aber eines, das nicht zu dem Geruch passte. Nicht dazugehörte.

Stöhnend machte ich die Augen auf. Der Himmel war dunkelgrau – es war Tag, aber ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Vielleicht schon fast Abend – es war ziemlich dunkel.

»Das wurde aber auch Zeit«, murmelte Blondie aus nicht allzu weiter Entfernung. »Deine Imitation einer Kettensäge wurde allmählich etwas langweilig.«

Ich drehte mich um und zwang mich zum Sitzen. Währenddessen wurde mir klar, woher der Geruch kam. Jemand hatte mir ein breites Federkissen unter das Gesicht gestopft. Vermutlich war das freundlich gemeint. Wenn es nicht von Rosalie kam.

Kaum hatte ich den Kopf von den stinkenden Federn erhoben, schnappte ich andere Gerüche auf. So etwas wie Schinken und Zimt, vermischt mit dem Vampirgestank.

Blinzelnd schaute ich mich im Zimmer um.

Es hatte sich nicht sonderlich verändert, außer dass Bella jetzt auf dem Sofa saß und keine Infusion mehr bekam. Blondie saß ihr zu Füßen, den Kopf an Bellas Knie gelehnt. Wenn ich sah, wie selbstverständlich sie Bella berührten, bekam ich immer noch Gänsehaut, auch wenn das bei genauerer Überlegung ziemlich dämlich war. Edward war an ihrer Seite und hielt ihre Hand. Alice saß auf dem Boden, wie Rosalie. Jetzt war ihr Gesicht nicht mehr so schmerzverzerrt. Und ich sah auch sofort, weshalb – sie hatte ein neues Schmerzmittel gefunden.

»Hey, da ist Jake ja endlich wieder!«, jubelte Seth.

Er saß an Bellas anderer Seite, einen Arm lässig um ihre Schultern gelegt, einen übervollen Teller mit Essen auf dem Schoß.

Was zum Teufel sollte das?

»Er hat dich gesucht«, sagte Edward, während ich mich aufrappelte. »Und Esme hat ihn überredet, zum Frühstück zu bleiben.«

Seth sah meinen Gesichtsausdruck und beeilte sich zu erklären: »Ja, Jake – ich wollte nur mal sehen, ob mit dir alles in Ordnung ist, weil du dich überhaupt nicht zurückverwandelt hast. Leah hat sich Sorgen gemacht. Ich hab ihr gesagt, dass du bestimmt bloß als Mensch eingepennt bist, aber du kennst sie ja. Na ja, und dann gab es hier so viel zu essen und, verflucht« – er wandte sich zu Edward –, »du kannst ja vielleicht kochen.«

»Danke«, murmelte Edward.

Ich atmete langsam ein und versuchte meine Zähne voneinander zu lösen. Ich konnte den Blick nicht von Seths Arm wenden.

»Bella war kalt«, sagte Edward leise.

Ach ja. Außerdem ging mich das auch gar nichts an. Sie gehörte mir ja nicht.

Seth hatte Edwards Bemerkung gehört, sah mein Gesicht und brauchte plötzlich beide Hände zum Essen. Er nahm den Arm von Bellas Schultern und haute rein. Ich ging zu ihnen, blieb ein Stück vor dem Sofa stehen und versuchte immer noch, die Fassung wiederzufinden.

»Läuft Leah Patrouille?«, fragte ich Seth. Meine Stimme war immer noch verschlafen.

»Ja«, sagte er kauend. Auch er hatte neue Kleider an. Sie passten ihm besser als meine mir. »Sie hat alles im Griff. Keine Sorge. Wenn irgendwas ist, heult sie. Gegen Mitternacht haben wir getauscht. Da hatte ich zwölf Stunden hinter mir.« Man merkte, dass er stolz darauf war.

»Mitternacht? Moment mal – wie spät haben wir jetzt?«

»Früher Morgen.« Er schaute prüfend aus dem Fenster.

»Oje, Morgen.« Ich hatte den Rest des Tages und die ganze Nacht verschlafen – dumm gelaufen. »Mist. Tut mir leid, Seth. Echt. Du hättest mich wach rütteln sollen.«

»Ach was, du musstest mal richtig ausschlafen. Seit wann hast du durchgemacht? Seit der letzten Wache, die du für Sam geschoben hast? Vierzig Stunden? Fünfzig? Du bist keine Maschine, Jake. Außerdem hast du überhaupt nichts verpasst.«

Nichts? Ich schaute kurz zu Bella. Ihre Gesichtsfarbe war wieder normal. Blass, aber mit einem rosigen Hauch. Ihre Lippen waren auch wieder rosa. Selbst ihre Haare sahen besser aus, glänzender. Sie sah meinen anerkennenden Blick und grinste.

»Was macht die Rippe?«, fragte ich.

»Schön wieder zusammengeklebt. Ich merk sie gar nicht.«

Ich verdrehte die Augen. Ich hörte, wie Edward mit den Zähnen knirschte, bestimmt nervte ihn ihre Art, die Sache herunterzuspielen, genauso wie mich.

»Was gibt’s zum Frühstück?«, fragte ich ein wenig sarkastisch. »0 negativ oder AB positiv?«

Sie streckte mir die Zunge heraus. Sie war wieder ganz die Alte. »Omelett«, sagte sie, aber sie senkte den Blick, und ich sah, dass die Tasse mit Blut zwischen ihrem und Edwards Bein klemmte.

»Hol dir auch was zum Frühstück, Jake«, sagte Seth. »In der Küche steht jede Menge. Du musst einen Bärenhunger haben.«

Ich schaute mir das Essen auf seinem Schoß an. Sah aus wie ein halbes Käseomelett und der Rest einer mindestens frisbeescheibengroßen Zimtschnecke. Mein Magen knurrte, aber ich ignorierte es.

»Was isst Leah zum Frühstück?«, fragte ich Seth vorwurfsvoll.

»Hey, ich hab ihr was zu essen gebracht, bevor ich auch nur einen Bissen angerührt hab«, verteidigte er sich. »Sie sagte, da würde sie noch eher ein totgefahrenes Tier essen, aber ich wette, ihr hat der Magen geknurrt. Diese Zimtschnecken …« Ihm fehlten offenbar die Worte.

»Dann geh ich mit ihr auf die Jagd.«

Seth seufzte, als ich mich zum Gehen wandte.

»Wartest du mal einen Moment, Jacob?«

Das war Carlisle, deshalb war meine Miene, als ich mich umdrehte, wohl weniger respektlos, als sie es sonst gewesen wäre.

»Ja?«

Carlisle kam zu mir, während Esme ins Nebenzimmer ging. Er blieb ein Stück von mir entfernt stehen, so dass der Abstand zwischen uns etwas größer war, als er normalerweise zwischen zwei Menschen ist, die miteinander reden. Ich rechnete es ihm hoch an, dass er Distanz hielt.

»Apropos Jagd«, begann er düster. »Das wird für uns allmählich ein Problem. Wenn ich es richtig verstehe, ist unser ursprünglicher Waffenstillstand im Moment außer Kraft, deshalb hätte ich gern deinen Rat. Wird Sam außerhalb des Umkreises jagen, den du abgesteckt hast? Wir wollen nicht das Risiko eingehen, jemanden aus deiner Familie zu verletzen – oder einen von uns zu verlieren. Wie würdest du vorgehen, wenn du in unserer Haut stecken würdest?«

Ich beugte mich zurück, ein wenig überrascht, dass er mich um Rat fragte. Was wusste ich schon, wie es war, in der versteinerten Haut eines Blutsaugers zu stecken? Aber er hatte Recht, ich kannte Sam.

»Es ist riskant«, sagte ich und versuchte die Blicke der anderen zu ignorieren. »Sam hat sich zwar ein wenig beruhigt, aber ich bin mir sicher, dass der Vertrag in seinen Augen ungültig ist. Solange er glaubt, dass der Stamm oder irgendein Mensch in Gefahr ist, wird er nicht lange fragen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Allerdings geht es ihm vor allem um La Push. Sie sind nicht genug, um die Menschen dort zu bewachen und gleichzeitig eine große Jagd zu veranstalten. Ich wette, er entfernt sich nicht sehr weit von zu Hause.«

Carlisle nickte gedankenverloren.

»Also ich würde sagen, zieht sicherheitshalber lieber zusammen los. Und vielleicht besser tagsüber, denn sie würden eher nachts damit rechnen. Wie es bei Vampiren üblich ist. Ihr seid schnell – verschwindet über die Berge und jagt möglichst weit weg; so weit würde er niemanden schicken.«

»Und Bella ohne jeden Schutz hierlassen?«

Ich schnaubte. »Und was sind wir, Leberknödel etwa?«

Carlisle lachte, dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Jacob, du kannst nicht gegen deine Brüder kämpfen.«

Ich machte die Augen schmal. »Ich sag ja nicht, dass es einfach wäre, aber wenn sie wirklich kommen würden, um sie zu töten – dann könnte ich sie aufhalten.«

Carlisle schüttelte besorgt den Kopf. »Nein, ich habe nicht gemeint, dass du … das nicht schaffen würdest. Aber es wäre ganz und gar verkehrt. Das kann ich nicht auf mich nehmen.«

»Sie wären nicht dafür verantwortlich, Doc. Es wäre ganz allein meine Verantwortung. Und die kann ich übernehmen.«

»Nein, Jacob. Wir werden sicherstellen, dass es nicht so weit kommt.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Wir werden jeweils zu dritt gehen«, entschied er dann. »Das ist vermutlich das Beste, was wir tun können.«

»Ich weiß nicht, Doc. Sich aufzuteilen, ist nicht die beste Strategie.«

»Wir haben einige zusätzliche Fähigkeiten, die das ausgleichen. Wenn Edward mitkommt, kann er uns einen Sicherheitsradius von einigen Kilometern verschaffen.«

Wir schauten beide zu Edward. Als Carlisle seinen Gesichtsausdruck sah, machte er schnell einen Rückzieher.

»Es gibt auch noch andere Möglichkeiten«, sagte er. Im Moment war der Durst offenbar noch nicht so groß, dass man Edward von Bella wegbekommen hätte. »Alice, du könntest doch sicher sehen, welche Routen wir vermeiden sollten?«

»Die Routen, die verschwinden«, sagte Alice und nickte. »Das ist leicht.«

Edward, der sich bei Carlisles erstem Plan verkrampft hatte, entspannte sich jetzt wieder. Bella sah Alice unglücklich an, sie hatte die vertraute kleine Falte zwischen den Augen.

»Also gut«, sagte ich. »Dann wäre das geregelt. Ich mach mich jetzt mal auf den Weg. Seth, gegen Abend übernimmst du wieder, also halt zwischendurch ein Nickerchen, okay?«

»Klar, Jake. Ich verwandle mich, sobald ich aufgegessen habe. Es sei denn …« Er zögerte und schaute zu Bella. »Brauchst du mich noch?«

»Sie hat Decken«, fuhr ich ihn an.

»Ich komme zurecht, Seth, danke«, sagte Bella schnell.

Und dann flitzte Esme ins Zimmer, einen großen zugedeckten Teller in der Hand. Hinter Carlisles Ellbogen blieb sie zögernd stehen und sah mich mit ihren großen, dunkelgoldenen Augen an. Sie streckte den Arm mit dem Teller aus und trat schüchtern einen Schritt näher.

»Jacob«, sagte sie leise. Ihre Stimme war nicht ganz so durchdringend wie die der anderen. »Ich weiß, dass die Vorstellung … unappetitlich für dich ist, hier zu essen, wo es so unangenehm riecht. Doch ich wäre sehr beruhigt, wenn du ein wenig Essen mitnehmen würdest. Ich weiß, dass du nicht nach Hause kannst, unseretwegen. Bitte – erleichtere mein Gewissen ein wenig. Nimm etwas zu essen.« Sie hielt mir den Teller hin, ihre Miene weich und bittend. Ich wusste nicht, wie sie es anstellte, denn sie sah nicht älter aus als Mitte zwanzig und sie war kalkweiß wie die anderen, aber irgendetwas an ihr erinnerte mich plötzlich an meine Mutter.

Himmel.

»Hm, ja, klar«, murmelte ich. »Warum nicht. Vielleicht hat Leah ja noch Hunger oder so.«

Ich nahm den Teller mit einer Hand und hielt ihn auf Armeslänge von mir. Ich würde das Zeug unter einen Baum kippen oder so. Ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen.

Da fiel mir Edward ein.

Wehe, du sagst irgendwas! Lass sie im Glauben, dass ich es gegessen hab.

Ich schaute ihn nicht an, um zu sehen, ob er einverstanden war. Ich wollte es ihm geraten haben. Der Blutsauger war mir etwas schuldig.

»Danke, Jacob«, sagte Esme und lächelte mich an. Wie zum Teufel konnte ein Gesicht aus Stein Grübchen haben?

»Ja, danke«, sagte ich. Mein Gesicht fühlte sich heiß an – heißer als sonst.

Das war das Problem, wenn man so viel mit Vampiren zusammen war – man gewöhnte sich an sie. Auf einmal sah man die Welt mit anderen Augen. Sie fühlten sich an wie Freunde.

»Kommst du nachher noch mal, Jake?«, fragte Bella, als ich mich gerade davonstehlen wollte.

»Hm, weiß ich noch nicht.«

Sie presste die Lippen zusammen, als ob sie sich ein Lächeln verbeißen müsste. »Bitte? Vielleicht fange ich wieder zu frieren an.«

Ich holte tief Luft und merkte zu spät, dass das keine gute Idee war. Ich zuckte zusammen. »Mal sehen.«

»Jacob?«, sagte Esme. Ich ging zur Tür, während sie sprach, sie lief mir ein paar Schritte hinterher. »Auf der Veranda steht ein Korb mit Kleidern. Sie sind für Leah. Sie sind frisch gewaschen – ich habe sie so wenig angefasst wie möglich.« Sie zog die Stirn in Falten. »Könntest du sie ihr bringen?«

»Mach ich«, murmelte ich, und dann huschte ich zur Tür hinaus, bevor sie mich noch mehr beschämen konnten.