Kapitel 18

 

 

 

In der nächsten Nacht wiederholte Lysandra den Versuch, die Pforte zur Unterwelt zu öffnen – jedoch wieder erfolglos. Als auch in der dritten Nacht nichts geschah, verließ Lysandra, trotz Cels und Aelfthryds Zusprache, vollends der Mut. Sie schlief nachts unruhig und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Noch immer teilte sie sich einen Raum mit Cel, Sirona und Aiolos, da nicht genügend Platz vorhanden war für Einzelquartiere. Die Hütte barg zwei weitere Räume, die durch Zwischenwände von ihrer Unterkunft getrennt waren. In einer ruhten einige Ruderer der Tanith und in der anderen schliefen Hiram; Hamilkar und Belzzasar. Der Rest der Mannschaft war auf einige andere Langhäuser verteilt.

Lysandra gefiel es nicht, dass sie den Winter hier verbringen mussten. Andererseits hatte sie dadurch Zeit, sodass Cel und Sirona sie keineswegs unter Druck setzen mussten, die Pforte ins Jenseits zu öffnen. Sie erhob sich und hockte sich vors Feuer. Dort biss in ein Stück Gerstenbrot und schluckte es mit etwas Weizenbier herunter, das leicht nach Honig schmeckte. Sie sah den Rauchschwaden nach, die mit langen Geisterfingern gen Decke zogen.

Unterhalb des Giebels gab es zwei kleine Oberlichte, die auch dem Rauchabzug dienten. Das hierdurch hineinfallende Mondlicht genügte ihr, um sich orientieren zu können. Sie legte einige kleine Buchenscheite nach und beobachtete, wie die Flammen sie umzüngelten und schließlich ergriffen, um sie zu Asche zu verwandeln. So vergänglich war alles, wie dieses Holz.

Sie fröstelte, obwohl es nicht kalt war. Sie blickte hinüber zu ihren Zimmergenossen. Während Aiolos sich die Decke über den Kopf gezogen hatte, ergoss sich Cels Haar silbernschimmernd über die Strohmatratze. Sein Gesicht war ihr abgewandt, doch sah sie einen Teil seines muskulösen Rückens, seiner Schultern und einen Arm. Der Widerschein des Feuers überzog seine Haut mit einem goldenen Ton.

Lysandra wandte ihren Blick ab. Die Einrichtung war auf das Notwendigste beschränkt. Es gab getrennte Wohnbereiche zum Kochen, Essen und Schlafen. Die Feuerstelle lag unweit von den Schlafplätzen. Sie war umgeben von Steinen zum Zwecke des Brandschutzes und kleinen Holzblöcken, die als Hocker dienten. Eine Tierhaut war oberhalb der Feuerstelle unter den Dachbereich gespannt, um die Funken abzufangen. Dennoch bestand kaum ein Risiko, dass das mit Stroh, Rinde und Holzschindeln gedeckte Dach abbrennen würde, denn es regnete hier weitaus häufiger als in Delphoí. In einer Nische standen Küchenutensilien und Vorräte bereit.

Ihre Reservekleidung und Celtillos’ Halsreifen hatte Lysandra mit Cels Einvernehmen nahe der Stelle, wo sie sich auf der Grasfläche geliebt hatten, vergraben, bevor sie das ihnen geliehene Haus aufsuchten.

Es war eine einfache Hütte – Lysandra hatte größere und schönere hier gesehen –, aber sie war komfortabel und keineswegs schlechter als das Haus ihrer Ziehmutter in Delphoí, nur eben anders und ungewohnt. Auch das Brot war nicht schlechter. Gewöhnungsbedürftig waren für sie die Breie aus Bohnen, Getreide, Kräutern und sonstigen undefinierbaren Zutaten, doch waren sie genießbar und sättigten schnell.

Lysandra starrte wieder ins Feuer, da ergriff eine seltsame Ruhe ihren Geist. Sie spürte, wie ihre Kräfte sich sammelten. Es war Vollmond. In diesen Nächten war sie immer unruhiger als sonst. Womöglich machte er ihr an diesem Ort mehr zu schaffen als in Delphoí. Es musste am Wetter liegen oder an der Nähe zum Meer.

Womöglich gelang es ihr heute Nacht, das Jenseitsportal zu öffnen, wenn sie sich möglichst unbeobachtet wähnte. Die Zuschauer waren es gewesen, die ihre Aufmerksamkeit zerstreuten. Sie würde es versuchen. Das Schlimmste, was geschehen konnte, war, erneut zu versagen. Wo war in den vergangenen Nächten ihr alter Kampfgeist geblieben? Sie, die allein einem Drachen gegenübergetreten war!

Diese Nacht sollte es sein, das wusste sie plötzlich. Sie erhob sich und wandte ihre Schritte in Celtillos’ Richtung. Lysandra beugte sich zu ihm hinab und berührte zögerlich seine Schulter. Sie fühlte sich kühl und unsagbar weich an. Wie herrlich er duftete, nach Kräutern, Leder und Mann. Leise sprach sie zu ihm, da sie nicht wollte, dass Aiolos ebenfalls erwachte. Cel drehte sich zu ihr um und öffnete die Augen. Sekundenlang starrte er sie an.

Schließlich runzelte er die Stirn. »Ein Angriff?«

»Nein. Ich werde heute Nacht versuchen, das Tor ins Jenseits zu öffnen.«

»Ein nächtlicher Überraschungsvorstoß, welch guter Einfall. Womöglich schlafen dann noch alle dort drüben.«

Lysandra schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob die im Totenreich überhaupt ruhen. Ich glaube nur, dass ich es diesmal schaffen kann.«

»Allzu siegesgewiss hörst du dich nicht an. Schlachten wurden verloren, weil man nicht an den Sieg glaubte.«

»Hybris hat dasselbe bewirkt. Man muss wohl den Mittelweg finden.«

»Wohl wahr, doch darum geht es heute nicht. Gehen wir, bevor Aiolos oder einer der anderen aufwacht. Ich brauche niemanden von ihnen dazu. Sie wären uns nur im Weg. Wo ist Sirona?«

Lysandra hob die Achseln. »Weiß ich nicht.«

»Ohne sie gehe ich nicht. Sie muss mit dabei sein.« Cel schien um sie besorgt zu sein.

»Wir werden sie finden.«

Er hob eine Augenbraue. »Jetzt nachts?«

Lysandra antwortete nicht, sondern öffnete die Tür. Ein Streifen Mondlicht fiel ins Haus. Sie trat hinaus. Tiefe Schatten lagen unter den Bäumen. Der Duft nach frischer Erde und Heu wehte ihr mit dem kühlen Wind entgegen. Nebel wogte um die Häuser, eine feuchte Spur auf ihrer Haut hinterlassend. Mit gedämpfter Stimme rief sie Sironas Namen.

Cel kam hinter ihr aus dem Haus. Er trug das Bündel mit den Nahrungsmitteln, das er mit in die Unterwelt zu nehmen gedachte. Wobei Lysandra das Essen für ihr geringstes Problem hielt, sollten sie diesen Ort der Düsternis je erreichen – und lebend daraus zurückkehren.

Leise schloss Cel die Tür. Sirona erschien so plötzlich aus dem wogenden Nebel, dass Lysandra erschrak.

»Schleiche dich nicht so an. Du hast mich ganz schön erschreckt.«

Sirona schnaubte. »Wenn du so schreckhaft bist, dann bist du vielleicht nicht die Richtige für diese Aufgabe.«

»Ihr habt niemand anderen gefunden, der irrsinnig genug ist, um euch bei diesem Selbstmordkommando zu helfen. Also beschwert euch nicht.« Sie verstand Sironas Anspannung, dennoch würde sie nicht so mit sich reden lassen.

»Das hätten wir vielleicht, doch du hast recht: Uns läuft die Zeit davon. Außerdem ist es nicht Selbstmord. Dies wäre es, würden wir es nicht tun. Du weißt ja selbst, wie viele Menschen Cel in Delphoí nach dem Leben getrachtet haben. Eines Tages hätten sie womöglich Erfolg gehabt.« Sironas Blick zeigte Verdrossenheit.

»Schon gut. Ich bin freiwillig hier. Anders hättet ihr mich auch nicht bekommen. Außerdem hast du recht damit, dass sie ihn eines Tages getötet hätten.«

»Lasst uns gehen. Mit Reden allein hat noch keiner etwas erreicht«, sagte Cel. Sein Oberleib war nackt. Er hatte nur Beinkleider angezogen und seine ledernen Schuhe. Die restliche Kleidung vermutete Lysandra in seinem Bündel. Seine Muskeln waren deutlich sichtbar unter der im Mondlicht schimmernden Haut. Wie glatt sie war. Lysandra widerstand nur mit Mühe der Versuchung, ihre Hände über seinen Leib gleiten zu lassen, ihn überall zu berühren, die feuchte Hitze seines Mundes zu kosten und ihre Finger in sein weiches Haar zu vergraben.

Als hätte er ihre Gedanken erahnt, beugte er sich zu ihr vor und presste seine Lippen hart auf die ihren. »Ich möchte dich noch einmal küssen.« Sein Atem liebkoste ihren Mund. Sie wusste um die unausgesprochenen Worte, die dahinter lagen: Ich möchte dich küssen, falls wir diese Nacht nicht überleben. Damit ich dich noch ein letztes Mal gespürt habe.

Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und vertiefte seinen Kuss.

»Sirona«, sagte Lysandra, als er sie wieder zu Atem kommen ließ.

»Sie wird es verstehen.« Erneut küsste er sie. Seine Zunge umspielte ihre Lippen und schob sich zwischen sie. Seine feuchte, männliche Hitze ließ sie erbeben. Tief sog sie seinen Duft ein, diese herbe Mischung aus Leder, Gräsern und Mann. Seine Brustmuskulatur fühlte sich hart an unter ihren Händen. Sie streichelte seine Haut, woraufhin er erbebte. Leise sprach er ihren Namen, flüsterte Zärtlichkeiten in jener fremden Sprache in ihr Ohr. Allein am Tonfall erkannte sie den Inhalt.

»Lasst uns gehen«, sagte Lysandra, das unbestimmte Gefühl drohender Gefahr von sich weisend. Es würde sie nicht weiterbringen, sich von ihrer Aufgabe einschüchtern zu lassen. Es waren bereits vor ihnen Menschen aus dem Jenseits zurückgekehrt. Manche davon hatten sogar noch gelebt.

Cel nickte. Seine Lippen waren geschwollen von ihren Küssen und seine Augen wirkten dunkler als sonst, verhangen vor Leidenschaft. Sirona hockte neben ihnen, ihr Gesicht war halb abgewandt. Wie mochte sie sich fühlen, dies nie mehr zu erleben? War sie überhaupt jemals geküsst worden? Musste sie sterben, ohne die Liebe und Zärtlichkeiten eines Mannes erleben zu dürfen?

Ein Klumpen bildete sich in Lysandras Hals, den sie auch durch mehrmaliges Schlucken nicht loswurde.

»Ja, lasst uns gehen«, wiederholte Cel ihre Worte. Sie machten sich auf durch die finstere Nacht in eine noch dunklere Zukunft. Sirona war wie ein Lichtfleck, den der Nebel beinahe verschluckte. Sie sprang durch das hohe, taubenetzte Gras. Meeresduft drang zu ihnen herüber, getragen vom Nachtwind. Bald sahen sie die Umrisse der bedrohlich wirkenden Granitfelsen. Schäumend zerbarsten die Wellen an den Klippen und entließen einzelne Gischtfontänen. Vereinzelt ragten Felsen aus dem Wasser, zerklüftet zu eigentümlichen Formationen im Laufe der Jahrtausende.

Wild und unvergänglich war die raue Schönheit dieser Landschaft, unbezähmt und unberechenbar das Meer. Lysandra fühlte sich bezwungen von der Schwere der Zeit, die hier in einem anderen Rhythmus zu vergehen schien. Ein Teil der Vergangenheit war hier präsent und die Zukunft ließ sich erahnen. Diese Küste würde immer bestehen im ewigen Tanz mit Wind und Wellen.

»Wusstet ihr, dass es hier Höhlen gibt?«, fragte Sirona. »Ich habe einige davon erforscht.«

Cel sah sie streng an. »Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht allein so weit fortgehen sollst.«

Lysandra legte ihm beschwichtigend ihre Hand auf den Arm. »Sprach die Pythia nicht von Höhlen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Wie komme ich dann auf Höhlen?« Sie grübelte und grübelte. Endlich erinnerte sie sich. »Es war in den Erzählungen der Alten, als wir in Delphoí vor den Feuerstellen saßen. Sie sagten, die Tore zur Unterwelt seien in Höhlen zu finden.«

»Möglich«, sagte er. »Ob sich jedoch alle von Menschen öffnen lassen, ist allerdings unklar. Schon gar nicht von den meisten Menschen.«

»Führe uns zu den Höhlen. Ich will es darin versuchen«, sagte Lysandra zu Sirona.

Die Katze lief voran, sah sich jedoch immer wieder um, ob sie ihr folgten. Augentrost und Erika ragten zwischen Grasbüscheln und Flechten empor. Cel, Lysandra und Sirona kletterten über die zerklüfteten Granitfelsen. Das Tosen des Meeres wurde immer lauter. Der Wind zog an Lysandras Haar und ihrem Gewand. Sie bereute es, sich keinen Zopf gebunden zu haben. Die Vegetation wurde immer kärglicher, je näher sie dem Meer kamen. Nur das blassviolette Heidekraut schien überall zu wachsen.

Die Felsen wurden glitschig. Wohl brachte der Wind die Feuchtigkeit mit sich. Mühsam kletterte Lysandra ihren Gefährten nach. In der Ferne glaubte sie, ein paar Schafe blöken zu hören, dann vernahm sie nur noch das Rauschen der Wellen und die Geräusche, als diese sich an den Klippen brachen.

»Wir sind dem Irrsinn verfallen«, sagte Lysandra aufgrund der sich verschlechternden Sichtverhältnisse. Beinahe wäre sie ausgeglitten auf dem Felsen und in die Tiefe gestürzt. Wie tief es von hier aus war, wusste sie gar nicht. Sie hoffte, dass Sironas Orientierungssinn sie nicht im Stich lassen würde.

»Wir sind gleich da«, sagte Sirona. »Dies ist eine besondere Höhle. Sie ist irgendwie anders, doch fragt mich nicht, warum.«

Lysandra hielt inne, um zu Atem zu kommen und noch einmal hinauszusehen aufs Meer, dessen Wellen vom Mondlicht silbrig übergossen wurden. Als sie ihren Blick zu Sirona wandte, die bereits im Höhleneingang stand, erkannte sie hinter ihr nur Schwärze. Undurchdringlich und geheimnisvoll.

»Wir hätten eine Lampe oder eine Fackel mitnehmen sollen«, sagte sie.

»Ob diese im Wind nicht verloschen wäre?«, fragte Sirona.

Lysandra wusste es nicht, doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestand, dass Sirona recht hatte. Sie trat auf Sirona zu. Wie tief mussten sie in diese Höhle hinein, um das Tor zur Unterwelt zu finden? Sofern dieses sich überhaupt hier befand.

Plötzlich rollten kleine Kiesel in der Nähe des Höhlenausgangs vorbei. Sie vernahm leise Schritte.

»Was machst du hier?«, fragte Cel.

»Das lasse ich mir doch nicht entgehen«, vernahm sie Aiolos’ Stimme. Lysandra schnaubte. Da machten sie sich mitten in der Nacht auf eine halsbrecherische Reise, um möglichst wenige Zeugen um sich zu scharen und wurden dennoch verfolgt. Wie viel hatte der Seher mitbekommen von ihren Gesprächen mit Cel und ihren … Küssen?

Glücklicherweise war es nicht zu mehr gekommen als Küssen. Wohl auch nur dank Sironas Anwesenheit. Wäre sie jedoch später gekommen, wäre auch mehr möglich gewesen.

»Was denkt ihr, warum ich diese für mich beschwerliche Reise durch die halbe Welt auf mich genommen habe? Ich hätte in Karthago von Bord gehen können oder in Hippo, wo eine Großtante von mir wohnt.«

»Warum hast du es dann nicht getan?«, fragte Sirona.

»Weil ich mit in die Unterwelt will.«

Cel schüttelte den Kopf. »Du musst des Wahnsinns sein.«

»Das vielleicht, doch wissbegierig ganz sicher.«

»Neugierde war schon so manches Menschen Tod«, sagte Sirona.

»Und ihre Abwesenheit der Tod ebenso vieler!« Lächelnd trat Aiolos näher. »Ich müsste ein Narr sein, mir diese im Leben einmalige Gelegenheit entgehen zu lassen. Großes Wissen liegt verborgen in den Tiefen der Erde und den Abgründen der Unterwelt.«

»Ebenso der Tod und die Ewigkeit in Düsternis und Schatten. Des Menschen Seele ist nicht mehr als ein Hauch, sein Selbst verblasst in grauer Monotonie«, sagte Cel.

Aiolos lachte. »Du lernst schnell, Keltoi, und du weißt viel über die Mythen der Hellenen.«

»Notgedrungen. Unwissenheit wäre manchmal eine Gnade.«

»Ich brauche Stille«, sagte Lysandra. Sie trat noch einige Schritte weiter in die Dunkelheit, bis ihr Gesicht völlig im Schatten lag. Es roch hier jedoch wider Erwarten nicht muffig, obwohl die Luft feucht war. Es duftete nach Moosen, Flechten und dem Meer, das sich unweit von ihnen unten am Riff in sprühender Gischt brach.

Obwohl das Schlagen der Wellen laut war, störte es Lysandra nicht, sondern bestärkte sie in ihrer Konzentration. Cel und Aiolos waren ebenfalls in die Höhle gekommen. Sie standen schweigend in der Nähe des Ausgangs, dennoch spürte sie keine erwartungsvollen Blicke auf sich. Sirona befand sich vor ihr in der Dunkelheit. Wäre sie nicht schneeweiß, so hätten die Schatten sie längst verschlungen.

Lysandra wandte ihr Gesicht der Dunkelheit zu. Ein Instinkt trieb sie dazu, ihre Augen halb zu schließen. Tief sog sie die feuchte Luft ein.

Plötzlich wurde es noch kühler und dunkler. Der Nebel kam langsam und verdichtete sich immer mehr. Seine feuchtkalten Finger berührten Lysandras Gesicht, wogten in feinen Schlieren um ihren Leib und sponnen sie ein.

»Folgt mir!«, sagte sie, da sie das Gefühl hatte, dass der richtige Moment gekommen war.

Sie vernahm die Schritte der Männer hinter sich. Die Katze bewegte sich nahezu lautlos und war nur als heller Schemen sichtbar. Bald hüllte der Nebel sie alle ein.

»Er kommt mir lebendig vor«, sagte Aiolos.

Lysandra hatte denselben Eindruck, wollte aber dennoch nicht sprechen, denn der Zauber des Augenblicks hielt sie umfangen. So etwas hatte sie niemals zuvor in ihrem Leben erfahren. Langsam durchschritt sie den immer dichter werdenden Nebel. Bald sah sie ihre Hand nicht mehr vor den Augen. Vernähme sie nicht die Schritte hinter sich, würde sie befürchten, allein zu sein. Ein Gefühl der Beklommenheit beschlich sie.

Dann kam der Fall. Es war, als würde sie ins Nichts stürzen, in einen bodenlosen Abgrund, obwohl sie noch immer unverändert den kalten Stein unter ihren Füßen spürte. Der Augenblick währte nur kurz. Endlich sah Lysandra Licht, kein helles Sonnenlicht, sondern diffuses Zwielicht. Da sie weiterhin die Schritte hinter sich vernahm, wandte sie sich nicht um, sondern lief dem Licht entgegen. Sie erreichte den Ausgang der Höhle.

Schwarze Pappeln und alte Weiden wiegten sich in einem Wind, der aus keiner Richtung zu kommen schien und auch keine richtige Kraft hatte. Er drehte sich mal hierhin und mal dorthin. Dennoch war er stark genug, um die Samen von den Weiden zu lösen und über den Boden zu verstreuen.

Der Himmel war von undefinierbarer Farbe. Weder war es sonnig noch düster, am ehesten konnte Lysandra es mit dem Wort »diffus« beschreiben. Unklar. Verschwommen. Unwirklich.

»Das muss Persephones Grotte gewesen sein, durch die wir diese Welt betreten haben«, sagte Aiolos, der von ihnen allen am meisten über diese Dinge wusste.

Vor ihnen erstreckte sich ein Wald aus Weiden, Erlen und vom Winde gebeugten Pappeln. Ein steinerner Pfad wand sich durch die Wildnis. Sirona ging voran, als hätte sie es eilig, ihrer Katzengestalt zu entfliehen. Trotz ihrer felinen Schönheit würde es für sie gewiss wie ein neues Leben sein, endlich ihren menschlichen Leib zurückzuerlangen.

Der Herbst war hier weiter vorangeschritten als auf der anderen Seite von Persephones Grotte. Der Boden wirkte trockener. Bis auf das Rauschen des Windes und dem fernen Tosen eines Gewässers war es still hier. Kein Vogel sang, kein Tier regte sich.

Doch erkannte Lysandra in der Ferne menschenähnliche Gestalten, die seltsam blass, blutleer und durchscheinend wirkten. Auf ihren Gesichtern zeigten sich Verzweiflung und Resignation.

»Dies«, sagte Aiolos, »sind die Seelen derer, die nicht begraben wurden oder die den Fährmann nicht bezahlen konnten.«

Eine erschreckende Vorstellung.

Links von ihnen erhob sich ein zerklüfteter, flechtenbewachsener Felsen. Dahinter befanden sich zwei schwarze Flüsse. Aus einem von ihnen züngelnden Flammen empor. Beide wurden zu Wasserfällen, die sich zu einem dunklen, reißenden Strom vereinigten, in dessen Mitte sich eine große Insel befand, die jedoch völlig versumpft wirkte. Das Land dahinter ließ sich kaum erahnen im von wogenden Dunstschwaden durchzogenen Licht.

»Wo sind wir dann, wenn nicht in der Unterwelt?«, fragte Lysandra Aiolos.

»In jenem Ort dazwischen, im Hain der Persephone. Wie friedvoll es hier ist. Oh, welch wunderschöne Ulme.« Aiolos lief auf den gigantischen, uralt aussehenden Baum zu.

»Was hängt dort unter den Blättern? Nein, an den Ästen? Fledermäuse!« Aiolos sah sich die Kreaturen genauer an und erbleichte. Wortlos bedeutete er seinen Gefährten, zu ihm zu kommen. Als sie bei ihm waren, deutete er auf eine der Fledermäuse. »Diese Kreatur hatte kurz ihre Augen geöffnet.« Aiolos’ Stimme klang atemlos.

Lysandra trat neben ihn. In diesem Moment öffnete die Fledermaus erneut die Augen, die waren wie schwarze Spiegel. Leblos und kalt, doch zeigten sich Bilder darin und zogen über die Pupillen.

»Bei Hera und Persephone«, entfuhr es Lysandra. Sie erkannte Ereignisse in den Augen der Fledermaus. Ob es vergangene oder künftige waren, vermochte sie nicht zu sagen.

»Sieh dir das an«, sagte Aiolos.

Sie wandte ihren Blick der anderen Fledermaus zu, auf die er jetzt deutete, und erkannte darin den Albtraum, der die gesamte Mannschaft der Tanith heimgesucht hatte. »Dann sind dies Wahrträume, die zukünftige Ereignisse zeigen?«

Aiolos schüttelte den Kopf. »Nein, es sind die falschen Träume, die an diesem Baum hängen.«

»Woher weißt du das?«, fragte Lysandra.

»Nur so ein Gefühl.«

»Wie beruhigend.«

Sie liefen vorbei an zahlreichen Bäumen, doch keiner war so prachtvoll wie diese Ulme. Womöglich war sie verzaubert. Lysandra würde es nicht wundern.

»Seht dort, Charon, der Fährmann«, sagte Sirona, die voran lief.

Lysandra hob eine Augenbraue. Tatsächlich stand dort Charon, dessen Hände auf dem Ruder lagen und dessen graubärtiges Kinn darauf gestützt war.

»Irgendwie habe ich mir Charon anders vorgestellt. Der sieht doch aus wie ein Tattergreis«, sagte Sirona.

Charon starrte finster zu ihnen herüber. »Das habe ich gehört!«

»Verzeiht ihr, werter Charon«, sagte Aiolos. »Sie ist noch recht jung und weiß nicht, was sie sagt. Könntet Ihr uns freundlicherweise zur anderen Seite bringen?«

Charon warf einen bösen Blick zu Sirona. »Was habt ihr mit dem Katzenvieh vor? Hades mag die Biester nicht. Sie zertrampeln immer seine Blumen.«

»Ich bin kein Katzenvieh!«

»Du siehst aber aus wie eines. Oder bist du etwa ein verzauberter Marder?«

»Natürlich nicht!« Sirona hob beleidigt ihr weiß-rosa Näschen.

»Könntet Ihr uns jetzt bitte auf die andere Seite bringen?«, fragte Aiolos erneut.

»Die Überfahrt kostet zehn Drachmen, fünf Stater oder sechzig Oboloi pro Person – ich nehme alle Arten von Münzen, außer natürlich gefälschte.«

»Das ist aber teuer«, sagte Lysandra.

Charon grinste, sodass man bräunliche Zahnstummel sah. »Nur eine Folge der Inflation. Nichts ist umsonst, nicht mal der Tod.«

»Bekommen wir nicht wenigstens Mengenrabatt? Immerhin sind wir zu viert und es ist nur eine Überfahrt nötig«, sagte Cel.

Charon schüttelte den Kopf. »Hier gibts keinen Rabatt. Seht den tosenden Fluss. Denkt Ihr, es wäre einfach, ihn zu überqueren? Und die ganzen Unkosten, um diesen alten Kahn fahrtüchtig zu erhalten.« Er stieß ein meckerndes Lachen aus. »Ihr könnt Euch natürlich zu den Unbegrabenen, den ruhelosen Seelen, gesellen, und auf ewig am Flussufer entlangwandern. Zudem braucht Ihr Euer Geld im Reich des Hades ohnehin nicht mehr.«

Wo er recht hatte …

»Also gut.« Aiolos gab ihm zehn Drachmen. Auch Lysandra und Cel kramten Geld aus ihren Beuteln hervor, bis sie auf dreißig Drachmen kamen, und reichten sie dem gierig grinsenden Fährmann.

»Für die Katze gibt das noch einen Aufpreis.«

»Ich würde sagen, eher eine Ermäßigung, weil sie so klein ist«, sagte Cel.

»Sie könnte mir aufs Boot pissen. Wer zahlt dann die Reinigung, hä?«

Cel trat näher. Er war fast zwei Köpfe größer als Charon und aufgrund seiner Muskeln deutlich breiter. »Ich werfe diesen Zwerg jetzt in den Fluss und rudere selbst hinüber!«

Charon wich tatsächlich vor ihm zurück. »Das erzähle ich Hades. Der wird Euch in den Tartaros verbannen für diese Untat! Jawohl!«

»Das mag sein, aber zuvor werfe ich Euch trotzdem in den Fluss.« Schon packte Cel den strampelnden Charon am Kragen seines schmutziggrauen Gewandes.

Lysandra wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Für vierzig Drachmen könnt Ihr wochenlang jedes Wasch- und Putzweib bezahlen, das Euch gefällt«, sagte sie zu Charon. »Versucht Euch an keinem Wucher, nehmt das Geld und bringt uns über den verdammten Fluss.«

»Also gut, das werde ich tun. Sagt diesem Barbaren nun, dass er mich loslassen soll.«

Cel ließ von ihm ab. Charon fiel der Länge nach hin. Grummelnd erhob er sich. Lysandra, Cel, Sirona und Aiolos stiegen zu ihm in die Barke. Das Gefährt schwankte bedrohlich, als Charon zu rudern begann. Für sein Alter und seine ausgemergelte Gestalt schwang er das Ruder erstaunlich schnell. Das musste an der jahrtausendelangen Übung liegen. Der Fluss war wild. Hohe Wellen tosten.

»Wie heißt dieser Fluss oder ist das ein See?«, fragte Lysandra. »Der ist ja gewaltig.«

»Dies ist die Mitte, der Acheron, in den alles mündet. Die beiden Flüsse, die hier hinabstürzen, sind der Cocytos und der flammende Phlegeton. Schweig jetzt, denn wenn du einen Fremdenführer willst, musst du dafür extra bezahlen. Es wäre aber besser, du lässt mich in Ruhe, denn die Überfahrt ist nicht einfach. Wenn wir hier absaufen, haben wir ein Problem.«

»Oder gar keine Probleme mehr«, sagte Cel mit einem Blick in die gluckernde, reißende, lodernde Flut. »Das ist kein gewöhnliches Wasser.«

»Darauf wäre ich nicht gekommen. Welch aufmerksamer Beobachter du doch bist!« Charon lachte meckernd.

»Aus was besteht es dann?«

»Aus dem Blut eines Dämons, dem Schmerz einer Göttin, den letzten Tränen derer, die ihr Leben vergaßen, dem Atem eines Drachen und den Schwingen eines gefallenen Engels.«

Geschickt umschiffte Charon die Insel aus Morast. Die kahlen schwarzen Äste von Sträuchern und Bäumen ragten in den sumpfgrauen Himmel. Eine derartige Schwärze wie in diesem Land hatte Lysandra niemals zuvor erblickt. Es war eine Dunkelheit, die sämtliches Licht zu verschlingen schien. Ein ewiger Abgrund, ein endloses Hinabstürzen.

Als sie näher herankamen, vernahmen sie es: gequältes Seufzen, Schreie höchster Pein und endloser Agonie. Das langgezogene Wimmern von jenen, die aufgegeben hatten. Das Stöhnen der Verlorenen. Sämtliche Laute des Schmerzes.

Kalte und heiße Schauer liefen über Lysandras Leib, die Schreie und das Stöhnen drangen durch ihr Gebein, ließen es vibrieren vor Angst und der Gewissheit auf ewiges Leid.

Es hallte noch nach, als sie die Insel umrundet und längst hinter sich gelassen hatten. Lysandra konnte nicht anders, als zurück zu dieser endlosen Schwärze zu starren.

Erst als ein süßlicher Duft sie einhüllte, wandte sie ihren Blick dem Land zu, das vor ihnen lag. Das Licht war dort noch diffuser, als wäre das Gebiet von Nebeln umgeben. Außer blassen Grün- und Violetttönen sah Lysandra fast nur Grau und Schwarz. Dennoch lockte sie der süßliche Blumenduft, der von überall her zu kommen schien.

Charon hielt am anderen Ufer an. »Da wären wir.«

Lysandra, Cel, Sirona und Aiolos sprangen aus dem Boot.

Plötzlich vernahm sie ein heiseres Bellen wie aus vielen Kehlen. Das Bellen wurde zu einem Knurren. Dann sah sie ihn, den dreiköpfigen Kerberos, dem Geifer aus den drei zum Angriff aufgerissenen Mäulern lief. Er stand vor einem efeuumrankten Tor. Was sich dahinter befand, war unmöglich auszumachen.

»Seid ich ihr überhaupt tot?«, fragte Charon stirnrunzelnd, den die Reaktion des Höllenhundes sichtlich irritierte.

»Wieso? Ist das denn notwendig?«, fragte Cel.

Charon starrte ihn an. »Ich glaube, das Hundilein ist etwas ungehalten.«

»Ungehalten« war gut. Die gewaltigen Kiefer hatten die Ausmaße von Toren – zumindest kam es Lysandra so vor. Blutlust lag in seinem Blick. Von Hundilein konnte keine Rede sein.

Charon war blass geworden. »Äh, ich fahr dann mal. Wünsche noch einen schönen Aufenthalt.« Er stieß seine Barke mit dem Fuß ab und paddelte eilig davon.

Dreifarbig war der Hund: Einer seiner Köpfe war weiß, einer rotbraun und einer schwarz. Der Rest seines Fells war ebenso dreifarbig, als hätte man drei verschiedene Hunde desselben Wuchses, jedoch von unterschiedlicher Farbe auf grausame Weise miteinander vereint.

Geifer troff aus jedem seiner Mäuler. Er kam direkt auf Lysandra zugeprescht, die glaubte, ihr Herz müsse stehen bleiben. Sie sah sich im Geiste schon am Boden liegen. Zerfleischt, in einer Lache aus Blut.

Lysandra sprang zur Seite, doch nicht schnell genug. Die Kreatur riss sie zu Boden und rannte über sie hinweg. Lysandra rappelte sich auf. Als sie sich umwandte, sah sie die Schlangenfrau Echidna, die den Höllenhund freundlich begrüßte.

»Mein Sohn«, sagte Echidna, die dem Tier liebkosend über die Häupter strich. Kerberos sah sie aus treuen Hundeaugen an und leckte ihr über die Hände und das Gesicht.

An Cels, Aiolos und Sironas Blicken erkannte Lysandra, dass diese ihre eigene Fassungslosigkeit teilten.

Echidna sah Aiolos an. »Nun bin ich dir nichts mehr schuldig. Solltest du allerdings gelogen haben, Phönizier, so werde ich dich jagen, du wirst erlegt werden wie ein Reh vom Jäger. Nun geht schon hinein, bevor sie euch erwischen.« Die Schlangenfrau deutete in die Ferne, wo Gorgonen und Kentauren sich ihnen näherten. Harpyien kamen angeflogen.

Kerberos schien von alledem wenig zu bemerken. Wie ein Schoßhündchen schmiegte er sich an seine Mutter, deren Monsterleib klein und zierlich gegen den seinen wirkte.

»Schnell hindurch, solange das Familientreffen währt«, flüsterte Cel Lysandra zu.

Sie nickte und beeilte sich, durch das efeuumrankte Tor zu treten. Sirona huschte an ihrer Seite hinein, Cel und Aiolos kamen nach ihr.

Über Cels Stirn liefen Schweißtropfen. »Ich glaube es ist soweit.« Er keuchte und sein Atem ging schneller. Auch das noch! Die Verwandlung in einen Greifen setzte ein. Er streifte seine Kleidung ab, die Lysandra an sich nahm. Sein Leib veränderte sich. Federn und Fell sprossen, bis der Greif vor ihnen stand.

»Na wunderbar, damit fallen wir hier mit Sicherheit weniger auf«, sagte Aiolos.

Lysandra verspürte Verärgerung.

»Er kann sich das nicht aussuchen«, sagte Sirona. »Eben deshalb sind wir ja hier oder hast du das bereits wieder vergessen?«

»War nicht so gemeint. Es kommt nur äußerst ungelegen.«

Lysandra ließ ihren Blick schweifen. Alles war wie verblichen: der Himmel, die Wiesen, die Felder und Haine. Ein Wind, der von nirgendwo her zu stammen schien und kein Ziel kannte, bewegte die Zweige der Bäume und Sträucher, die Gräser und Halme und das Gewand der Frau mit dem blutenden Schnitt am Handgelenk. Ihr langes dunkles Haar hing ihr wild ins gräuliche, durchscheinende Gesicht.

»Hier verweilen die Schatten der Selbstmörder, der fälschlich zum Tode Verurteilten und der zu jung Verstorbenen«, sagte Aiolos.

Ein kleines Mädchen in einem Totengewand hockte inmitten einer Blumenwiese. Ihr Gesicht war leichenblass und ihre Augen dunkel umrandet. Sie stopfte sich eine Handvoll hellvioletter Blüten in den Mund und kaute darauf herum, als wäre es das köstlichste Festmahl.

»Sie isst Blumen?«, fragte Lysandra.

»Gewiss tut sie das«, vernahm sie eine tiefe Männerstimme und erblickte den Sprecher, einen auffallend großen, behaarten Mann … in einem Frauengewand aus fließendem Stoff mit einem großzügigen Ausschnitt, der seine Brustbehaarung gut zur Geltung brachte. »Oder wollt Ihr lieber, dass sie Euer Blut trinken? Die Asphodeln sind den Schatten der Toten als Nahrung gegeben.«

Neben dem Mann saß eine auffallend schöne schwarzhaarige Frau auf einem schwarzen, geflügelten Ross, aus dessen Nüstern Rauch quoll.

»Seid gegrüßt. Wer seid Ihr? Wie ein Toter seht Ihr nicht aus«, sagte Lysandra.

»Natürlich bin ich keine Tote. Ich bin Phantasia, die Nymphe der verbotenen Träume«, sagte der Mann und kratzte sich an seinem Dreitagebart. Er deutete auf die dunkelhaarige Frau an seiner Seite. »Und dies hier sind die Nymphe mit dem geheimen Namen und ihr Bruder Areion.«

Die schöne dunkelhaarige Frau, die neben Phantasia auf einem Pferd saß, sah schon eher aus, wie man sich eine Nymphe vorstellte.

»Und wo ist ihr Bruder?«, fragte Cel mit krächzender Stimme.

»Er ist das Pferd!«

Lysandra starrte ihn ungläubig an. »Das Pferd?«

Der fremde Mann ließ seine beringten Finger über seinen behaarten Brustansatz gleiten. »So wahr ich die Nymphe der verbotenen Träume bin.«

»Welcher Träume?«, fragte Lysandra.

Der Mann zwinkerte ihr zu. »Jene, die jeder gerne hat, aber keiner zugibt, sie zu haben. Verzeiht mir, meine Freunde, wenn ich mich jetzt schon verabschiede, doch vielerlei Aufgaben rufen mich. Ich muss verbotene Träume aussenden in alle Himmelsrichtungen.« Der Nympherich wandte sich um und tänzelte mit schwingenden Hüften davon.

Die Nymphe mit dem geheimen Namen zuckte lächelnd mit den Achseln, nickte ihnen zu und galoppierte davon in Richtung des Asphodelnfeldes, wo sich mittlerweile einige der Toten zusammengerottet hatten. In gebührlichem Abstand zu ihnen blieb das geflügelte Ross stehen und zupfte genüsslich an den hellvioletten Blüten.

»Esst nichts in der Unterwelt«, sagte Aiolos, »sonst seid ihr auf ewig an diesen Ort gebunden.«

»Glücklicherweise habe ich einige Vorräte für uns mitgenommen. Nicht, dass ich die Absicht habe, diese Blumen zu essen«, sagte Cel.

»Welch seltsame Nymphe war das?«, fragte Lysandra.

»Wenn der Kerl eine Nymphe ist, dann bin ich Aphrodite höchstpersönlich«, sagte Aiolos. »Vielleicht sind die alle dem Irrsinn verfallen. Kein Wunder, wenn sie hier nur Blumen zu Essen bekommen.«

Cel nickte. »Ein Grund mehr, meine Schwester vor einem vorzeitigen Tode zu erretten.«

Aiolos räusperte sich. »Unterschätzt die Leute hier nicht. Nur weil jemand harmlos oder seltsam aussieht, heißt das nicht, er wäre ungefährlich. Das alles ist mir nicht ganz geheuer.«

»Denkst du, uns?«, fragten Lysandra und Cel wie aus einem Mund.

»Wo finden wir das, was den Zauber brechen soll?«, fragte Sirona.

»Laut Kore im Haus des Todes. Lysandros meinte, damit wäre das Haus des Todes gemeint«, sagte Cel.

Aiolos nickte. »Das vermute ich ebenfalls.«

»Dann sollten wir uns zu diesem Haus auf dem Weg machen«, sagte Sirona, die bereits loslief.

Cel sah sie nachdenklich an. »Ich bezweifle, dass Hades uns gerne dort sehen wird.

»Sehr unwahrscheinlich«, sagte Aiolos, »sehr, sehr unwahrscheinlich. Im Gegenteil werden wir viel Ärger bekommen, wenn er uns aufgreift.«

»Dann wird er uns eben nicht aufgreifen. Hoffentlich erzählen diese Nymphen ihm nicht von unserer Ankunft. Zumindest haben wir ihnen nicht unsere Namen genannt, auch wenn dies unhöflich war.«

Aiolos grinste schief. »Lieber unhöflich als tot.«