Kapitel 7
»Mir ist schlecht«, sagte Aiolos nach einer Weile. Tatsächlich war er ganz blass im Gesicht.
»Sieh auf die Wellen hinaus, das hilft«, sagte Belshazzar, doch Aiolos wurde bleicher und immer bleicher.
»Mir ist so kalt.« Er schlug die Arme um seine Schultern und lehnte sich halb gegen die Reling.
»Pass auf, dass du nicht hinausfällst.« Belshazzar grinste. »Es sind schon einige über Bord gegangen, weil sie sich zu weit hinausgelehnt haben.« Er fuhr sich über das kurze, lockige, grau melierte Haar.
Hiram trat zu ihnen. Er wirkte verärgert. »Jag ihm keine Furcht ein. Mach lieber, dass du an deinen Platz kommst.«
Der Seemann sah ihn einen Moment verwundert an, kurz schien es, als wollte er etwas sagen, doch schließlich ging er davon.
»Du wirst deine Seekrankheit sicher bald überstanden haben«, sagte Hiram zu Aiolos.
Dieser nickte. »Wie lange brauchen wir bis Karthago?«
»Das kommt auf den Wind an und wie lange wir uns in Ziz aufhalten.«
Lysandra sah Hiram an. »Wie navigiert Ihr bei schlechter Sicht oder in der Nacht auf dem Meer, wenn ihr nicht anlegen könnt, auf der Reise nach Belerion etwa?«
Hiram legte die Stirn in Falten. »Nun, das weiß mein Navigator Hamilkar besser als ich. Ich versuche dennoch, es dir zu erklären.« Er deutete nach oben. »Die Sterne werden über den Himmel gezogen. Die Erde hat zwei Achsen, begrenzt von Polen, welche eingefasst sind von zwei Bärinnen, die gemeinsam, jeweils den Kopf an der Hüfte der anderen, rollen und daher auch Wagen genannt werden. Eine der Bärinnen nennen die Hellenen Kynosura, was so viel bedeutet wie ›Hundeschwanz‹, und die andere Helike, ›Kringel‹. Wir segeln auf dem Weg, den Kynosura uns weist, da sie klar und leicht auszumachen ist. Sie erscheint bereits zu Anfang der Nacht groß am Himmel. Andere wiederum, wie die Achaier und die Sidonier vertrauen der Helike. Wenn die Nacht hereinbricht, zeige ich dir die Bärinnen.«
Lysandra war aufgefallen, dass Hiram sie duzte, was sie seltsamerweise nicht störte. Sie wusste auch nicht, woran es lag, doch sie fand ihn von Anfang an vertrauenserweckend und freundlich.
Hiram wandte seinen Blick auf eine Stelle hinter Lysandra. »Gehört die Katze dir?«
Lysandra nickte, denn sie konnte ihm ja kaum von Cels Existenz berichten. Noch nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dieses Geheimnis für die Dauer der gesamten Reise vor ihm wahren zu können. Dennoch wollte sie dies so lange wie möglich tun, zumal sie nicht wusste, wie Hiram und die Mannschaft darauf reagieren würden. Vermutlich würden sie sie aus Furcht vom Schiff jagen.
Hiram lächelte, sodass seine Zähne weiß blitzten im gebräunten, leicht kantigen Gesicht. »Ein wunderschönes Tier. Würdest du es mir verkaufen?«
Lysandra bemerkte Sironas Blick, mit dem diese ihr die schlimmsten Strafen versprach, sollte sie Derartiges auch nur in Betracht ziehen.
»Es ist unverkäuflich.«
»Woher hast du es? Mit solch edlen Katzen würde sich ein Geschäft machen lassen.«
Sirona starrte beleidigt zu ihnen herüber.
»Ein Mann hat sie in meine Obhut gegeben.«
»Ist sie eine gute Jägerin?«
Lysandra nickte. Sirona sträubte ihr Fell. Gewiss war ihr der Gedanke, Mäuse zu fressen, zuwider.
»Ich habe sie noch nicht lange, doch ich denke schon, dass sie eine gute Jägerin ist.«
»Der Mann muss dir sehr vertrauen«, sagte Hiram.
»Ja, das tut er.«
Notgedrungen, dachte sie. Schwer spürte sie die drei goldenen Halsreifen in ihrem Bündel, das sie stets an ihrem Leib trug. Noch schwerer lastete die Verantwortung auf ihr. Sirona war wertvoller als Gold für Cel. Das wusste Lysandra. Die Katze war aber auch am Verletzlichsten von ihnen allen und am Auffälligsten. Warum musste sie weiß sein?
Hiram betrachtete die Katze. »Ich habe fast den Eindruck, die Katze würde jedes Wort verstehen, das ich sage.«
Lysandra nickte. »Sie ist sehr klug.«
»Vielleicht finde ich doch noch einen Weg, sie dir abzukaufen. Wie wäre es mit fünfundzwanzig Stater, einer halben Mine? Das ist ein hoher Betrag für eine Katze. Die Tiere bekommt man an jeder Straßenecke kostenlos hinterher geworfen.«
»Ihr Phönizier werft mit Katzen?«
»Nein, würde ich nie tun. Aber fünfundzwanzig Stater sind ein Haufen Geld für so ein kleines Tier, das nichts anderes kann, als Mäuse zu fangen. Ich werde erstmal überprüfen, was ich überhaupt bekäme.« Als Hiram versuchte, Sirona zu berühren, pinkelte ihn diese an und rannte sogleich davon.
Hiram fluchte.
Lysandra unterdrückte ein Lächeln. »Du hättest sie nicht beleidigen sollen.« Eine Dame war Sirona gewiss nicht. Andererseits würde Lysandra sich an ihrer Stelle auch nicht von jedem anfassen lassen – wobei sie dies nicht so drastisch zeigen würde wie diese keltoische Frau.
»Mistvieh. Dabei wollte ich sie nur streicheln«, sagte Hiram, der sich den Arm abtrocknete. »Ich habe es mir anders überlegt. Du kannst sie doch behalten.«
Als Lysandra erwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Schlagartig kehrten die Erinnerungen an die Ereignisse des vergangenen Tages zurück. Sie befand sich an Deck des phönizischen Handelsschiffs mit dem Namen Tanith. Aiolos schlief in einigen Metern Entfernung auf dem Deck, während ihr Ziehbruder Damasos sich ein entlegenes Eck ausgesucht hatte, um möglichst weit von ihr entfernt zu sein.
»Ist da jemand?«, fragte sie, da sie die Anwesenheit von jemandem spürte.
»Lysandros?« Cels Stimme erklang leise. »Habe ich dich geweckt? Das wollte ich nicht.«
Angestrengt starrte Lysandra in die Dunkelheit. Sie erkannte seine Umrisse, sah das Mondlicht auf nackter Haut und erstarrte. Völlig entblößt stand er vor ihr, wie an jenem Morgen, an dem er sie an seiner Verwandlung hatte teilnehmen lassen. Eine Intimität, deren Ausmaß sie sich erst später bewusst wurde. Diesmal konnte sie nicht alles erkennen, doch das Wissen um seine Nacktheit sandte heiße Schauer durch ihren Leib.
»Lysandros«, sagte er erneut mit dieser rauen Stimme und trat zu ihr. Sie reichte ihm die Decke, die sie zusätzlich für ihn mit an Bord genommen hatte.
Cel legte sich neben sie. »Ich hoffe, du kannst gleich wieder einschlafen.«
»Hiram hat mir die Sterne gezeigt«, sagte sie und deutete in den Himmel. »Dies sind die beiden Bärinnen, die über den Himmel rollen. Die eine hat den Kopf an der Hüfte der anderen. Leider sind mir ihre Namen entfallen.«
»Die Boier waren hauptsächlich ein Volk des Landes und nicht der See. Daher kann ich sie dir leider nicht nennen.«
»Die Hellenen sind beides«, sagte Lysandra. »Waren? Warum sprichst du von deinem Volk in der Vergangenheitsform?«
»Weil es die Boier als Volk vermutlich nicht mehr gibt.« Traurigkeit lag in seiner Stimme. Er senkte den Kopf.
Lysandra verspürte wider Willen Mitgefühl in sich aufsteigen. »Wären die Barbaren eben nicht in Delphoí eingefallen.«
Sie spürte seinen Blick auf sich. »Weißt du, was es heißt, aus der Heimat vertrieben worden zu sein und den Ort für immer hinter sich lassen zu müssen, an dem man geboren wurde?« Er sah sie eindringlich an.
»Ist das geschehen?«
Cel nickte. »Ich wurde weit weg von hier geboren. Vor einigen Jahren fielen feindliche Stämme dort ein. Meine Mutter, die sich zu diesem Zeitpunkt bei den Nachbarn aufgehalten hatte, wurde getötet, während mein Vater, mein Bruder und ich auf der Jagd waren. Er hat es sich niemals verziehen, nicht bei ihr gewesen zu sein, um sie zu beschützen. An jenem Tag starben auch sein Herz und seine Seele. Sirona war im Wald Beeren pflücken gewesen, was ihr wohl das Leben gerettet hat, denn es wurde fast das ganze Dorf niedergemetzelt. Als die anderen weiterzogen, weil der Feind übermächtig wurde, gingen wir mit ihnen. Wir sind Heimatlose und haben auch die anderen unseres Volkes endgültig verloren. Jetzt habe ich nur noch Sirona. Ich habe sie in diese schreckliche Lage gebracht. Wenn ich sie nicht retten kann, dann war alles umsonst.«
Lysandra kämpfte das aufsteigende Mitgefühl zurück. Stets machte sie sich bewusst, dass die Barbaren viele Delphoíer getötet und auch nicht vor dem Mord an Frauen, Kindern und Alten zurückgeschreckt hatten.
»Vor drei Jahren erreichten wir Illyrien«, sagte Cel. »Wir zerschlugen das makedonische Heer, bevor wir über Thessalien in Hellas einfielen.«
Lysandra nickte. »Thessalien, das Pferdezuchtgebiet. Aléxandros ho Mégas, ein früherer König Makedoniens, hatte sein Ross Burkephalos von dort.« Zumindest hatte sie die Leute dies sagen hören.
Cel wirkte nachdenklich. »Schon möglich. Doch sag mir die Wahrheit: Das Heer, welches Delphoí verteidigte, bestand nicht aus Hellenen allein?«
Es gab für Lysandra keinen Grund mehr, dieses Wissen zurückzuhalten. »Phokaier und Ätoler haben mit uns zusammen die Stadt verteidigt. Denk ja nicht, ich wüsste nicht, dass die Barbaren einen Ablenkungsangriff gegen Ätolien geführt haben.« Wobei sie noch mehr Menschen getötet hatten, diese blutrünstigen Wilden.
Als sie den Blick hob, begegnete er dem Cels. Das Rauchblau seiner Augen wirkte silbern im Mondlicht.
»Solange es unterschiedliche Völker gibt und jeder nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, wird es Kriege geben, Lysandros. Lass die Vergangenheit unserer Völker nicht uns beide zu Feinden machen.«
Lysandra wandte ihren Blick ab. »Du vergisst etwas: Wir sind Feinde, sind es schon immer gewesen. Du sagst dies alles vermutlich nur, weil du von mir Unterstützung für dein Vorhaben erwartest. Du weißt gar nicht, wie schwer es mir fällt, einem Feind zu helfen. Die Boier haben meinen Großvater getötet.«
»Und das hellenische Heer meinen Vater und meinen Bruder. Ich wurde zum Kämpfen erzogen, zum Krieg und zum Töten. Ehre würde es bringen, doch erschafft es einzig Leid. Dies liegt nicht allein an meinem verlorenen Glauben an ein besseres Leben nach dem Tod für die Tapferen. Ich bin des Kämpfens müde geworden nach den zahlreichen Schlachten und dennoch werde ich mein Schwert jederzeit wieder erheben, um jene zu schützen, die ich liebe.«
Lysandra schluckte, doch half es nicht gegen den Knoten in ihrem Hals.
»Auch wir haben Verluste erlitten, Lysandros. Auch wir Barbaren kennen Leid und Schmerz. Auch wir, die Fremden, die anderen Völker, sind Menschen, die atmen, leben und lieben. Und wir bluten, wenn man uns verletzt. Wären wir in unserer Heimat geblieben, würden unsere Knochen jetzt dort ruhen.« Ein Seufzer entrang sich seiner Kehle. »Du hast mir die Sterne gezeigt, Lysandros. Sie scheinen für uns alle gleichermaßen, die wir unter demselben Himmel leben. Vielleicht können wir eines Tages in Frieden leben.«
»Das hört sich aber nicht nach einem Keltoi an. Wo ist die euch nachgesagte Kampfeslust geblieben?«, fragte Lysandra.
Cel seufzte. »Sie liegt begraben zwischen den Leichen meines Bruders und meiner Eltern. Zuerst hat mich der Hass weitergetrieben, doch irgendwann erschien mir das alles sinnlos.« Er sah sie an. Die Mondsichel spiegelte sich in seinen Pupillen. »Du wirst mich doch nicht im Schlaf ermorden, weil unsere Völker Feinde sind?«
Lysandra schüttelte den Kopf. »Ich habe nie dazugehört, weder zu den Einheimischen noch zu … Ist nicht wichtig.« Weder zu den Männern noch zu den Frauen. Lysandra gehörte nirgendwo dazu. Sie war sogar sich selbst fremd, da sie niemals hatte erforschen können, wer sie wirklich war.
Cel nickte. »Mir ging es ebenso. Später. Zuerst gehörte ich überall dazu, doch dann verstießen sie meine Schwester und mich, weil wir anders waren. Nicht mehr menschlich, da wir in die Leiber von Tieren gebannt wurden, und doch menschlicher als zuvor waren wir aufgrund der Erfahrung. Manchmal ist es besser, nicht zu wissen, was man verloren hat, als fortan mit dieser Leere leben zu müssen.« Er starrte hinauf zum Himmel, schien jedoch die Sterne nicht mehr zu sehen.
Lysandra schwieg. Auch sie blickte empor zum Firmament und gedachte der Zukunft, die sie erwartete. Was mochte geschehen? Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, ihr Leben selbst zu führen, anstatt sich den Vorstellungen anderer zu fügen.
Lysandra starrte noch immer hoch zu den Sternen, als Cel eingeschlafen war. Sein gleichmäßiger Atem ging fast unter im Raunen des Windes und dem Tosen der Wellen. Sie betrachtete sein Gesicht, das endlich friedvoll wirkte, jetzt, da er schlief. Sein langes Haar war um ihn gefächert und glänzte silbrig. Sie konnte nicht widerstehen, es zu berühren. Nie zuvor hatte sie etwas so Weiches berührt. Ihre eigenen Haare kamen ihr im Vergleich dazu starr und dick vor.
Auch seine Haut war heller als die ihre. Sachte berührte sie mit den Fingerspitzen seine Wange. Erste Bartstoppeln waren darauf, doch seine Unterlippe war unbeschreiblich zart, ebenso wie die golden schimmernde Haut seiner Brust und seines Bauches mit den feinen Härchen, die sich um seinen Nabel herum nach unten zogen, bis dorthin, wo die Decke seine Nacktheit verbarg. Seine Haut war warm und ein unbeschreiblicher Duft stieg von ihr auf. Wie es wohl war, mit der Zunge seinen Geschmack zu erkunden?
Lysandra schrak zurück, als hätte sie sich selbst bei etwas Verbotenem erwischt. Sie sollte gegen die wachsende Attraktion, die sie für Cel empfand, ankämpfen, anstatt sie zu fördern. Selbst wenn sie ihm trauen konnte, obwohl er ein Keltoi war, ein Feind ihres Volkes, so musste sie ihre wahre Identität verbergen. Dies konnte sie nur, indem sie Abstand hielt.
Cel erwachte noch vor Sonnenaufgang, doch spürte er bereits jenes Ziehen und Prickeln in seinem Leib – die ersten Anzeichen der Verwandlung. Er betrachtete Lysandras Gesicht und ihr vom Schlaf zerzaustes Haar. Sie sah so jung aus, so schutzbedürftig und war doch eine Kriegerin. Er bedauerte es, sie verlassen zu müssen und wusste auch noch nicht, wo er den Tag verbringen würde, da Hirams Schiff, die Tanith, übers Meer in Richtung Sizilien fuhr, wie er noch am Hafen von Kirra in Erfahrung gebracht hatte.
Sizilien war nach dem Tod des Königs Agathokles der Anarchie verfallen. Niemand konnte ihm Genaueres über die aktuellen Zustände dort sagen, doch war er froh, dass die Tanith nur den phönizischen Ort Ziz und womöglich Mozia auf der Insel westlich Siziliens ansteuerte. Diese galten als sicher, sodass er sich während des Tages beruhigt zurückziehen würde können.
Cel bedauerte es sehr, die Reise nicht an Lysandras Seite vornehmen zu können. Er strich ihr eine der dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. Sie war anders als die anderen Helleninnen, aber auch als die Frauen seines Volkes. Er wusste noch nicht genau, woran es lag, doch irgendetwas an ihr faszinierte ihn.
Einem Impuls folgend beugte er sich hinab. Tief atmete er ihren verführerischen Duft ein und küsste sie auf die Stirn. Zwar benahm sie sich meistens – wohl, damit niemand hinter ihr Geheimnis kam – wie ein Mann, doch war sie unverkennbar eine Frau. Eine sehr verlockende Frau. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sie ihre Feminität verbarg oder ob sie gar auf der Flucht war.
Cels Zeit in seiner menschlichen Gestalt war wieder einmal vorüber, die Schmerzen wurden zu intensiv. Endlich gab er dem Drängen seines Leibes nach und eilte in die Schatten hinter Hirams Kajüte, wo er sich hinkauerte.
Der Übergang in die andere Gestalt dauerte immer kürzer, je mehr er lernte, sich gegen das Unvermeidliche nicht mehr zu wehren. Auch der Schmerz glich nicht mehr jenem, dem er damals bei den ersten Umwandlungen empfunden hatte.
Diesmal schmerzte ihn vor allem etwas anderes: Niemals mehr würde er als Mensch das Licht des Tages erblicken. Niemals würde er eine Familie oder eine Zukunft haben. Er dachte an das Lachen, das er damals mit Sirona geteilt hatte. Er erinnerte sich, wie sie als Kinder inmitten von Schafen über Wiesen gejagt waren und wie ihr langes Haar mit den gelben Blumen darin geschimmert hatte im Sonnenlicht.
Auch gedachte er seiner Mutter, die viel zu früh gestorben war. Ihre Gebeine lagen in der Erde seiner Heimat, wohin es keine Wiederkehr gab. Doch wie viel war ihr durch den frühen Tod erspart geblieben? Sie musste nicht das sehen, zu dem Sirona und er geworden waren. Selbst die anderen seines Volkes hatten sie deshalb verlassen. Nur Sirona war bei ihm geblieben, was sie auch getan hätte, wenn der Fluch sie selbst nicht ereilt hätte. Er bedauerte es zutiefst, sie in diese nahezu aussichtslosen Schwierigkeiten gebracht zu haben.
Der körperliche Schmerz verebbte, doch seine Seelenpein hielt unvermindert an. In seiner Greifengestalt erhob er seine Schwingen und entfloh innerhalb weniger Augenblicke, in denen er hoffte, dass gerade niemand in die Höhe sah, in den Himmel. Weit oben verwechselte man ihn womöglich mit einem großen Vogel. Zumindest hoffte er das. Aufgrund des Gewichts seines Löwenleibes konnte er nicht den ganzen Tag fliegen. Er würde an Land gehen müssen und die Tanith später vor Anbruch des Tages einholen, um dort in seiner menschlichen Gestalt neben Lysandra zu ruhen in den finsteren Stunden der Nacht, der einzigen Zeit, während der er er selbst sein konnte.
Auch wusste er noch nicht, wie er die Strecke zu den Zinninseln überwinden würde können, doch hoffte er, bis dahin eine Lösung gefunden zu haben. Es gab nicht viele Versteckmöglichkeiten auf dem Schiff.
Die Meerenge, auch Straße von Zankle oder das Tor Siziliens genannt, erreichten sie wenige Tage später etwa zwei Stunden nach Sonnenaufgang. Verzittert von den Wellen spiegelte sich der rötlich erstrahlte Himmel im Meer. Zu beiden Seiten zeigten sich dunstverhangene Wiesen, zerklüftete Berge und die gezackten Silhouetten von Städten in der Ferne. Milane, Weihen und Bussarde zogen ihre weiten Bahnen hoch am hellblauen, kaum bewölkten Himmel über der Tanith.
»Sizilien, wir kommen!«, sagte Hiram, der sichtlich guter Laune war. Der Fahrtwind blies ihm die schulterlangen dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. Trotz des Bartes wirkte er sehr jung und nicht zum ersten Mal fragte Lysandra sich, ob er nicht sogar jünger war als sie selbst mit ihren zweiundzwanzig Jahren.
Jung für einen Mann, doch alt für eine Frau, denn sämtliche Helleninnen ihres Alters waren schon seit vielen Jahren vermählt. In einer Zeit, in der man um das vierzehnte Lebensjahr herum die Ehe einging, war sie bereits eine alte Jungfer. Meist verdrängte Lysandra diese Tatsache oder tat sie als unwichtig ab und redete sich ein, keinen Mann und keine Kinder zu brauchen. Doch würde sie es im Alter bedauern, niemals die Liebe kennengelernt zu haben.
Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Cel, der in der Gestalt eines Greifen irgendwo an einem unbekannten Ort den Tag zubrachte. Ob er sich manchmal so einsam fühlte wie sie sich jetzt?
»Ein fremdes Schiff im Nordwesten!«, schrie der Mann im Ausguck.
Die Besatzung der Tanith wirkte unruhig, als würden sie mit einem Angriff rechnen. Gewiss musste man auf Reisen, ob auf See oder zu Lande, stets sehr vorsichtig sein, doch noch war Lysandra zuversichtlich. Womöglich stammte das Schiff aus Rhegion, einer der Küstenstädte des von den Hellenen besiedelten Kalabriens, und transportierte Waren wie das ihre. Es ähnelte von der Bauweise mit den beiden identischen hochgezogenen Steven dem der Tanith, wenngleich es auch etwas zierlicher wirkte.
Doch als es noch näherkam, erschien es keineswegs vertrauenserweckend. Zerlumpte Gestalten lungerten an Bord. An jeder möglichen und unmöglichen Körperstelle schienen sie Waffen zu tragen. Viele von ihnen hatten sie bereits gezückt.
Auch Lysandra griff zu ihren Waffen und ließ ihren Blick schweifen. Falls der Feind Bogenschützen einsetzen würde, bräuchte sie eine Deckung.
»Bei Eshmun, sie kommen zu rasch näher! Sie sind schneller als wir!« Belzzasars tiefe Stimme überschlug sich fast. Er raufte sich sein Haar. Schweiß lief über seine Stirn. Er fluchte auf phönizisch, am Tonfall war es erkenntlich.
»Wenn wir ruhig und überlegt handeln, können wir siegen!«, rief Hiram, der nervös wirkte, sich aber offenbar nicht von der allgemeinen Unruhe anstecken lassen wollte.
»Was nun?«, fragte Belzzasar, der sich den Schweiß von der Stirn wischte.
»Wir drehen den Spieß um.« Hiram grinste ihn an, sodass seine weißen Zähne blitzten.
»Wie meinst du das?«
»Wir rammen sie! Unser Schiff ist dazu bestens in der Lage und sieht wesentlich stabiler aus als das ihre. Also dreht bei!«
Der Steuermann gehorchte sofort. Die Ruderer setzten all ihre Kräfte ein, um das Schiff schnell voranzubringen. Schon trieb die Tanith, ihren Pferdekopf voran, mit voller Kraft auf das andere Schiff zu.
»Du bist irrsinnig!«, rief Belzzasar. »Völlig irrsinnig. Das sage ich deinem Vater!«
»Das kannst du ja. Wenn wir das überleben, dann nur durch ein wagemutiges Manöver. Das Glück steht auf der Seite der Mutigen und Tüchtigen. Wenn wir fliehen, werden sie uns verfolgen. Da sie ein leichteres, schnelleres Schiff haben – und ihre Ruderer im Gegensatz zu den unsrigen ausgeruht sind −, würde dies nur dazu führen, dass wir noch erschöpfter sind, wenn sie uns einholen. Am besten stellen wir uns gleich der Gefahr.«
Lysandra hoffte inständig, er möge recht haben. Mittlerweile schwand ihr Mut nämlich in bedrohlichem Ausmaße.
»Zumindest wissen wir jetzt, warum Itthobaal niemals durch die Meerenge gefahren ist«, sagte Belzzasar.
»Hinterher ist man immer klüger.« Hiram hatte sein Schwert, einen hellenischen Xiphos, gezogen und wirkte kampfbereit.
»Sofern man überlebt. Hoffentlich nehmen wir dieses Wissen nicht mit in ein haifischverseuchtes Meeres-Grab.«
»Sieh nicht immer nur die schwärzeste Zukunft voraus, Belzzasar«, sagte Hiram und strich sich eine Locke aus der hohen Stirn.
»Das tu ich nicht. Ich sehe gar keine Zukunft für uns. Selbst wenn wir das hier überleben, bringt uns dein Vater um, wenn die kostbare Ladung beschädigt wird oder gar verloren geht.«
»Rede nicht, mach dich bereit für den Kampf!«, rief Hiram.
Auch Belzzasar zog sein Schwert.
»Wir rammen sie gleich!«, rief einer der phönizischen Seeleute. »Macht euch bereit zum Entern!«
Sogleich ging ein Ruck durchs Schiff. Die Phönizier liefen mit gezückten Waffen zur Reling. Diejenigen, die Bögen besaßen, feuerten Pfeile auf die unbekannten Angreifer ab. Andere sprangen an Bord des feindlichen Schiffes. Leider schossen auch die Gegner Pfeile auf sie ab. Wären die Phönizier nicht bereits auf dem feindlichen Schiff, hätte Lysandra dem Gegner gerne mit einem Brandpfeil geantwortet. So ging sie nur in Deckung, dennoch entging ihr nicht, dass einige der Angreifer das Schiff enterten. Zumindest versiegte jetzt der Pfeilhagel, da sie sonst ihre eigenen Leute treffen würden.
Ein Kampf entbrannte. Mehrere Männer griffen zugleich an. Belzzasar schwang sein Schwert mit einer für einen Händler erstaunlichen Geschicklichkeit. Hiram verschwand aus ihrem Sichtfeld. Lysandra sah einige der Phönizier verbissen gegen die Fremden kämpfen. Sie würden nicht so einfach aufgeben.
Lysandra wich dem Hieb eines Mannes aus. Der Angreifer war zwar deutlich größer als sie, doch keineswegs so wendig. Er besaß ein dem Xiphos ähnliches Schwert. Lysandra wich einem weiteren Schlag aus und griff gleichzeitig von der Seite her an. Sie war bereit, ihn zu töten – falls sie es musste, was sie dennoch sehr ungern tun würde. Erneut schlug er zu. Lysandra parierte den Schlag, doch spürte sie seine Wucht bis in die Schulter. Ihr Gegner war ihr an Kraft deutlich überlegen. Nur ein wagemutiges Manöver bot Aussicht auf Erfolg. Sie musste ihn so schnell wie möglich überwältigen.
Wieder holte der Mann aus und setzte zum Hieb an. Lysandra sprang zur Seite, doch nicht schnell genug. Die Klinge streifte ihren Arm. Die Wunde brannte, war jedoch nicht tief genug, um sie beim Kampf zu behindern. Dennoch musste sie ihn schnell beenden, bevor sie zu viel Blut verlor.
Lysandra nahm ihren Willen zusammen, um sich vom Schmerz nicht überwältigen zu lassen und griff an. Offenbar rechnete der Mann nicht mit so einer schnellen, waghalsigen Gegenattacke. Bevor er erneut ausholen konnte, legte sie ihm die Schwertklinge an den Hals.
Der Kampf um sie herum war beendet. Stille breitete sich aus.
»Wer schickt Euch und was wollt Ihr?«, fragte sie.
»Wir sind nur einfache Seeräuber.«
»Von woher kommt Ihr?«
»Aus Zankle.«
»Ihr kämpft zu gut für einfache Seeräuber!« Ihre Dolchklinge ritzte seinen Haut. Bluttropfen flossen über seinen Hals. Ein Ausdruck der Angst zeigte sich in seinem Blick.
»Mamertiner. Wir sind Mamertiner, kamanische Söldner. Agathokles hatte uns angeheuert.«
»Ihr lügt! Agathokles ist tot!«, sagte Hiram, der näherkam.
Der Mann schluckte. »Nach seinem Tod verließen wir Syrakus und bemächtigten uns Zankles. Auch wir mussten sehen, wo wir bleiben.«
»Das ist kein Grund, der Seeräuberei nachzugehen«, sagte Hiram.
Der Mamertiner sah Hiram an. »So mögt Ihr es sehen, doch nicht alle haben die Wahl.«
»Oder entscheiden sich für den leichteren Weg«, sagte Lysandra.
»Lasst mich gehen.«
Lysandra warf einen Blick zum gegnerischen Schiff, das besiegt war, aber noch einigermaßen seetüchtig wirkte. »Wenn Ihr in Frieden zieht und keine Schiffe mehr angreift, setzen wir Euch und Eure Männer dort ab.«
»Ich verspreche es.«
»Also gut, zieht Euch zurück, aber wagt es nicht, Euch wieder blicken zu lassen.« Sie nahm die Klinge von seinem Hals. Doch kaum hatte sie einen Schritt von ihm weggetan, griff er sie erneut an. Lysandra sprang zur Seite, war jedoch nicht schnell genug, zumal sie über irgendetwas stolperte. Der Angreifer wollte sie erstechen, da schrie er plötzlich auf.
Lysandra verspürte einen Luftzug, das Rauschen von Schwingen vermischte sich mit dem Tosen der Wellen. Der Schrei eines Milans hallte über das Schiff oder war es der des Greifen? Gewaltige Klauen ergriffen den Seeräuber und rissen ihn mit sich. Das Schwert fiel ihm dabei aus der Hand. Blut rann über seine Brust, dann waren er und der Greif in den Höhen des Himmels verschwunden. Nur einen kurzen Nieselregen aus Blut ließen sie zurück.
Hiram starrte in die Höhe. »Was, bei Aschera, war das?«
Belzzasar hob die Achseln. »Keine Ahnung. Eine Harpyie wars nicht und auch kein gewöhnlicher Greifvogel. Eher ein Greif, doch hielt ich ihn für eine Legende.«
Hiram wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Warum hältst du ihn für eine Legende, glaubst aber an Harpyien? Ich jedenfalls sehe lieber ihn, als diese anderen geflügelten Biester. Er soll Glück bringen. Zudem hat er Lysandros’ Leben gerettet.«
Belzzasar sah ihn misstrauisch an. »Aber wer sagt, dass diese Kreatur nicht zurückkommt, um sich auch noch einen von uns zu holen?«
»Ich behaupte das!« Lysandra trat auf sie zu. »Ein Greif ist eine weise und mächtige Kreatur, die dem Apollon dient.«
Hiram hob die Achseln. »Ihr Hellenen seid sehr zuversichtlich. Das soll mir recht sein, solange der Greif uns in Ruhe lässt und meine Mannschaft nicht frisst.«
»Traue keinem Fremden! Niemals«, sagte Belzzasar.
Lysandra nickte. »Bist du nicht auch ein Fremder für mich?«
»Nehmen wir diese Söldner als Beispiel. Sie sind Opportunisten. Sie werden immer das tun, was ihnen am meisten einbringt, ohne Rücksicht auf das Leben anderer. Wenn sie sich Zankles bemächtigt haben, kann es gut sein, dass sie die Männer getötet und sich die Frauen genommen haben. Manches ist schlimmer als der Tod.«
»Frauen sind immer die Schwächeren, nicht wahr? Immer dem Willen der Männer ausgeliefert«, sagte Lysandra, wobei sie darauf achtete, ihre Stimme möglichst tief zu halten.
Hiram schüttelte den Kopf. »Nicht zwangsläufig. Du bist wohl zuvor nie aus Delphoí rausgekommen?«
»Merkt man es so sehr?«
Hiram trat näher an sie heran und legte die Hand auf ihre Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Es ist ja noch mal alles gut gegangen. Alles andere wirst du lernen. Du hast eine hohe Auffassungsgabe und kämpfst hervorragend. Es fehlt dir einzig an Erfahrung und diese wird dich schneller einholen, als dir lieb ist – genau wie mich. Das mit der Meerenge konnten wir nicht wissen.« Er nahm seine Hand von ihrer Schulter und wandte sich seiner Besatzung zu. »Rudert weiter, Männer!«
Lysandra nahm sich vor, in Zukunft unbedingt achtsamer zu sein. Ein weiterer Fehler konnte ihren Tod bedeuten. Sie durfte niemandem trauen.
Hiram starrte auf die Wellen. »Wir hatten verdammtes Pech, die Meerenge durchsegelt zu haben.«