Kapitel 11
»Besteige mich«, sagte Cel zu Lysandra.
»Was?« Der Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht war einfach köstlich. Bedauerlicherweise konnte er in seiner Greifengestalt nicht grinsen, sonst hätte er es jetzt getan.
»Ich sagte, klettere auf meinen Rücken.«
»Das hat sich eben anders angehört.« Misstrauisch beäugte sie ihn.
»Es ist nur ein kurzer Flug. Du wirst ihn möglicherweise überleben. Doch wickle dich zuvor in die Decke ein, die ich dir besorgt habe.«
Cel war losgeflogen, um eine warme Decke für Lysandra auszuleihen oder besser gesagt zu stehlen. Wenn er in seiner Greifengestalt erschien, waren die Menschen seltsamerweise einem Handel nicht sehr zugeneigt, sondern fingen einfach an zu schreien und davonzurennen. Wie eigenartig. Doch sein Vorgehen diente einem guten Zweck und womöglich konnte er die Decke danach wieder zurückbringen, vorausgesetzt, er hatte Zeit dafür und fand den alleinreisenden Mann wieder.
»Ich soll mich in dieses Ding da wickeln?«, fragte Lysandra entsetzt.
»Das ist das Wärmste, was ich auftreiben konnte. Du kannst natürlich auch erfrieren, falls dir das lieber ist. Dann bist du viel schneller im Totenreich als ich.«
»Nein, danke.« Sichtlich widerwillig schlang sie sich die Decke um den Leib. »Sie ist wirklich warm. Ich werde mich darin zu Tode schwitzen, nein, doch eher am Geruch sterben. Das Ding stinkt ja erbärmlich … nach Kamel!«
»Das kann ursächlich daran liegen, dass dies eine Kamelhaardecke ist.«
»Wirklich witzig.« Lysandra schwang sich auf seinen Rücken. »Na, hoffentlich falle ich nicht von dir herunter.«
»Das wirst du schon merken.«
Lysandra hielt sich an seinem Fell fest und schlang die Beine um ihn, was ihm in seiner anderen Gestalt noch besser gefallen würde. Auch machte es ihm Freude, mit ihr zu schäkern. Er bedauerte es, dass ihre Wege eines Tages auseinandergehen würden. Schon jetzt wusste er, dass er sie schmerzlich vermissen würde. Doch da sie ebenso viel Wert auf Ehre legte wie er, versuchte er erst gar nicht, ihr die Rückkehr nach Delphoí auszureden. Einen Eid brach man nicht.
Lysandra war froh, die Kamelhaardecke so eng um sich geschlungen zu haben, denn es war bitterkalt in der Höhe, was der eisige Flugwind noch verschlimmerte. Cel hatte recht: Eine längere Reise hätten sie auf diese Weise nicht durchführen können. Zudem bezweifelte sie, dass er mit dem schweren Löwenleib und ihr auf seinem Rücken den langen Flug übers Meer bis Belerion schaffen könnte. Das war unmöglich, selbst wenn er sich nachts nicht in einen Menschen verwandeln würde.
Sie machten mehrere Pausen, während der Lysandra sich ein wenig aufwärmen konnte, bis er sie wieder weitertrieb, da er befürchtete, die Tanith im Hafen von Hippo zu verpassen.
Kurz vor der Stadt, in einem von Rosmarin gesäumten Olivenhain, landete er.
»Geh zum Schiff. Ich verfolge euch aus der Höhe«, sagte er.
»Aber du musst auch mal schlafen, sonst bist du uns nicht von Nutzen.« Trotz der sommerlichen Temperaturen fror Lysandra.
»Ich mache mir Vorwürfe, weil du entführt wurdest.«
»Das musst du nicht. Ich hätte ein paar Männer der Tanith mitnehmen können.« Ihre Zähne schlugen aufeinander.
»Ich fliege alle paar Stunden über euch hinweg, doch befürchte ich, das könnte nicht genügen. Wenn irgendetwas geschieht, bin ich meistens zu weit weg.«
»Es muss genügen. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Meistens zumindest.«
»Nun, geh schon, bevor du die Tanith noch verpasst. Ich habe sie aus der Höhe gesehen. Sie müsste bald anlegen. Außerdem hast du bereits ganz blaue Lippen. Du siehst durchgefroren aus.«
»Zumindest weiß ich jetzt, warum wir mit dem Schiff übers Meer reisen, anstatt zu fliegen. Ich bin diese Kälte einfach nicht gewohnt. Längere Zeit würde ich das nicht aushalten.«
»Ich wache über dich. Heute Abend komme ich aufs Schiff und werde dort so lange bleiben wie möglich. Hiram weiß ohnehin von mir. Ich will ihm zwar keinen Ärger machen, doch dein Schutz ist mir wichtiger.«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen. Wirklich. Sie haben mich überrascht und waren in der Überzahl.«
Cel nickte. »Gräme dich nicht. Sie hätten womöglich jeden anderen Mann ebenfalls überwältigt.«
Lysandra verabschiedete sich von Cel und lief in Richtung der Stadt. Bis zum Hafen war es nicht allzu weit, zudem war Lysandra es gewohnt, viel zu laufen. Immer wieder blickte sie zum Himmel empor. Cel gewann wirklich schnell an Höhe. Von Weitem sah er aus wie ein missgestalteter großer Vogel. Man musste wirklich gut sehen können und aufmerksam sein, um es zu bemerken.
Es dauerte nicht lange, da legte die Tanith an. Hiram, Aiolos und die Mannschaft staunten nicht schlecht, als sie Lysandra am Hafen erblickten.
Lysandra war froh, dass Hiram noch immer die Tanith befehligte. Sollte diese in Karthago nicht von seinem Bruder übernommen werden?
»Wie geht es dir? Ist Cel in der Nähe?«, fragte Aiolos.
Lysandra nickte. »Wir hatten viel Glück. Eine Erinye ließ mich entführen, doch sie war nicht die eigentliche Auftraggeberin. Wer dahinter steckt, konnten wir noch nicht herausfinden.« Lysandra verstand selbst nicht, warum eine Erinye etwas gegen sie haben sollte. Wer hegte so starke Rachegefühle ihr gegenüber? Sie wurde den Verdacht nicht los, dass es mit Cels Vorhaben, zu den Zinninseln zu gelangen, zusammenhing. Irgendjemand wollte ihre Reise sabotieren. Wobei seltsamerweise nicht etwa Cel, sondern sie das Hauptziel der Angriffe zu sein schien. Wie absurd. Was sollte Creusa gegen sie haben? Keineswegs bestand, trotz der gegenseitigen Anziehungskraft, zwischen Cel und ihr eine Verbindung, die über eine zeitlich begrenzte Zweckgemeinschaft hinausging. Was danach aus ihrem Leben wurde, daran wollte sie jetzt nicht denken. Früh genug würde sie sich darum kümmern müssen.
Lysandra ging an Bord, da ihr an Abenteuern in der Stadt nicht gelegen war. Davon hatte sie erstmal genug. Sie erkannte Hiram, der übers Deck schlenderte und in die Ferne blickte.
Lysandra trat zu ihm, um ihn zu begrüßen.
»Willkommen zurück an Bord, Lysandros.«
»Dein Bruder wollte das Schiff also nicht übernehmen?«, fragte sie.
»Er hat sich ein Bein gebrochen. Darum werde ich weiterhin die Tanith befehligen und mit euch zu den Zinninseln fahren.«
»Es tut mir leid, dass dein Bruder sich das Bein verletzt hat.«
»Manche Dinge sind wohl Schicksal.« Hiram schnupperte in die Luft. »Hier riechts irgendwie nach Kamel. Das kommt ja aus deiner Richtung.«
Lysandra lächelte. »Äh, ja, diese Decke riecht danach.« Sie legte sie beiseite, da sie mittlerweile nicht mehr so sehr fror.
»Ich befürchte, du hast den Geruch angenommen«, sagte Hiram.
Warum hatte Cel keine andere Decke genommen? Musste er die übelriechendste nehmen?
Hiram lächelte. »Wird schon wieder verfliegen. Gibt Schlimmeres. Entschuldige mich bitte. Ich muss noch was mit meinen Leuten besprechen.« Er winkte ihr zu und verschwand.
Lysandra schlenderte übers Schiff. Sie war froh, wieder hier zu sein und glücklicherweise nur mit dem Schrecken davongekommen zu sein. In den letzten Stunden hatte sie eine unheimliche Angst ausstehen müssen. So etwas wollte sie nie wieder erleben, doch hatte sie zuvor gewusst, dass eine Reise immer mit Gefahren verbunden war.
Damasos stand an der Reling; ein hässliches Grinsen lag auf seinem Gesicht. »Na, wollten dich nicht mal die Sklavenhändler?«
»Glücklicherweise nicht.« Keineswegs wollte sie ihm die Details ihrer Rettung sagen. Sollte er doch von ihr denken, was er wollte.
Seine Augen, in denen sein Hass deutlich erkennbar war, verengten sich zu Schlitzen. »Zumindest hätte es mir einen Vorwand gegeben, die Tanith zu verlassen. Jetzt muss ich meine Zeit weiterhin mit dieser sinnlosen Reise vergeuden, nur weil du Nerea diese Sache eingeredet hast.«
»Ich habe ihr gar nichts eingeredet. Aber du hast recht, es wäre besser gewesen, ich wäre einfach abgehauen, doch hätte ich dies als ehrlos empfunden. Ich habe eine gewisse Verantwortung und Schuld ihr gegenüber. Es tut mir leid, dass sie dich hineingezogen hat und du dadurch hier sein musst. Das wollte ich wirklich nicht«, sagte sie.
Er hob eine Augenbraue. »Ach, es tut dir leid? Belügen kann ich mich selbst. Als ich erfuhr, dass du entführt wurdest, habe ich mir gewünscht, dass sie dich als Arbeitssklaven verkaufen, dann müsstest du endlich mal richtig was arbeiten und hättest deine dürre Statur nicht als Ausrede verwenden können. Du warst doch immer Nereas Liebling.«
Wenn er wüsste … » Das bezweifle ich. Im Gegenteil, ich dachte immer, sie bevorzugt dich.«
Damasos schnaubte wütend. »Nicht mal das weißt du zu schätzen. Weißt du denn gar nicht, was sie alles für dich getan hat? Du hast mir den Rang als Ältester abgelaufen, obwohl du gar nicht ihr richtiger Sohn bist. Du denkst doch nicht etwa wirklich, dass ich mir das gefallen lasse?«
»Nerea hat mir niemals die Wahl gelassen. Bei Zeus, hätte ich diese gehabt, wäre sie gewiss anders ausgefallen.«
»Ich habe genug von deinen Lügen und werde sie mir keinen Augenblick länger anhören. Doch denke daran: Irgendwann schlägt auch meine Stunde und dann wirst du darunter leiden, ein schwarzer Fleck auf meinem Leben zu sein.«
Lysandra sah Damasos nach, wie er davonging. Was redete er sich ein? Warum verstand er sie einfach nicht? Doch sie konnte ihm die vollständige Wahrheit nicht sagen. Solange sie sich nicht vor ihm entblößte, würde er sie ohnehin nur der Lügen bezichtigen – und ersteres hatte sie gewiss nicht vor. Wenn er ihr keinen Glauben schenken wollte, so war dies sein Problem. Sie selbst hatte schon genügend eigene Schwierigkeiten.
»Darf ich vorstellen«, sagte Hiram zu Lysandros und Cel, die neben Aiolos und Damasos standen. »Das ist Arishat, die Frau von Belzzasars verstorbenem Cousin und ihre Kammerfrau Inanna, auf der Reise nach Alis Ubbo. Sie sind in Karthago zugestiegen.« Hiram wandte sich an Arishat. »Dies hier sind Lysandros, Damasos Bruder aus Delphoí und Celtillos aus …«
»Der Boier. Ich habe keine Heimat mehr«, vollendete Cel den Satz.
Er sah wie immer umwerfend aus, fand Lysandra. Offenbar war sie nicht die Einzige, die das dachte, denn Arishat verschlang ihn geradezu mit ihren Blicken.
Sie war eine auffallende Schönheit, neben der sich Lysandra unscheinbar vorkam. Auch war sie noch nicht alt, bestenfalls Mitte zwanzig. Ihr Kleid war von kostbarem Stoff und ihr Schmuck aus Gold und Edelsteinen in allen Farben glitzerte, dass Lysandra geradezu geblendet war. Der feine Seidenschleier, der ihr Haar bedeckte, diente wohl eher der Zierde. Mussten sich denn die karthagischen Frauen nicht bedecken?
Arishats Kammerfrau mochte noch jünger sein als ihre Herrin, doch war sie nicht so schön wie diese und hielt ihren Blick im Gegensatz zu ihr züchtig gesenkt. Sie trug ein Tuch auf dem Kopf, welches ihr Haar verbarg. Neben ihr stand ein Diener, der ebenfalls Phönizier zu sein schien.
»Sehr erfreut«, sagte Arishat mit einer rauchigen Stimme, die Bilder heraufbeschwor von einem mit feinen Tüchern verhangenen Schlafgemach, das erfüllt war von den Düften der Lust.
Celtillos war nicht anzusehen, was er dachte, doch Damasos war eindeutig sehr angetan von der Sirene, die großes Interesse an dem Keltoi zeigte, obwohl sie allen Männern gleichzeitig schöne Augen machte.
»Vor anderthalb Jahren wurde Arishat Witwe. Sie will jetzt zu ihrer Herkunftsfamilie ziehen. Womöglich gedenkt sie, sich neu zu verheiraten. Schließlich steht sie in der Blüte ihrer Jahre.«
»Da hat meine Familie leider mitzureden.« Arishat tat einen verführerischen Augenaufschlag. »Meistens jedenfalls. Ich denke, dass diese Reise sehr anregend wird.«
»Ich denke, ein etwas ruhigeres Leben wird dir guttun«, sagte Hiram, worüber Arishat nicht besonders erfreut wirkte.
Sie wandte sich an Cel. »Würdet Ihr mir bitte das Schiff zeigen?« Wie selbstverständlich legte sie ihre Fingerspitzen auf seinen Unterarm.
An Celtillos’ Seite stolzierte sie davon, gefolgt von ihrer Kammerfrau und einem Diener, die respektvoll Abstand hielten.
Als nächstes erreichten sie Hippo, doch obwohl es sich um einen der größeren Häfen handelte, war der Aufenthalt dort nur kurz. Lysandra ging diesmal nicht von Bord, sondern fieberte der Weiterfahrt entgegen und wurde nicht enttäuscht.
Mittlerweile mochte Lysandra das Leben auf der Tanith. Sie genoss es, wie ihr der Fahrtwind das Haar aus dem Gesicht wehte. Während der gesamten Reise hatte sie es sich nicht schneiden lassen. Dies würde sie erst nach der Rückkehr aus dem Totenreich wieder tun.
Tief sog sie die Salzwasserluft ein. Vögel kreisten in der Höhe. Gelegentlich durchdrangen ihre Rufe das Brausen der schaumigen Gischt. Lächelnd ließ Lysandra ihren Blick über das aufgepeitschte Meer und die nebelverhangene Küste mit den emporragenden Felsen gleiten. Solange sie mit der Tanith das Mittelmeer bereisten, war die Küste meist in Sichtweite. Hiram fuhr für gewöhnlich tagsüber und legte über Nacht an einem Hafen an.
Arishat, die ganz offensichtlich Interesse an Cel hatte, schien nicht darüber erfreut zu sein, dass er sich tagsüber zurückzog. Doch schließlich akzeptierte sie es und nahm mit Damasos und Aiolos vorlieb. Arishat schien Lysandra für zu jung zu halten, als dass sie interessant für sie wäre, was ihr jedoch ganz recht war. Einen dreisten Annäherungsversuch hätte ihre Verkleidung wohl nicht standgehalten. Es war ohnehin ein Wunder, dass sie bisher damit durchgekommen war. Hiram hingegen hatte sich ihr wie versprochen nicht mehr körperlich genähert. Der damalige Vorfall hatte ihr freundschaftliches Verhältnis glücklicherweise nicht getrübt.
Der Wind wurde plötzlich kühler und ein Grauschleier zog über das Firmament. Lysandra blickte fröstelnd über das Deck, wo die Männer ihrer Arbeit nachgingen.
»Es zieht ein Sturm auf. Geht lieber in die Kajüte«, sagte Belzzasar zu Arishat, die sich daraufhin mit ihrer Dienerin dorthin zurückzog.
Hiram ließ die Segeln einholen. Der Wind wurde stärker und peitschte Lysandra das Haar ins Gesicht, sodass sie es mit einem Lederband zusammennahm. Angestrengt blickte sie hinaus auf das tobende Meer. Das Schiff wurde von meterhohen Wellen bedrohlich hin- und hergeworfen. Der Mast über Lysandra ächzte, sodass sie befürchtete, er würde umstürzen. Meerwasser wurde über das Deck gespült. Das Szenario erinnerte sie auf erschreckende Weise auf den Albtraum, der sie alle heimgesucht hatte.
Verzweifelt versuchten sie, den Kurs zu halten, während das Schiff immer weiter aufs Festland zugetrieben wurde.
»So einen Sturm, der noch dazu so plötzlich kommt, habe ich schon lange nicht mehr erlebt«, rief Belzzasar in das Heulen des Windes. Nur mit Mühe konnte Lysandra seine Worte vernehmen. Er wandte sich ihr zu. »Halt dich gut fest, Lysandros. Bei solchen Stürmen sind schon manche über Bord gespült worden.«
Als müsste er ihr dies sagen. »Rufe deine Winde zurück, wenn du schon den Namen des Windgottes trägst«, rief sie Aiolos scherzhaft zu.
Dieser schüttelte den Kopf. Sein Haupthaar und der Bart waren nass, Tropfen liefen über seine Haut. »Ich habe das unbestimmte Gefühl, das ist kein gewöhnlicher Sturm.«
Eine besonders hohe Welle schüttelte das Schiff durch. Beinahe hätte Lysandra den Halt verloren. Am liebsten wäre sie nach unten zu den Ruderern gegangen, doch waren diese am gefährdetsten, sollte das Schiff sinken.
Sie sah Aiolos an. »Kein gewöhnlicher?«
Eine Wasserfontäne schoss über Bord und benässte sie. Lysandra strich sich Wassertropfen und das Haar aus dem Gesicht.
»Meinem Gefühl nach nicht«, sagte Aiolos. »Dazu ist außerdem schon zu viel Ungewöhnliches passiert auf dieser Reise. Wir bringen Hiram gar kein Glück auf seiner ersten großen Fahrt.«
Lysandra nickte. Sie verspürte Gewissensbisse, Hiram das Leben so schwer zu machen. Doch wie sollten sie sonst zu den Zinninseln gelangen, die so weit im Westen lagen, dass dort das Tor zur Unterwelt vermutet wurde?
Sie musste dem Wahnsinn verfallen sein, sich auf eine solche Reise zu begeben. Vermutlich wollte Nerea sie nur loshaben und sich Damasos, der seinem herrischen Vater von Tag zu Tag ähnlicher wurde, bei dieser Gelegenheit ebenfalls vom Hals schaffen.
Erstmals verspürte Lysandra Angst um ihr Leben und das aller Beteiligten. Verdammt, sie musste noch die Unterwelt aufsuchen. Vorzeitig versterben würde sie auf gar keinen Fall! Wobei ersteres ohnehin Wahnsinn war. Kein normaler Mensch betrat freiwillig die Totenwelt, doch sie hatte ihr Versprechen gegeben. Danach würde sie nach Delphoí zurückkehren, weil sie es geschworen hatte.
Jetzt musste sie nur noch die Reise überleben.
»Wenn wir zu nahe an die Küste geraten, zerschellt das Schiff. Das Meer ist dort nicht tief genug.« Hirams Stimme bebte. Wassertropfen rannen über sein Gesicht. Falten der Anstrengung hatten sich trotz seiner Jugend heute um seinen Mund herum gegraben. Lysandra verspürte Mitgefühl für ihn.
Die Tanith wurde von Wind und Wellen immer näher an die Klippen herangespült. Lysandras Herz schlug schneller, auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen, die sie mit einer fahrigen Handbewegung wegwischte.
»Lenkt dagegen!« Hirams Stimme klang verzweifelt. Die Ruderer keuchten und strengten sich noch mehr an. Der Wind heulte. Erbarmungslos peitschten die Wellen das Schiff und seine Besatzung.
»Bei Boreas und bei Zepyhros. Ist das nicht der Gryphon?«, fragte Aiolos.
Lysandra blickte hoch zum Himmel, wo goldene Schwingen den Sturm durchbrachen. Er wirkte majestätisch und gefährlich, doch auch an seinem Gefieder zog das Unwetter mit aller Macht. Celtillos flog auf das Schiff zu, sank herab und schlug seine Krallen oberhalb der Galionsfigur ins Holz. Mit kräftigen Schwingenschlägen brachte er die Tanith von den scharfkantigen Klippen weg, doch gegen Wind und Wellen kam auch er nur begrenzt an. So zog er das Schiff leicht seitlich dagegen in Richtung der Bucht von Icosim.