Kapitel 10

 

 

 

»Was heißt, Lysandros ist weg?«, fragte Hiram mit Ungeduld in der Stimme. Sein Blick war kalt und herrisch.

Aiolos duckte sich jedoch keineswegs, wie es Hirams Männer häufig taten. »Ich habe die halbe Stadt durchsucht, doch keine Spur von ihm gefunden.«

»Du hättest meinen Männern und mir früher Bescheid geben sollen. Womöglich hätten wir ihn gefunden.«

Hiram verspürte Bedauern. Auch er hatte sich diesen Vorwurf schon gemacht, doch hatte er nicht ahnen können, dass Lysandros gerade in dem Moment entführt werden würde, in dem er sich erleichterte. Das war fast so, als hätte jemand darauf gewartet. Allerdings bezweifelte er, dass Hirams Männer Lysandros im Gewirr der Gassen gefunden hätten.

»Ich war nur wenige Minuten von Lysandros getrennt, da war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Bis zum Schiff war es zu weit. Daher hielt ich es für besser, sofort nach ihm zu suchen, solange er sich noch in der Nähe aufhält. Was machen wir jetzt?«

Hiram fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er wirkte plötzlich müde. »Ich schicke morgen noch mal ein paar Männer los. Wenn sie ihn nicht finden, kann ich die Abfahrt um maximal einen Tag verzögern, sonst zerreißt mich mein Vater in der Luft. Er hat eine Ladung, die dringend nach Icosim soll. Verderbliche Ware außerdem.«

»Warum Euch?«, fragte Aiolos.

»Mein Bruder ist unpässlich. Ihr habt Glück im Unglück, dass ich weiterhin der Kapitän der Tanith sein werde. Doch das ist auch schon alles. Betet darum, dass wir Lysandros finden.«

»Was kann ihm nur zugestoßen sein?«

Hiram hob die Augenbrauen. »Vieles. Räuber, Mörder, jemand, der seine Kleidung brauchte oder Sklavenhändler.«

»Sklavenhändler?«

Hiram nickte. »Karthago hat einen großen Sklavenmarkt, doch glaube ich nicht, dass sie so dreist sind, ihn hier zu verkaufen. Ich schicke dennoch ein paar Männer dorthin. Mehr kann ich im Moment nicht tun. Die Stadt ist einfach zu groß.« Hiram wirkte aufrichtig besorgt um Lysandros, doch offenbar war er genauso hilflos, wie Aiolos sich fühlte. Karthago konnte schön sein, verwirrend, üppig – und alles verschlingend. Vor allem jedoch war die Stadt groß und unübersichtlich. Jemanden hierin zu finden, der nicht gefunden werden sollte, war so gut wie aussichtslos. Was, bei Zeus, sollte Aiolos Cel sagen? Oder Lysandros’ Bruder Damasos? Sie würden ihn in der Luft zerreißen, zumal ihm selbst dadurch das Abenteuer, in die Unterwelt reisen zu können, versagt sein würde. Doch vor allem machte er sich wirklich ernsthafte Sorgen um Lysandra, denn sie war ihm in der letzten Zeit ans Herz gewachsen. Auch ihr Geheimnis war bei ihm sicher, nicht nur, weil er keineswegs die Absicht hatte, nach Hellas zurückzukehren.

 

»Lysandros ist weg?« Cel starrte Aiolos an, der schuldbewusst dreinblickte. Sie standen an Bord der Tanith. Erst wenige Minuten zuvor hatte er die Greifengestalt abgelegt.

»Vermutlich entführt«, sagte Aiolos. »So etwas kommt vor in einer so großen Stadt wie Karthago. Hiram hat mehrere Suchmannschaften losgeschickt, doch leider vergeblich. Es ist so gut wie unmöglich, dort jemanden wiederzufinden.«

Cel stieß eine Reihe von Flüchen in seiner Sprache aus. Er brauchte Lysandra. Sie war sein Schlüssel in die Unterwelt, der Schlüssel zu Sironas Leben und seiner Zukunft als Mensch! Cel machte sich Vorwürfe, denn er hatte versagt. Er hätte sie niemals allein in die Stadt gehen lassen sollen, doch in seiner Greifengestalt hätte er sie nicht begleiten können, ohne Aufruhr zu erzeugen.

Wieder verfluchte er es, kein richtiger Mensch mehr zu sein. Würde er sich nach Gutdünken verwandeln können, wäre dies etwas anderes, doch gegen seinen Willen vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl in die Gestalt eines Ungeheuers gebannt zu sein, gab ihm in solchen Situationen ein Gefühl der Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit. Gerade jetzt, wo er des Greifen Flugfähigkeit brauchte, stand sie ihm nicht zur Verfügung. Er wollte Lysandra suchen, doch das Schiff war bereits zu weit vom Hafen von Karthago entfernt, um zu schwimmen oder mit einem Beiboot zurückzurudern. Außerdem lag Hiram mit seiner Vermutung, dass Lysandra gewiss bereits aus der Stadt herausgeschafft worden war, mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig. Niemand verkaufte auf kriminelle Weise erworbene Sklaven in derselben Stadt.

Warum hatte er nichts von Lysandras Entführung mitbekommen? Er hätte sie aus der Höhe beobachten sollen. Doch was hätte er tun sollen? Die halbe Stadt wäre aus Angst auf ihn losgegangen, wogegen er auch in Greifengestalt nicht angekommen wäre. Wo sollte er jetzt jemanden mit Lysandras Fähigkeiten herbekommen, um Sirona zu befreien? Doch wollte er überhaupt jemand anderen als sie?

Allein der Gedanke, dass ihr etwas zustoßen könnte, ließ Panik in ihm aufsteigen. Sie war ihm alles andere als gleichgültig und austauschbar schon gar nicht. Sie womöglich niemals wiederzusehen, verursachte einen dumpfen Schmerz in seinem Brustkorb. Würde Lysandra sterben oder ein Leid zugefügt werden, so würde derjenige, der dies verschuldete, bitter dafür bezahlen, das schwor er sich. Doch dann war es womöglich bereits zu spät für sie. Er musste Lysandra so schnell wie möglich finden, doch ziellos umherzurudern würde ihn nicht zu ihr führen. In der Greifengestalt blieben ihm weitaus mehr Möglichkeiten der Fortbewegung und des Kampfes.

»Wollt Ihr mich nicht einweihen?«, vernahm er Hirams Stimme. »Oder denkt Ihr wirklich, ich wüsste nicht, wenn sich ein zusätzlicher Passagier auf meinem Schiff befindet?« Hiram trat näher. »Es ist mir gleichgültig, wer oder was Ihr seid, wenn Ihr nur Lysandros wiederbringt. Es ist schlecht für meinen Ruf, wenn meine Passagiere entführt werden.« Die Besorgnis in seinem Blick stand im Widerspruch zu seinen lapidaren Worten.

»Ihr habt mich gesehen?«

Hiram nickte. »Und ich war nicht der Einzige. Belzzasar war bei mir und einer der Ruderer. Die anderen waren vermutlich zu beschäftigt. Ein paar haben Euch schon früher aus der Ferne erblickt, Euch jedoch für eine der Harpyien gehalten. Ihr seid also ein Gestaltwandler. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass es so etwas wirklich gibt.«

»Tja, ich auch nicht.«

»Ihr könnt Euch willentlich verwandeln?«

»Das ist etwas komplizierter. Es kostet natürlich Kraft.« Lügen waren Cel zuwider, doch wollte er Hiram noch nicht in die besonderen Umstände seiner tagtäglichen Verwandlungen einweihen. Zwar hielt er ihn für vertrauenswürdig, doch ob er dies wirklich war, konnte einzig die Zeit zeigen.

»Ich muss leider bis zum Morgen warten, um mich erneut verwandeln zu können. Dafür kann ich mich schneller fortbewegen als ein Schiff.«

Hiram nickte. »Tut, was Ihr könnt. Mir sind die Hände gebunden. Ich wüsste nicht mal, in welcher Richtung ich suchen sollte. Es wäre sogar denkbar, dass Lysandros ins Hinterland verschleppt wurde, auch wenn ich dies für weniger wahrscheinlich halte. Versucht es zuerst an der Küste.«

Cel nickte. Gedankenverloren sah er Hiram nach, der über Deck lief, mit dem Navigator und dem Schiffskoch sprach und dann weiterging in Richtung Bug.

Die Stunden bis zum Morgen erschienen Cel unendlich lange. Er malte sich Schreckensszenarien aus, die ihn immer wieder aus dem Schlaf rissen. So etwas war ihm seit dem Tod seines Vaters und seines Bruders nicht mehr passiert. Offenbar stand ihm Lysandra bereits näher, als er es sich bisher bereit war einzugestehen. Dies machte alles nur noch schlimmer für ihn.

 

Die Sonne erhob sich am Horizont und ließ ihn in blutrotem Lichte erstrahlen. Als der erste ihrer Strahlen Cel trotz des Sonnensegels erreichte, erschien er ihm wie eine Flamme, die seinen Leib entzündete. Selbst wenn er sich in einer Höhle verbarg, holte die Sonne ihn dank des tückischen Zaubers ein. Der Schmerz breitete sich rasch aus. Die Verwandlung setzte ein. Unter Aiolos’ Blicken rannte er hinter die Kajüte, wo sich halbwegs ein Sichtschutz befand. Es war ihm gleichgültig, wie es Aiolos gelingen würde, die Mannschaft für diesen Zeitraum von hier fernzuhalten.

»Ich werde ihn suchen«, sagte Cel nach der Umwandlung zu Aiolos, der zu ihm gekommen war, und schwang sich im Schutz der Morgendämmerung, so schnell er konnte, in die Höhe. Cel wollte keine weitere Unruhe in die Mannschaft der Tanith bringen. So hielt er es für besser, so lange wie möglich im Verborgenen zu bleiben. Auch wenn der Greif allgemein als ein Glückssymbol galt, wollte er kein unnötiges Wagnis eingehen. Die Stunde der Wahrheit würde früh genug kommen.

Cel drehte eine Runde hoch oben über dem Schiff, das winzig wirkte, wie es inmitten der glitzernden Wellen gen Hippo fuhr. Er jedoch flog in die entgegengesetzte Richtung. Wenn er Lysandra in Karthago nicht finden würde, so konnte er umkehren und dem Schiff ein Stück vorauseilen. Sollte man sie ins Landesinnere gebracht haben, war es aussichtslos, dass er sie fand. Zu großflächig war das Gebiet und mit zu vielen Bäumen und Sträuchern bedeckt. Sie konnte praktisch überall sein.

Er hätte Lysandra in Delphoí lassen sollen. Bei ihrer Ziehmutter Nerea wäre sie jetzt vermutlich nicht glücklich, doch wenigstens in Sicherheit und keineswegs in Lebensgefahr. Sein Gewissen quälte ihn, auch gegenüber Sirona, die nun vermutlich in wenigen Jahren sterben würde, wie die böse Creusa es prophezeit hatte. Er hasste dieses Zauberweib von Tag zu Tag mehr.

 

»Bringt ihn von Bord«, erklang eine Männerstimme.

Lysandra öffnete die verklebten Augenlider und blinzelte geblendet ins Sonnenlicht. Staubflocken wirbelten im Lichtstrahl, der durch die offen stehende Tür auf sie fiel. Lysandra wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, doch sie fühlte sich schlimmer als am Abend zuvor. Gewiss gab es keinen Knochen in ihrem Leib, der nicht schmerzte. Ihre Zunge schien angeschwollen zu sein. Zwar hatte man ihr den Knebel entfernt und ihr etwas faulig schmeckendes Wasser eingeflößt, doch hatte sie noch immer einen brennenden Durst. Zwei ungepflegt wirkende Männer betraten die Kammer. Es war zu spät, sich schlafend zu stellen.

»Sind wir schon da?«, fragte Lysandra.

»Diesmal läufst du selber. Wir sind es nämlich leid, dich immer schleppen zu müssen. Steh auf, du fauler Kerl!«, sagte der jüngere der beiden Männer, ein kleiner Dürrer, den sie noch nie gesehen hatte. Offenbar gehörte er zu den Sklavenhändlern.

Lysandra atmete erleichtert auf, dass sie nicht bemerkt hatten, eine Frau vor sich zu haben.

»Dazu müsstet ihr mich zuerst losbinden«, sagte sie.

Der Mann grummelte etwas Unverständliches, das sich alles andere als freundlich anhörte, nahm dann einen Dolch und schnitt ihr die Fußfesseln durch. Mühsam rappelte sich Lysandra auf. Einer ihrer Füße war eingeschlafen und kribbelte unangenehm.

»Los jetzt. Worauf wartest du?«, rief der andere Mann, ein großer Dicker.

Als Lysandra mit dem eingeschlafenen Fuß auftrat, durchzog ihn ein Schmerz, der glücklicherweise rasch nachließ. Sie humpelte die schmale Stiege hinauf und dann über Deck zum Landesteg, der so schmal war, dass sie balancieren musste, um nicht ins Meer zu fallen. Das Schiff stand in einer natürlichen Bucht, die von außen kaum einsehbar war. Für einen Handelshafen war sie zu klein, was wohl der Grund dafür war, dass sie so ungenutzt wirkte. Vorspringende Riffe und Felsen erschwerten den Bau eines Ortes, doch ein paar halb zerfallene Hütten standen in der Mitte der Bucht. Obwohl Lysandra sich nicht vorstellen konnte, dass in den Hütten noch jemand wohnte, stieg aus einem der Kamine Rauch auf. Stark rußender Rauch, wie er von einem Feuer stammte, das man auf alter Asche oder feuchten Zweigen entzündet hatte.

»Was habt Ihr mit mir vor?«, fragte Lysandra. Sie hatte gedacht, auf einen Sklavenmarkt zu landen, doch keineswegs hätte sie mit dieser Ödnis gerechnet. Ahnten die beiden schmierigen Entführer, dass sie eine Frau war, und wollten sich hier an ihr vergehen, wo niemand ihre Schreie hören würde? Jedenfalls konnte sie sich nicht vorstellen, hier verkauft zu werden. Sklavenmärkte fanden meist in größeren Städten statt. Sie wich einen Schritt vor den Männern zurück.

Der Dürre grinste schmierig. »Wir haben nichts mit dir vor, obwohl ich an so einem hübschen Knaben wie dir durchaus Gefallen finden könnte. Ah, da kommt sie ja.«

Eine alte Frau kam aus einer der Hütten gelaufen. »Da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, ich wäre bis dahin tot.«

»Schön wärs gewesen«, sagte der Dicke. »Halts Maul, Alte. Gib uns lieber den Lohn für den Kerl.«

Die Alte blickte Lysandra von oben bis unten an. »Das ist, was ich gesucht habe«, sprach sie leise. »Fesselt ihn an den Beinen! Ich bin eine schwache alte Frau und muss ihn mir erst gefügig machen.« Dazu stieß sie ein meckerndes Lachen aus, das ihren Worten spottete. Ihre gelblichen, schiefen Zähne und das strohige graue Haar wirkten ungepflegt.

Die Männer lachten ebenfalls und gaben zotige Sprüche von sich, dass sie sich durchaus vorstellen konnten, was die Alte mit dem Knaben vorhatte. Sie taten jedoch wie geheißen. Lysandras Gegenwehr war so gut wie wirkungslos. Sie blieb besiegt, gefesselt und mit Tränen in den Augen im heißen Sand liegen.

»Jetzt her mit dem Geld, Alte!«, sagte der Dicke.

»Ihr solltet Euch überlegen, mit wem Ihr so sprecht!« Die Frau reichte den zerlumpten Männern einen Beutel, den diese sogleich öffneten. Geld befand sich darin. Die Männer grinsten gierig, Zahnlücken und braune Stummel offenbarend. »Er gehört Euch«, sagte der jüngere von ihnen. Sie wandten sich ab und liefen zurück zum Schiff, das sogleich den Anker lichtete. Kurz darauf legte es ab und fuhr davon.

Lysandra starrte die Alte an, die auf sie zukam und sich über sie beugte. Sie zog einen scharf glänzenden Dolch aus ihrem Gewand. »Möchtest du mir noch etwas sagen, bevor du stirbst?«

Lysandras Herz blieb beinahe stehen vor Furcht. Sie hatte mit allem gerechnet, doch nicht damit. Die Alte musste des Wahnsinns sein. Wer sonst würde für einen unbekannten Sklaven zahlen, nur um ihn zu ermorden? Lysandra fasste all ihren Mut zusammen. Warum sollte sie schweigen, wenn sie ohnehin so gut wie tot war?

»Was wird das? Ein Ritualmord? Ein Opfer für die Götter?«, fragte Lysandra.

Die Alte lachte, was ihr faltiges Gesicht nicht gerade hübscher machte. Ihr Haar war aschgrau mit einem Stich ins Gelbe.

»Die Götter! Du bist lustig! Als würde es die Götter interessieren, ob du lebst oder stirbst! Die kehren sich einen Scheiß darum!«

»Wer seid Ihr und warum wollt Ihr mich töten?«

»Ich will dich gar nicht töten. Ich tue nur, was mir aufgetragen wurde. Mein Name ist Megaira.«

»Du bist also eine der Erinyen. Wessen Zorn habe ich auf mich gezogen?« Erinye oder nicht. Wenn die sie duzte, konnte Lysandra das auch.

»Das brauchst du nicht zu wissen. Du wirst ohnehin gleich tot sein.« Die Alte hob den Dolch an.

»Halt, ich habe ein Anrecht darauf, zu erfahren, wer sich meinen Tod wünscht.« Lysandra versuchte, das Unvermeidliche hinauszuzögern.

Eine plötzliche, heftige Windböe rauschte an Lysandra vorbei. Klauen schlugen der Alten den Dolch aus der Hand und schlitzten ihren Arm auf. Ihr Blut war schwarz!

Cel ergriff das Weib und zerrten es mit sich durch die Luft. Die Alte schrie und zappelte, doch der Greif ließ nicht von ihr ab.

»Wir werden ja sehen, wer jetzt stirbt«, sagte Cel.

»Du kannst mich nicht töten. Ich bin unsterblich!«

»Das womöglich, doch bist du nicht unverletzbar. Wenn ich so aussähe wie du, würde ich gar nicht unsterblich sein wollen.«

»Das traust du dich nur zu sagen, weil du ein Greif bist. Ich an ihrer Stelle hätte dich nicht in den edlen Greifen, sondern in ein Warzenschwein verwandelt. Oder lieber gleich umgebracht.«

»Du kennst Creusa also doch.«

»Ich kenne keine Creusa.«

»Wer hat mich dann verzaubert?«

»Das weißt du nicht?« Die Alte lachte meckernd. »Dann bist du dümmer als ich dachte.«

»Ich sollte dich für dafür zerfetzen.« Cel ließ das alte Weib ins Meer fallen. Sie tauchte unter, streckte ihr tropfendes Haupt jedoch sogleich wieder aus dem Wasser.

»Das wirst du mir büßen!«, rief sie.

»Sieh lieber zu, dass dich die Haie nicht fressen.«

»Das werden sie nicht wagen.« Die Alte kreischte und schlug um sich, als tatsächlich ein Hai näher schwamm. Ledrige schwarze Schwingen wuchsen plötzlich aus ihrem Rücken. Sie schwang sich sogleich in die Lüfte.

»Wage es nicht, uns anzugreifen«, sagte Cel.

»So weit reicht meine Loyalität nicht.« Die Alte vollführte eine komplizierte Geste mit der Hand, woraufhin schwarzer Rauch sich zu einem Tunnel mitten in der Luft verdichtete. Noch während sie hindurch flog, verblasste das Portal bereits. Letzte Rauchschwaden verzogen sich.

Lysandra blickte ihr nach. »Wie hat sie das nur gemacht?«

»Weiß ich nicht.« Cel landete neben Lysandra. Mit der Klaue schob er ihr den Dolch hin, den er der Alten aus der Hand geschlagen hatte.

»Ich habe Angst, dich zu verletzen, würde ich die Fesseln mit den Klauen zerschneiden.«

Lysandra nickte. Sie umfasste den Dolchgriff mit beiden Händen und säbelte damit an ihren Handfesseln, die sich bald lösten. Mit den Fußfesseln tat sie dasselbe.

»Das war knapp«, sagte Lysandra. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«

»Ich wusste es nicht. Ich folgte nur der Schiffstrecke, wie Hiram es mir geraten hat.«

»Hiram weiß von deiner Greifengestalt?«

»Das ließ sich leider nicht vermeiden. Ich denke jedoch, dass er schweigen wird.«

»Danke, dass du mich gerettet hast.«

»Ich brauche dich«, sagte Cel.

»Ja, ich weiß. Um das Tor ins Totenreich zu öffnen.«

»Es liegt mir etwas an dir selbst, nicht nur als Portalöffnerin, auch wenn du es mir nicht glauben magst und sich unsere Wege wieder trennen werden.«

Lysandra verspürte bei seinen Worten ein warmes Gefühl, jedoch auch ein schmerzhaftes Ziehen in der Herzgegend. Ihre Augen brannten, doch gelang es ihr, die ungeweinten Tränen zurückzudrängen. Sie wollte und durfte jetzt keiner Schwäche nachgeben.

»Was wirst du tun, wenn wir aus der Unterwelt zurück sind?«, fragte sie.

»Mir zusammen mit Sirona ein Leben aufbauen. Irgendwo in Freiheit, an einem schönen Ort, wo wir sein können, wie wir sind. Und du wirst wirklich nach Delphoí zurückkehren?«

Sie nickte. »Ich muss es tun. Der Schwur.«

»Gewiss, dass du ihn einhalten wirst, verstehe ich, allerdings ist mir unklar, warum du ihn überhaupt geleistet hast.«

»Schuld. Sie hat mich nach dem Tod meiner Eltern als Kind angenommen.«

»Als könntest du etwas dafür.«

»Sie hätte mich nicht nehmen brauchen. Das hat sie selbst oft genug gesagt.«

»Schändliche Worte. Es war ihre Pflicht. Niemand von Ehre oder Mitgefühl hätte das Kind seiner Schwester der Sklaverei ausgesetzt. Hätte Sirona Nachkommen, würde ich mich selbstverständlich um sie kümmern, sollte meiner Schwester etwas zustoßen. Ich werde Sirona entscheiden lassen, wo wir unser Leben verbringen werden.«

»Vermutlich nicht in Delphoí?«

Er schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht in Delphoí. Dort hasst man mich und trachtet mir nach dem Leben.«

Unerwartet und wider Willen empfand Lysandra Traurigkeit bei seinen Worten. Es bestand also nicht die allergeringste Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn jemals wiedersehen würde. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus.

»Vorausgesetzt, wir werden zurückkehren«, sagte er.

»Du bist wirklich sehr befähigt darin, mir Mut zuzusprechen.«

Dabei war es gerade Mut, den Lysandra brauchte, denn ihre Angst vor der Zukunft wuchs von Tag zu Tag. Es war nicht die Furcht vor dem Totenreich oder was auch immer sie dort erwarten mochte, sondern vielmehr das, was danach käme: Trostlosigkeit und Einsamkeit. Cerberos konnte so schrecklich nicht sein. Womöglich hatte sie Glück und er fraß sie.