Hans lächelte in sich hinein. Vielleicht hätte er das besser nicht getan, aber er konnte es nicht lassen. Natürlich würden sie es am Anfang schwer haben. Viele würden sie beschimpfen und kritisieren und ihnen bestimmt Gott und die Sünde und ähnliche Dinge vorhalten. Doch wenn das Schlimmste überstanden war, konnten sie anfangen, sich gemeinsam ein Leben aufzubauen; Elsy, er und das Kind. Wie sollte er da etwas anderes als Freude empfinden?
Das Lächeln auf seinen Lippen erlosch jedoch, als er an das dachte, was ihm bevorstand. Es war keine leichte Aufgabe. Ein Teil von ihm hätte sich am liebsten gar nicht um die Vergangenheit geschert, sondern wäre einfach hiergeblieben, als hätte er nie ein anderes Leben gelebt. Dieser Teil wollte so tun, als wäre er an dem Tag, als er das Boot von Elsys Vater bestieg, neugeboren worden, ein weißes und unbeschriebenes Blatt.
Doch nun war der Krieg vorbei. Und das veränderte alles. Er konnte nicht einfach so weiterleben, sondern musste vorher einen Schritt zurückgehen. Vor allem seiner Mutter zuliebe. Er musste sich davon überzeugen, dass es ihr gutging, und ihr sagen, dass er noch lebte und eine neue Heimat gefunden hatte.
Hans packte Kleidung für einige Tage in eine Reisetasche. Eine Woche. Länger wollte er nicht fortbleiben. Wahrscheinlich konnte er es auch gar nicht länger ohne Elsy aushalten. Sie war ein so wichtiger Teil von ihm geworden, dass er gar nicht daran denken mochte, länger als nötig von ihr getrennt zu sein. Wenn er diese Reise hinter sich hatte, würden sie für immer zusammenbleiben. Jeden Abend konnten sie dann gemeinsam ins Bett gehen und ohne Schande, Scham und Heimlichtuerei in den Armen des anderen aufwachen. Er hatte es ernst gemeint, als er sagte, er wolle eine Heiratserlaubnis beantragen. Dann konnten sie noch vor der Geburt des Kindes heiraten. Er fragte sich, was es wohl werden würde. Während er seine Siebensachen zusammenlegte, wurde er wieder froh. Ein kleines Mädchen mit Elsys sanftem Lächeln. Oder ein kleiner Junge mit seinen Locken. Es war ganz egal. Er war so glücklich, dass er dankbar alles annehmen wollte, was Gott ihnen in seiner Güte schenken würde.
Als er einen Pullover aus der Schublade nahm, fiel ein harter Gegenstand, der in ein Stück Stoff gewickelt war, scheppernd auf den Fußboden. Rasch beugte er sich hinunter, um ihn wieder aufzuheben. Er ließ sich schwerfällig auf sein Bett sinken und betrachtete das Ding. Es war das Eiserne Kreuz, das sein Vater zur Belohnung für seine Leistungen im ersten Kriegsjahr erhalten hatte. Er hatte es seinem Vater gestohlen und mitgenommen, damit er sich immer daran erinnerte, wovor er geflohen war, als er Norwegen verließ. Außerdem sollte es als zusätzliche Sicherheit für den Fall dienen, dass die Deutschen ihn aufgriffen, bevor er Schweden erreicht hatte. Danach hätte er den Orden loswerden müssen, das wusste er. Falls irgendjemand in seinen Habseligkeiten stöberte und ihn fand, würde sein Geheimnis ans Licht kommen. Aber er brauchte ihn. Damit er nicht vergaß.
Er empfand keine Trauer darüber, seinen Vater hinter sich gelassen zu haben. Am liebsten wollte er nie wieder etwas mit diesem Mann zu tun haben. Er stand für alles Schlechte im Menschen, und Hans schämte sich, weil er in einer gewissen Lebensphase nicht die Kraft gehabt hatte, sich ihm zu widersetzen. Bilder kamen in ihm hoch. Grausam und unerbittlich zeigten sie eine Person und ihre Handlungen, mit der er nichts mehr gemein hatte. Es war eine schwache Person, die sich dem väterlichen Willen beugte, am Ende aber den Mut fand, sich zu befreien. Er umklammerte den Orden so fest, dass er ihm in die Hand schnitt. Er würde nicht zurückkehren, um seinen Vater zu treffen. Vermutlich hatte sein Schicksal ihn ohnehin eingeholt und ihm die Strafe auferlegt, die er verdiente. Aber er musste seine Mutter sehen. Die Sorge, die sie seinetwegen haben musste, hatte sie nicht verdient. Sie wusste nicht einmal, ob er tot war oder lebte. Er musste mit ihr sprechen, ihr zeigen, dass es ihm gutging, und ihr von Elsy und dem Kind erzählen. Irgendwann könnte er sie vielleicht sogar überreden, nach Schweden zu kommen und mit ihm und Elsy zusammenzuleben. Er glaubte nicht, dass Elsy etwas dagegen haben würde. Ihr gutes Herz gehörte zu dem, was er am meisten an ihr liebte. Sie und seine Mutter würden sich bestimmt verstehen.
Hans stand auf und legte den Orden nach kurzem Zögern wieder in die Schublade. Er konnte dort liegenbleiben, bis er zurückkam. Als Erinnerung an das, was er nie wieder sein wollte. Ein feiger, schwacher Junge. Für Elsy und das Kind musste er jetzt ein Mann sein.
Er machte die Tasche zu und sah sich in dem Zimmer um, in dem er im vergangenen Jahr so viel Schönes erlebt hatte. Sein Zug ging in ein paar Stunden. Vor der Abfahrt musste er nur noch eine Sache erledigen. Er musste mit einer ganz bestimmten Person reden. Er ging hinaus. Als die Tür ins Schloss fiel, überkam ihn plötzlich eine schicksalsschwere Ahnung. Als ob irgendetwas schiefgehen würde. Dann schüttelte er das Gefühl ab und ging. In einer Woche würde er ja wieder hier sein.
Obwohl Patrik ihr anbot, sie zu begleiten, bestand Erica darauf, ohne ihn nach Göteborg zu fahren. Diese Sache musste sie allein angehen.
Sie blieb eine Weile vor der Tür stehen, bevor sie sich überwinden konnte, den Finger zu heben und auf die Klingel zu drücken, doch schließlich konnte sie es nicht länger hinauszögern.
Märta warf ihr einen erstaunten Blick zu, dann trat sie zur Seite und ließ sie herein.
»Entschuldigen Sie die Störung.« Erica hatte plötzlich einen trockenen Hals. »Ich hätte vorher anrufen sollen, aber …«
»Keine Sorge.« Märta lächelte sie freundlich an. »In meinem Alter ist man so dankbar für Gesellschaft, dass man sich immer freut. Kommen Sie herein.«
Erica folgte ihr durch den Flur, und sie setzten sich ins Wohnzimmer. Sie überlegte fieberhaft, wie sie beginnen sollte, doch Märta kam ihr zuvor.
»Sind Sie mit diesen Mordfällen weitergekommen?«, fragte sie. »Es tut mir leid, dass wir Ihnen neulich nicht helfen konnten, aber wie gesagt, in unsere finanziellen Angelegenheiten hatte ich keinen Einblick.«
»Ich weiß, wofür das Geld war. Oder besser gesagt, für wen«, sagte Erica. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Märta sah sie verwundert an, schien aber nicht zu begreifen, was sie meinte.
Erica sah der alten Dame in die Augen und sagte langsam und sanft: »Im November 1945 hat meine Mutter Ihren Sohn zur Welt gebracht und sofort zur Adoption freigegeben. Er wurde in Borlänge, im Haus der Schwester meiner Großmutter geboren. Ich glaube, dass der Mann, der ermordet wurde, Erik Frankel, Ihrem Mann das Geld für das Kind überwiesen hat.«
Es war totenstill im Wohnzimmer. Dann senkte Märta den Blick. Erica sah, dass ihre Hände zitterten.
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, aber Wilhelm hat mir nie etwas davon erzählt und … vielleicht wollte ich es auch gar nicht wissen. Er war irgendwie immer unser Junge, und auch wenn es furchtbar kaltherzig klingt, habe ich mir kaum Gedanken darüber gemacht, dass er von einer anderen geboren wurde. Er gehörte doch uns. Mir und Wilhelm. Mehr hätte ich ihn auch nicht lieben können, wenn ich ihn selbst zur Welt gebracht hätte. Wir haben uns so nach einem Kind gesehnt, haben es so lange versucht und … ja, Göran war ein Geschenk des Himmels.«
»Weiß er, dass …«
»Er adoptiert ist? Das haben wir ihm nie verheimlicht. Aber wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich nicht, dass er sich deswegen viele Gedanken gemacht hat. Wir waren doch seine Eltern und seine Familie. Wilhelm und ich haben uns manchmal gefragt, wie wir reagieren würden, falls er eines Tages den Wunsch äußern sollte, mehr über … seine biologischen Eltern zu erfahren. Aber wir einigten uns jedes Mal darauf, dass wir uns darüber den Kopf zerbrechen konnten, wenn es so weit war, und da Göran kein Interesse daran zu verspüren schien, ließen wir die Sache auf sich beruhen.«
»Ich mag ihn«, sagte Erica spontan und versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Mann, den sie bei ihrem letzten Besuch hier getroffen hatte, ihr Bruder war. Nein, korrigierte sie sich, der Bruder von Anna und ihr.
»Sie waren ihm auch auf Anhieb sympathisch«, strahlte Märta plötzlich. »Ein Teil von mir muss unterbewusst darauf reagiert haben, dass Sie ihm ähneln. Ihre Augen sind irgendwie … ich weiß nicht, aber gewisse Züge haben Ähnlichkeit.«
»Wie würde er Ihrer Meinung nach reagieren, wenn er …« Erica wagte nicht, den Satz zu beenden.
»Wenn man bedenkt, wie er als Kind um ein Geschwisterchen gebettelt hat, müsste er eine kleine Schwester eigentlich mit offenen Armen empfangen«, lächelte Märta, die sich von dem ersten Schock anscheinend erholt hatte.
»Zwei Schwestern«, sagte Erica. »Ich habe noch eine jüngere Schwester, die Anna heißt.«
»Zwei Schwestern«, echote Märta und schüttelte den Kopf. »Sieh mal an. Das Leben überrascht einen immer wieder. Sogar in meinem Alter.« Dann wurde sie ernst. »Hätten Sie etwas dagegen, mir etwas über Ihre … und seine Mutter zu erzählen?« Sie sah Erica forschend an.
»Natürlich nicht.« Erica erzählte als Erstes, wie es dazu kam, dass Elsy ihr Kind abgeben musste. Sie sprach über eine Stunde und bemühte sich, dieser Frau, die das Kind großgezogen und geliebt hatte, ein gerechtes Bild von ihrer Mutter und deren Situation zu vermitteln.
Als die Wohnungstür geöffnet wurde und im Flur eine fröhliche Stimme ertönte, zuckten beide zusammen.
»Hallo, Mama, hast du Besuch?« Schritte näherten sich dem Wohnzimmer.
Fragend suchte Erica Märtas Blick. Mit einem kaum merklichen Nicken gab sie ihre Zustimmung. Die Zeit der Geheimnisse war vorbei.
Vier Stunden später waren sie kurz vorm Verzweifeln. Obwohl sich ihre Augen nach einer Weile so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass sie zumindest Konturen erkennen konnten, kamen sie sich in dem stockfinsteren Keller wie Maulwürfe vor.
»So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt«, seufzte Paula. »Glaubst du, dass die bald eine Fahndung rausschicken?«, scherzte sie halbherzig, konnte es sich aber nicht verkneifen, daraufhin wieder tief zu seufzen.
Martin, der noch einige Male heftig mit der Tür zusammengekracht war, rieb sich die Schulter. Er würde mit Sicherheit einen imposanten blauen Fleck davontragen.
»Er ist jetzt bestimmt ganz weit weg.« Paula spürte Frustration in sich aufsteigen.
»Durchaus möglich«, stimmte Martin ihr zu und heizte ihren Missmut nur noch an.
»Donnerwetter, was der hier unten alles aufbewahrt.« Paula kniff die Augen zusammen, um die unzähligen Gegenstände in den Kellerregalen zu erkennen.
»Die meisten Sachen gehören Erik«, sagte Martin. »Soweit ich weiß, ist er der Sammler.«
»Dieser ganze Nazikram muss doch ein Vermögen wert sein.«
»Klar. So ist das eben. Wenn man sein ganzes Leben sammelt, bekommt man einiges zusammen.«
»Warum hat er das wohl gemacht?« Paula starrte in die Dunkelheit und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie mittlerweile als Tatsache ansah. Wenn sie ehrlich sein sollte, war sie sich bereits sicher gewesen, als sie über sein Alibi nachdachte. In dem Moment war ihr nämlich die Idee gekommen, zu kontrollieren, ob Axel Frankels Name auch auf der Passagierliste eines anderen Fluges im Juni vorkam. Als sie sein Alibi überprüften, hatte sie schließlich nur festgestellt, dass er tatsächlich mit den von ihm selbst genannten Maschinen geflogen war, aber sich nicht die Frage gestellt, ob er noch andere Flüge gebucht hatte. Nun hatten sie es schwarz auf weiß. Am sechzehnten Juni war ein Axel Frankel von Paris nach Göteborg und am selben Tag wieder zurückgeflogen.
»Ich weiß nicht«, antwortete Martin. »Ich verstehe das immer noch nicht. Die Brüder scheinen doch ein gutes Verhältnis zueinander gehabt zu haben. Warum sollte Axel Erik erschlagen? Was hat so eine starke Reaktion hervorgerufen?«
»Es muss etwas mit dem plötzlichen Kontakt zwischen Erik, Axel, Britta und Frans zu tun haben. Es kann kein Zufall gewesen sein. Und irgendwie muss es auch mit dem Mord an dem Norweger zusammenhängen.«
»So weit war ich auch schon. Aber wie? Und warum? Nach sechzig Jahren. Das verstehe ich einfach nicht.«
»Wir werden ihn fragen müssen. Falls wir hier jemals wieder rauskommen und ihn überhaupt in die Finger bekommen. Inzwischen ist er sicher unterwegs zu fernen Ländern«, sagte Paula niedergeschlagen.
»Vielleicht finden sie unsere Skelette erst in einem Jahr«, scherzte Martin, doch sein Humor fand keinen Anklang.
»Wenn wir Glück haben, bricht wieder ein Nachbarjunge ein«, erwiderte Paula trocken und erntete einen Ellbogen in der Seite.
»Mensch! Das ist gut!«, sagte Martin aufgeregt, während Paula sich den unteren Rücken massierte.
»Warum auch immer du das gemacht hast, ich hoffe, es hat sich gelohnt, eine meiner Nieren dafür zu opfern«, zischte sie wütend.
»Weißt du noch, was Per im Verhör gesagt hat?«
»Ich war nicht dabei, du hast ihn mit Gösta vernommen«, erinnerte sie ihn, doch ihr Interesse schien geweckt.
»Er hat erzählt, dass er durch ein Kellerfenster eingebrochen ist, als er hier war.«
»Wenn es hier ein Kellerfenster gäbe, wäre es nicht so dunkel«, schnaubte Paula skeptisch und blickte forschend zu den Wänden.
Martin stand auf und tappte zur Außenwand.
»Er hat es aber gesagt. Es muss Fenster geben. Vielleicht sind sie verhängt. Du hast selbst gesagt, dass die Sammlung hier unten ein Vermögen wert sein muss. Möglicherweise wollte Erik nicht, dass man seine Schätze von außen sieht.«
Nun erhob sich Paula ebenfalls. Als er an die gegenüberliegende Wand stieß, hörte sie ein »Aua«, doch als darauf ein »Aha!« folgte, fasste sie wieder Mut, und als Martin das dicke Stück Stoff von einem Fenster wegriss und plötzlich Tageslicht hereindrang, verwandelte sich die Hoffnung in ein Triumphgefühl.
»Hätte dir das nicht schon vor ein paar Stunden einfallen können?«, fragte sie bockig.
»Sei mir lieber dankbar, dass ich uns befreit habe!«, antwortete Martin fröhlich und öffnete das Fenster. Dann stellte er einen Stuhl direkt darunter.
»Ladies first!«
»Danke«, brummte Paula und schlängelte sich nach draußen.
Martin kletterte kurz darauf hinter ihr her. Einen Moment lang blieben sie regungslos stehen, um sich wieder an das gnadenlose Tageslicht zu gewöhnen. Dann setzten sie sich in Bewegung. Sie rannten zur Haustür, mussten aber feststellen, dass sie abgeschlossen war, und diesmal lag kein Schlüssel auf dem Balken. Das bedeutete, dass ihre Jacken mit den Mobiltelefonen und dem Autoschlüssel drinnen eingeschlossen waren. Martin wollte sich gerade auf den Weg zum nächsten Nachbarn machen, als er es laut krachen hörte. Nachdem er sich erschrocken umgedreht hatte, sah er eine zufriedene Paula, die einen Stein in ein Fenster im Erdgeschoss geworfen hatte.
»Ich dachte mir, wenn wir durch ein Fenster rauskommen, kommen wir auf diesem Weg auch wieder rein.« Mit einem Ast entfernte sie die restlichen Glassplitter aus dem Rahmen und sah Martin herausfordernd an.
»Was ist los? Willst du Axel noch mehr Vorsprung geben oder hilfst du mir?«
Martin zögerte nicht eine Sekunde, sondern hievte seine Kollegin hinein und stieg hinterher. Jetzt ging es darum, Erik Frankels Mörder einzuholen. Axel hatte bereits einen viel zu großen Vorsprung. Und sie hatten noch immer viel zu viele unbeantwortete Fragen.
Er kam nur bis zum Flughafen Göteborg-Landvetter. Dort blieb er sitzen. Das Adrenalin, das durch seine Adern rauschte, als er die beiden Polizisten im Keller einsperrte, sein Gepäck in den Kofferraum warf und losraste, war verbraucht, und nun empfand er nur noch Leere.
Während ein Flugzeug nach dem anderen abhob, saß Axel ganz still da und starrte aus dem Fenster. Jedes davon hätte er nehmen können. Er hatte das Geld und die Kontakte. Er konnte verschwinden, wo und wie er wollte, denn er war so lange der Jäger gewesen, dass er genau wusste, wie sich ein Gejagter verstecken musste. Aber er wollte gar nicht. Zu diesem Schluss war er gekommen. Er konnte fliehen, aber er wollte nicht. Deswegen war er hier, im Niemandsland, sitzen geblieben, hatte die landenden und startenden Flieger beobachtet und darauf gewartet, dass ihn sein Schicksal am Ende einholte. Zu seinem Erstaunen war das kein so entsetzliches Gefühl, wie er geglaubt hatte. Vielleicht hatten diejenigen, die er gejagt hatte, etwas Ähnliches empfunden, wenn er eines Tages an ihre Tür geklopft und sie mit ihrem richtigen Namen angesprochen hatte. Eine seltsame Mischung aus Erschrecken und Erleichterung.
In seinem Fall war der Preis zu hoch gewesen. Es hatte ihn Erik gekostet.
Wenn nur Elsys Tochter nicht mit diesem Orden gekommen wäre, der alles symbolisierte, was er zu vergessen versucht hatte, obwohl er damit leben musste. All das hatte sie auf einen Schlag wieder zum Leben erweckt, und Erik hatte das als Zeichen gewertet, dass es nun an der Zeit war. Denn natürlich hatte Erik schon öfter davon gesprochen, dass sie ins Reine bringen sollten, was sie konnten, oder sich zumindest verantworten mussten. Nicht vor dem Gesetz. Dafür war es zu spät. Auf strafrechtlicher Grundlage konnten sie nicht mehr verurteilt werden. Aber auf menschlich-moralischer Ebene. Vor ihren Mitmenschen müssten sie für das, was sie getan hatten, geradestehen, hatte Erik gesagt. Starrsinnig beharrte er darauf, dass sie die Schande und Verurteilung, vor der sie sich so lange gedrückt hatten, verdient hätten.
Axel war es jedoch immer wieder gelungen, ihn zu beruhigen und ihm klarzumachen, dass das nichts nützen würde. Es würde nur Schaden anrichten. Denn das, was geschehen war, ließ sich nicht rückgängig machen. Wenn sie es hinter sich ließen, könnte Axel sein Leben der Wiedergutmachung und Gerechtigkeit widmen. Für ihre eigene Schuld konnte er zwar nicht einstehen, aber seine Arbeit diente der guten Sache und bekämpfte das Böse. Und wenn Erik weiterhin darauf bestand, dass sie für alte Sünden büßen müssten, könnte er nicht weiterarbeiten. Was passiert war, könne man nicht mehr ändern, und es sei sinnlos, all das Gute, das sie geleistet hätten und noch leisten würden, für eine Sühne zu opfern, die niemandem etwas brachte. Selbst das Gesetz stünde ihrem Verbrechen gleichgültig und machtlos gegenüber.
Erik hörte zu und versuchte zu verstehen, aber tief im Innern wusste Axel, dass die Schuldgefühle an seinem Bruder nagten und ihn innerlich auffraßen, bis nur noch Scham übrig war. Axel bemühte sich, seinen Bruder für die Idee einer Welt aus Grautönen zu gewinnen, obwohl er wusste, dass es auf die Dauer nicht funktionieren würde. Denn in Eriks Welt gab es nur schwarz und weiß. Fakten. Keine Zweideutigkeiten. Seine Welt bestand aus Jahreszahlen und Namen, Daten und Orten, in schwarzer Schrift auf weißem Grund. Damit hatte Axel zu kämpfen. Lange Zeit erfolgreich. Sechzig Jahre. Dann war Erica Falck mit einem Symbol aus der Vergangenheit über ihre Schwelle getreten. Gleichzeitig ließ eine Krankheit, die Brittas Gehirn angriff, allmählich auch ihre Verteidigungsmauern einstürzen.
Erik schwankte immer mehr. Axels Panik steigerte sich von Tag zu Tag. Verzweifelt redete er auf ihn ein. Er konnte sich nicht für etwas verantworten, das nicht zu ihm passte. Denn so kannten die Menschen ihn nicht. Alles, was er darstellte, alles, was andere in ihm sahen, würde sich in Schall und Rauch auflösen. Und dann blieb nur noch das Entsetzliche übrig. Sein Lebenswerk würde in sich zusammenfallen.
Dieser Tag im Arbeitszimmer. Erik rief ihn in Paris an und sagte, es sei jetzt an der Zeit. Einfach so. Er klang betrunken, was ungeheuer besorgniserregend war, weil Erik sonst nur wenig Alkohol trank. Er weinte am Telefon und sagte, er könne es nun nicht mehr vor sich herschieben. Von Viola habe er Abschied genommen, weil er ihr die Schande ersparen wollte, wenn die Wahrheit ans Licht kam. Dann murmelte Erik, er habe den Stein bereits ins Rollen gebracht, könne nun nicht länger darauf warten, dass jemand anders ihre schmutzige Wäsche ans Licht zerrte, weil er selbst nicht den Mut zu einem Geständnis habe. Jetzt sei Schluss mit der Feigheit und dem Warten, lallte er, während Axel mit schweißnasser Hand den Telefonhörer umklammerte.
Axel stürzte in das erstbeste Flugzeug nach Hause, um mit ihm zu diskutieren und ihn zu überzeugen. Er fand seinen Bruder im Arbeitszimmer. Axel schloss die Augen. Das Herz tat ihm weh, als er ihn wieder vor sich sah. Erik saß am Schreibtisch. Gedankenverloren kritzelte er auf seinem Notizblock herum, während er mit rauer und tonloser Stimme die Worte sagte, die Axel seit Jahrzehnten fürchtete. Erik hatte sich entschieden. Die Schuldgefühle fraßen ihn auf, und er konnte nicht länger dagegen angehen. Klar und deutlich teilte er Axel mit, er habe Schritte eingeleitet, damit sie sich nun endlich der Verantwortung stellten.
Axel hatte gehofft, Eriks Worte am Telefon wären nur leeres Gerede gewesen und der Bruder hätte Vernunft angenommen, als er wieder nüchtern war. Jetzt wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte. Der Bruder stand mit beängstigender Willensstärke zu seinem Entschluss.
Axel hatte Erik angefleht, das längst Begrabene nicht wieder aufzuwühlen, doch sein Bruder hielt zum ersten Mal unbeirrbar an seinem Standpunkt fest. Diesmal würde es ihm nicht gelingen, ihn mit Argumenten dazu zu bewegen, die Sache aufzuschieben. Diesmal hatte Erik sich entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er sprach auch von dem Kind und erzählte ihm zum ersten Mal, wie er es mithilfe von Nachforschungen gefunden hatte. Es sei ein Junge, und er habe ihm, seit er ein eigenes Einkommen hatte, jeden Monat etwas Geld überwiesen. Als eine Art Wiedergutmachung für das, was sie ihm genommen hatten. Der Vater des Jungen glaubte wahrscheinlich, er sei der leibliche Vater, und akzeptierte die Zahlungen ohne weitere Fragen. Doch das reichte nicht. Diese Buße linderte den Schmerz nicht, der ihn fast zerriss, sondern machte die Folgen ihrer Handlung nur noch deutlicher. Nun müsse die wirkliche Buße kommen, sagte Erik und blickte seinem Bruder in die Augen.
Axel sah sein Leben vor sich. Er betrachtete sich selbst von außen. Das Bild, das die Leute von ihm hatten. Ihm wurde so viel Bewunderung und Respekt gezollt. Alles weg. Mit einem Fingerschnippen würde das alles verschwinden. Dann sah er das Lager. Den Häftling neben ihm, der in die Grube gestoßen wurde, die sie aushoben. Den Hunger, den Gestank und die Demütigungen. Das Gefühl, als der Gewehrkolben ihn am Ohr traf und darin etwas riss. Der tote Mann an seiner Seite auf der Fahrt durch Europa. Alles war wieder da. Er hörte die Geräusche, nahm die Gerüche wahr und empfand wieder den rasenden Zorn, der ständig in seiner Brust schwelte, auch wenn er vollkommen entkräftet nur noch ans Überleben und an den nächsten Tag dachte. Den Bruder in dem Stuhl vor ihm sah er nicht mehr, sondern alle, die ihn erniedrigt und verletzt hatten und ihn nun höhnisch und schadenfroh verlachten und sich freuten, dass diesmal er zum Schafott geführt würde. Doch diese Befriedigung gönnte er ihnen nicht. All die Toten und die Lebenden standen in einer Reihe und lachten ihn aus. Das würde er nicht überstehen. Aber er musste überleben. Alles andere zählte nicht.
Es rauschte noch schlimmer als sonst in seinen Ohren, und er hörte nicht, was Erik sagte, sondern sah nur, dass seine Lippen sich bewegten. Aber das war nicht mehr Erik, sondern der junge Wächter in Grini, der so freundlich mit ihm geredet und ihm vorgegaukelt hatte, ein Mitmensch zu sein. Er hatte Axel glauben lassen, er wäre das einzig Menschliche an einem unmenschlichen Ort. Er, der ihm später in die Augen sah, das Gewehr hob und es mit dem Kolben nach unten sausen ließ, auf sein Ohr. Mitten ins Herz hatte er ihn getroffen.
Voller Wut und Schmerz griff Axel nach dem nächstliegenden Gegenstand. Er hielt die schwere Steinbüste über Eriks Kopf in die Höhe, während Erik weitersprach und dabei etwas auf den Block auf seinem Schreibtisch kritzelte.
Dann ließ er die Büste los. Er wandte keine Kraft auf, sondern ließ sie einfach mit ihrem ganzen Gewicht auf den Kopf des Bruders fallen. Nein, nicht auf Eriks Kopf. Sondern auf den des Wächters. Oder war es doch Erik? Alles war so durcheinander. Er befand sich zu Hause in der Bibliothek, aber die Gerüche und Geräusche waren vollkommen lebendig. Der Leichengestank, das Stiefeltrampeln, deutsche Befehle, die einen weiteren Tag im Leben oder den Tod bedeuten konnten.
Axel hörte immer noch das Geräusch, mit dem der schwere Stein auf Haut und Knochen prallte. Dann war es vorbei. Erik gab ein letztes Stöhnen von sich und sackte mit offenen Augen in sich zusammen. Nach dem ersten Schock, als er begriff, was er getan hatte, überkam ihn seltsamerweise Ruhe. Es war unausweichlich gewesen. Vorsichtig legte er die schwere Büste unter den Schreibtisch, streifte die blutigen Handschuhe ab und steckte sie in die Jackentasche. Dann zog er die Rollos herunter, schloss die Tür ab, setzte sich wieder ins Auto, fuhr zurück zum Flughafen und nahm den nächsten Flug nach Paris. Um das Ganze zu verdrängen, stürzte er sich in die Arbeit. Bis die Polizei anrief.
Es war schwer gewesen, nach Hause zu kommen. Zuerst wusste er überhaupt nicht, wie er wieder einen Fuß ins Haus setzen sollte. Doch nachdem die beiden freundlichen Polizisten ihn vor dem Haus abgesetzt hatten, nahm er sich zusammen und erledigte ganz einfach die notwendigen Dinge. Nach einigen Tagen schloss er allmählich Frieden mit dem Geist von Erik, dessen Anwesenheit er noch immer spürte. Erik hatte ihm vergeben. Was er Britta angetan hatte, würde Erik ihm jedoch nie verzeihen. Er hatte zwar nicht selbst Hand an sie gelegt, doch die Konsequenzen seines Anrufs bei Frans hatte er einkalkuliert. Als er Frans mitteilte, dass Britta alles an die Öffentlichkeit bringen wollte, wusste er genau, was er tat. Sorgfältig wählte er seine Worte und Formulierungen und äußerte alles, was nötig war, um Frans als hochpräzise tödliche Waffe zu benutzen. Ihm war bewusst, dass Frans’ politischer Ehrgeiz und seine Sehnsucht nach Status und Macht die Führung übernehmen würden. Schon am Telefon war die wahnsinnige Wut zu hören, die immer Frans’ Antrieb gewesen war. Er trug also genauso viel Schuld am Tod von Britta wie Frans. Und das quälte ihn. Er konnte nicht vergessen, wie ihr Mann sie angesehen hatte. Er betrachtete sie mit einer Liebe, die er niemals auch nur annähernd kennengelernt hatte. Und diese Liebe und Gemeinschaft hatte er ihnen genommen.
Axel sah noch ein Flugzeug starten und in eine unbekannte Richtung fliegen. Er war am Ende seiner Reise angekommen. Nun konnte er nirgendwo mehr hin.
Als sich nach stundenlangem Warten endlich eine Hand auf seine Schulter legte und er seinen Namen hörte, atmete er auf.
Paula küsste Johanna auf die Wange und ihren Sohn auf den Mund. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie alles verpasst hatte. Und Mellberg durfte dabei sein!
»Es tut mir so leid!« Sie wusste schon nicht mehr, zum wievielten Mal sie diesen Satz wiederholte.
Johanna lächelte müde. »Ich war zwar ziemlich sauer, als ich dich nicht erreichen konnte, das gebe ich zu, aber wenn du eingesperrt warst, konntest du ja nichts dafür. Ich bin froh, dass es dir gutgeht.«
»Das bin ich auch. Also, dass es dir gutgeht.« Paula gab ihr noch einen Kuss. »Er ist … wunderbar.« Wieder betrachtete sie den Jungen in Johannas Armen und konnte kaum glauben, dass er da war. Dass er wirklich endlich da war!
»Nimm ihn mal.« Johanna reichte ihr das Kind, und Paula setzte sich mit ihm neben das Bett und wiegte ihn in ihren Armen. »Wer konnte ahnen, dass Ritas Handy ausgerechnet heute den Geist aufgibt.«
»Mama ist am Boden zerstört.« Paula zwitscherte ihrem neugeborenen Sohn etwas vor. »Sie denkt, dass du nie wieder ein Wort mit ihr sprichst.«
»Ach was, das war doch nicht ihre Schuld. Und am Ende hat mir schließlich doch noch jemand geholfen«, lachte sie.
»Meine Güte, wer hätte das gedacht?« Paula hatte sich noch immer nicht von dem Schock erholt, dass ihr Chef bei der Geburt ihres Sohnes assistiert hatte. »Du solltest ihn da draußen im Wartezimmer hören! Er plustert sich vor meiner Mutter auf und schwärmt ihr was von dem kleinen Prachtkerl und der tapferen Gebärenden vor. Falls sie nicht ohnehin längst in ihn verliebt war, ist sie spätestens jetzt, nachdem er zur Geburt ihres Enkelsohns beigetragen hat, bis über beide Ohren in ihn verschossen. Manometer …« Paula schüttelte den Kopf.
»Eine Zeitlang sah es so aus, als wollte er sich jeden Augenblick aus dem Staub machen, aber er ist offensichtlich aus härterem Holz geschnitzt, als ich dachte.«
Als hätte er gehört, dass über ihn gesprochen wurde, klopfte es, und Bertil und Rita steckten die Köpfe ins Zimmer.
»Kommt rein«, winkte Johanna ihnen zu.
»Wir wollten mal gucken, wie es dir geht.« Rita ging zu ihrer Tochter und ihrem Enkelsohn.
»Klar, es ist ja auch schon eine halbe Stunde vergangen, seit ihr zuletzt hier wart«, neckte Johanna sie.
»Wir müssen doch wissen, ob er inzwischen gewachsen ist oder einen Bart bekommt.« Mellberg strahlte übers ganze Gesicht, während er sich mit sehnsüchtigem Blick dem Jungen näherte. Rita beobachtete ihn. Aus ihren Augen sprach eindeutig Verliebtheit.
»Darf ich ihn noch einmal auf den Arm nehmen?«, konnte sich Mellberg nicht verkneifen zu fragen.
Paula nickte. »Du hast es dir redlich verdient«, antwortete sie und reichte ihm das Kind.
Dann lehnte sie sich zurück und beobachtete, wie Mellberg das Kind und Rita ihn anblickte. Ihr war zwar mitunter der Gedanke gekommen, ihr Sohn könnte vielleicht auch ein männliches Vorbild im Leben brauchen, in dieser Rolle hätte sie sich aber niemals Bertil Mellberg vorgestellt. Als sie nun jedoch begriff, dass es diese Option tatsächlich gab, fand sie sie gar nicht mehr so übel.