Borlänge 1945

Er kam nie zurück. Zum Abschied hatte er sie geküsst und gesagt, er wäre bald wieder da. Sie hatte gewartet. Am Anfang in fester Überzeugung und dann mit leichter Unruhe, die sich zu einer immer heftigeren Panik steigerte. Denn er kam nie wieder. Er hatte sein Versprechen nicht eingehalten und sie und das Kind im Stich gelassen. Dabei war sie sich so sicher gewesen. Sie wäre gar nicht auf die Idee gekommen, sein Versprechen in Frage zu stellen, sondern hatte es für selbstverständlich erachtet, dass er sie genauso liebte wie sie ihn. Naives, dummes Mädel. Wie viele Mädchen auf der Welt waren bereits auf diesen alten Trick hereingefallen?

Als man es nicht länger verbergen konnte, musste sie zu ihrer Mutter gehen. Ohne Hilma in die Augen sehen zu können, erzählte sie ihr alles. Dass sie sich hatte täuschen lassen, dass sie ihm geglaubt hatte und dass sie nun ein Kind im Bauch hatte. Zu Beginn sagte ihre Mutter gar nichts. Ein totes, kaltes Schweigen breitete sich in der Küche aus. Erst jetzt krallte sich die Angst in Elsys Herz richtig fest. Bis jetzt hatte sie noch ein klein wenig Hoffnung gehabt, Mutter würde sie in den Arm nehmen, sie sanft wiegen und sagen: »Liebes Kind, wir finden eine Lösung. Es gibt bestimmt einen Ausweg.« Die Mutter, die sie vor dem Tod ihres Vaters gehabt hatte, hätte sich so verhalten. Sie hätte die Kraft gehabt, sie trotz der Schande zu lieben. Aber ohne Vater war Mutter nicht mehr sie selbst. Ein Teil von ihr war mit ihm gestorben, und der Rest war nicht stark genug.

Also hatte sie stattdessen wortlos eine Tasche mit dem Allernötigsten für Elsy gepackt. Dann hatte sie ihre sechzehnjährige schwangere Tochter mit einem handgeschriebenen Brief in der Tasche in einen Zug nach Borlänge gesetzt. Dort wohnte ihre Schwester auf einem Bauernhof. Sie konnte sich nicht einmal überwinden, sie zum Bahnhof zu begleiten und ihr hinterherzuwinken, sondern sagte nur kurz im Hausflur Lebwohl und verschwand in der Küche. Die offizielle Version lautete, Elsy sei abgereist, um die Hauswirtschaftsschule zu besuchen.

Seitdem waren fünf Monate vergangen. Es war keine leichte Zeit gewesen. Obwohl nicht nur ihr Bauch, sondern auch ihr gesamter Körper von Woche zu Woche schwerer wurde, musste sie genauso hart arbeiten wie alle anderen auf dem Hof. Von früh bis spät rackerte sie sich mit all den Pflichten ab, die ihr auferlegt wurden, während die Last in ihrem Bauch, die nun zu strampeln begonnen hatte, ihr immer stärkere Rückenschmerzen bereitete. Eine Stimme in ihr wollte das Kind hassen. Aber es gelang ihr nicht. Es war ein Teil von ihr und von Hans, und selbst den konnte sie nicht richtig hassen. Wie sollte sie denn etwas verabscheuen, was sie beide verband? Doch es war bereits alles arrangiert. Man würde ihr das Kind gleich nach der Geburt wegnehmen und zur Adoption freigeben. Hilmas Schwester Edith sagte, es gebe keine andere Möglichkeit. Ihr Mann Anton hatte alles Praktische in die Wege geleitet und murmelte dabei ständig etwas von der Schande vor sich hin, dass die Nichte seiner Frau für den Erstbesten die Beine breitgemacht hatte. Elsy konnte nicht widersprechen. Sie ließ die Beschimpfungen klaglos über sich ergehen, denn sie hatte auch keine Erklärung. Es ließ sich ja nicht leugnen, dass Hans nicht zurückgekommen war. Obwohl er es versprochen hatte.

Die Wehen setzten früh am Morgen ein. Zuerst dachte sie, die üblichen Rückenschmerzen hätten sie vorzeitig geweckt. Doch der Schmerz kam und ging und wurde immer schlimmer. Nachdem sie sich zwei Stunden im Bett gewälzt hatte, begriff sie langsam, was los war, und rappelte sich mühsam auf. Mit beiden Händen im Kreuz tappte sie ins Schlafzimmer von Edith und Anton und weckte vorsichtig die Tante. Dann kam Hektik auf. Man befahl ihr, sich wieder ins Bett zu legen, und die älteste Tochter wurde losgeschickt, um die Hebamme zu holen. Man brachte Wasser zum Kochen und legte saubere Handtücher bereit. Elsy packte die Angst.

Nach zehn Stunden wurden die Schmerzen unerträglich. Die Hebamme war bereits vor Stunden eingetroffen und hatte sie mit groben Handbewegungen untersucht. Dabei verhielt sie sich schroff und zeigte deutlich, was sie von jungen unverheirateten Mädchen hielt, die Kinder bekamen. Elsy fühlte sich wie in Feindesland. Niemand hatte ein nettes Wort oder Lächeln für sie übrig, und sie lag im Bett und hatte das Gefühl, sie müsste sterben. So weh tat es. Jedes Mal, wenn die Schmerzwelle über sie hereinbrach, klammerte sie sich an den Bettpfosten und biss die Zähne zusammen. Sie hatte das Gefühl, in der Mitte durchgerissen zu werden. Am Anfang konnte sie sich zwischen den Wogen ein bisschen ausruhen, ein paar Minuten, in denen sie verschnaufte und wieder Kraft schöpfte. Doch nun folgten die Wehen so kurz aufeinander, dass sie überhaupt keine Atempause mehr hatte. Immer wieder kam ihr der Gedanke: Jetzt sterbe ich.

Durch die Nebelschwaden aus Schmerz hindurch merkte sie, dass sie es offenbar laut gesagt hatte, denn die Hebamme zischte: »Sie soll sich nicht so anstellen. In diese Lage hat sie sich selbst gebracht, also darf sie sich nicht beklagen. Vergiss das nicht, Mädchen.«

Elsy hatte keine Kraft zu protestieren. Als wieder der Schmerz von ihrem Zwerchfell in die Beine schoss, klammerte sie sich so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Nie hätte sie gedacht, dass es solche Qualen überhaupt gab. Der Schmerz war überall, er drängte sich in jede Faser und jede Zelle ihres Körpers. Langsam wurde sie müde. Sie kämpfte schon so lange mit dem Schmerz, dass ein Teil von ihr nur noch aufgeben wollte. Am liebsten hätte sie sich auf den Rücken gelegt, sich dem Schmerz hingegeben und ihm gestattet, mit ihr zu machen, was er wollte. Aber sie wusste, dass sie das nicht tun durfte. Dieses Kind von ihr und Hans musste hinaus, und sie würde es zur Welt bringen, auch wenn es das Letzte war, was sie in diesem Leben schaffte.

Nun mischte sich eine neue Art von Schmerz in den bereits vertrauten. Sie spürte einen Druck. Die Hebamme warf der Tante neben dem Bett einen zufriedenen Blick zu und nickte kurz.

»Jetzt ist es bald vorbei.« Sie drückte auf Elsys Bauch. »Wenn ich es dir sage, musst du so stark wie möglich pressen. Dann ist das Kind bald da.«

Elsy gab keine Antwort, aber sie nahm die Worte wahr und wartete auf das, was da kommen würde. Das Gefühl, pressen zu müssen, wurde immer stärker. Sie holte tief Luft.

»So, jetzt drück, so fest du kannst.« Die Hebamme ließ keinen Zweifel daran, dass das ein Befehl war. Elsy legte das Kinn auf die Brust und presste. Sie hatte nicht das Gefühl, dass irgendetwas passierte, aber das leichte Nicken der Hebamme gab ihr zu verstehen, dass sie es richtig gemacht hatte.

»Warte bis zur nächsten Wehe«, sagte sie barsch, und Elsy gehorchte. Sie spürte, wie sich der Druck steigerte, und als es am schlimmsten war, wurde sie wieder aufgefordert zu pressen. Diesmal spürte sie, wie sich etwas löste. Es war schwer zu beschreiben, aber es fühlte sich an, als ob irgendetwas nachgab.

»Der Kopf ist jetzt draußen. Noch eine Wehe, dann …«

Elsy machte einen Moment die Augen zu, sah aber nur Hans vor sich. Da sie jetzt nicht um ihn trauern konnte, öffnete sie die Augen wieder.

»Jetzt!« Die Hebamme stand zwischen Elsys Schenkeln. Elsy zog die Beine an, drückte das Kinn auf die Brust und presste mit ganzer Kraft.

Etwas Nasses und Glitschiges flutschte aus ihr heraus. Erschöpft fiel sie auf das schweißdurchtränkte Laken zurück. Im ersten Moment war sie erleichtert, dass die peinigenden Stunden vorüber waren. Sie war auf eine Art müde, wie sie es noch nie erlebt hatte. Jeder Teil ihres Körpers war vollkommen ermattet, und sie konnte sich nicht einen Millimeter von der Stelle rühren. Bis sie den Schrei hörte. Es war ein zorniger, gellender Schrei, der sie veranlasste, sich mühsam auf die Ellbogen zu stützen, um seinen Ursprung zu betrachten.

Als sie ihn erblickte, schluchzte sie auf. Er war … perfekt. Klebrig, blutig und wütend über die Kälte, aber perfekt. Als ihr klar wurde, dass sie ihn heute zum ersten und letzten Mal sah, sackte sie zurück in die Kissen. Die Hebamme schnitt die Nabelschnur durch und wusch ihn sorgfältig mit einem Läppchen. Dann zog sie ihm ein Säuglingshemdchen mit Bordüre an, das Edith aus ihrem Kleiderschrank geholt hatte. Niemand beachtete Elsy, doch sie konnte die Augen nicht von dem Jungen abwenden. Ihr Herz schien vor Liebe zerspringen zu wollen, und ihre Augen nahmen gierig jede Einzelheit auf. Erst als Edith Anstalten machte, mit ihm den Raum zu verlassen, meldete sie sich zu Wort.

»Ich will ihn halten!«

»Das ist unter diesen Umständen nicht zu empfehlen«, erwiderte die Hebamme verärgert und wollte Edith hinausscheuchen, doch die Tante zögerte.

»Bitte, ich möchte ihn nur auf den Arm nehmen. Nur eine Minute. Dann kannst du ihn mitnehmen.« Elsy sprach in herzerweichendem Ton, und Edith konnte nicht widerstehen. Sie legte den Jungen in Elsys Arme. Vorsichtig hielt seine Mutter ihn fest und sah ihm in die Augen.

»Na, mein Liebling«, flüsterte sie und wiegte ihn behutsam.

»Sein Hemdchen wird schmutzig«, brummte die Hebamme wütend.

»Ich habe noch mehr davon.« Edith brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen.

Elsy konnte sich nicht an ihm sattsehen. Er fühlte sich warm und schwer an. Fasziniert betrachtete sie die kleinen Finger mit den winzigen perfekten Nägeln.

»Ein hübscher Junge.« Edith stellte sich neben sie.

»Er sieht seinem Vater ähnlich.« Elsy lächelte, als er ihren Zeigefinger umklammerte.

»Jetzt musst du ihn hergeben. Er braucht etwas zu essen.« Die Hebamme entriss ihr den Jungen. Im ersten Moment wollte sie sich instinktiv wehren, ihn wieder an sich drücken und dann nie wieder loslassen, doch der Augenblick verstrich. Mit heftigen Bewegungen zog die Hebamme ihm das blutverschmierte Hemdchen aus und ein frisches an. Dann reichte sie ihn an Edith weiter, die ihn nach einem letzten Blick zu Elsy aus dem Zimmer trug.

In diesem Moment ging etwas in Elsy kaputt. Als sie ihren Sohn zum letzten Mal sah, wurde tief in ihrem Herzen etwas in Stücke gerissen. Sie wusste, dass sie einen solchen Schmerz nicht noch einmal überleben würde. Als sie da mit leerem Bauch und leeren Armen in dem verschwitzten und beschmutzten Bett lag, beschloss sie, sich einer solchen Pein im ganzen Leben nicht mehr auszusetzen. Nie wieder würde sie jemandem ihr Herz öffnen. Niemals. Unter Tränen gab sie sich selbst dieses Versprechen, während die Hebamme sie unsanft von der Nachgeburt befreite.

Martin!«

»Paula!«

Die Rufe ertönten genau im selben Moment. Offensichtlich hatten sich beide wegen einer dringenden Angelegenheit auf den Weg zum anderen gemacht. Nun standen sie im Flur und starrten sich mit geröteten Wangen an. Martin fasste sich als Erster.

»Komm in mein Zimmer«, sagte er. »Kjell Ringholm war gerade hier. Ich muss dir etwas erzählen.«

»Ich habe auch Neuigkeiten für dich.« Paula folgte Martin.

Er machte die Tür zu und setzte sich. Sie ließ sich ihm gegenüber nieder, konnte aber kaum stillsitzen, weil sie darauf brannte, ihm ihre Entdeckung mitzuteilen.

»Erstens hat Frans Ringholm den Mord an Britta Johansson gestanden, und zweitens deutet er an, dass er Erik Frankel und …«, Martin zögerte, »den Mann in dem Grab getötet hat.«

»Wie bitte? Hat er das etwa vor seinem Tod seinem Sohn gestanden?«, fragte Paula verblüfft. Martin schob ihr die Klarsichthülle mit den handgeschriebenen Blättern hin.

»Eher danach. Diesen Brief hat Kjell heute bekommen. Lies ihn und sag mir spontan, was du denkst.«

Paula begann konzentriert zu lesen. Als sie fertig war, legte sie ihn wieder in die Hülle und sagte mit einer nachdenklichen Furche auf der Stirn: »Ohne Zweifel erklärt er ausdrücklich, dass er Britta ermordet hat. Aber Erik und Hans Olavsen … Er schreibt, er trage die Schuld an ihrem Tod, aber das ist in diesem Zusammenhang eine etwas merkwürdige Formulierung, vor allem, wenn man bedenkt, dass er deutlich bekennt, Britta ermordet zu haben. Also ich weiß nicht recht … Ich bin mir nicht sicher, ob er damit wirklich meint, dass er die beiden anderen buchstäblich umgebracht hat … Außerdem …«

Sie beugte sich nach vorn und wollte ihre eigenen Erkenntnisse hinzufügen, doch Martin fiel ihr ins Wort: »Warte, ich habe noch etwas.« Er hielt abwehrend die Hand hoch, und sie machte beleidigt den Mund wieder zu.

»Kjell hat sich doch etwas eingehender mit diesem … Hans Olavsen beschäftigt, er wollte nicht nur herausfinden, wo er abgeblieben ist, sondern auch, was er für ein Mensch war.«

»Und?«, fragte Paula ungeduldig.

»Er hat sich mit einem norwegischen Professor in Verbindung gesetzt, der sich mit der deutschen Besetzung Norwegens wirklich auskennt. Da er so viel Material über die norwegische Widerstandsbewegung hat, dachte Kjell, dass er ihm vielleicht helfen kann, Hans Olavsen zu finden.«

»Ja …« Allmählich schien Paula sich darüber zu ärgern, dass Martin nicht zum Punkt kam.

»Zuerst hat er nichts gefunden …«

Paula seufzte demonstrativ.

»… doch dann faxte Kjell ihm einen Artikel mit einem Foto des sogenannten Widerstandskämpfers Hans Olavsen.«

»Und dann?« Paulas Interesse war definitiv geweckt. Für einen Moment vergaß sie ihre eigenen Neuigkeiten.

»Die Sache ist die: Der Typ war gar nicht im Widerstand. Er war der Sohn eines SS-Manns namens Reinhardt Wolf. Den Mädchennamen seiner Mutter, Olavsen, nahm er auf der Flucht nach Schweden an. Seine norwegische Mutter hatte einen Deutschen geheiratet, und als die Deutschen Norwegen besetzten, bekam Wolf, der dank seiner Ehe mit einer Norwegerin die Landessprache beherrschte, eine höhere Position in der SS in Norwegen. Am Ende des Krieges wurde der Vater verhaftet und in ein deutsches Gefängnis gesteckt. Über das weitere Schicksal der Mutter weiß man nichts, aber Hans verschwand 1944 aus Norwegen und wurde nie wieder gesehen. Wir wissen, warum. Er floh nach Schweden, gab sich als Widerstandskämpfer aus und endete aus irgendwelchen Gründen in einem Grab auf dem Friedhof in Fjällbacka.«

»Unglaublich. Aber was nützt es uns bei unseren Ermittlungen?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber ich habe im Gefühl, dass es eine Bedeutung hat«, erwiderte Martin nachdenklich. Dann lächelte er. »Nun kennst du meine großen Neuigkeiten. Was hattest du denn auf dem Herzen?«

Paula atmete tief ein und gab kurz und knapp wieder, was sie herausgefunden hatte. Martin warf der Kollegin einen anerkennenden Blick zu.

»Oh, das verändert einiges.« Er stand auf. »Wir müssen sofort eine Hausdurchsuchung machen. Fahr schon mal den Wagen vor, ich rufe den Staatsanwalt an und sorge dafür, dass wir eine Genehmigung bekommen.«

Paula brauchte keine weitere Aufforderung. Sie sprang auf. Das Blut rauschte durch ihre Adern. Jetzt waren sie ganz nah dran, das spürte sie.

Seit sie im Auto saßen, hatte sie noch kein einziges Wort gesagt. Mit den Tagebüchern auf dem Schoß und den Worten und Schmerzen ihrer Mutter im Kopf starrte sie aus dem Fenster. Patrik ließ sie in Ruhe, weil er begriff, dass sie von sich aus mit ihm reden würde, wenn sie so weit war. Da er die Tagebücher nicht gelesen hatte, kannte er zwar nicht so viele Details wie Erica, aber Kristina hatte ihm von dem Kind erzählt, das Elsy zur Adoption freigegeben hatte.

Zuerst hatte er eine gewisse Wut auf seine Mutter empfunden. Wie hatte sie das vor Erica verschweigen können? Vor Anna natürlich auch. Doch allmählich konnte er die Sache aus ihrem Blickwinkel betrachten. Sie hatte Elsy versprochen, nichts zu erzählen, sie hatte einer Freundin ein Versprechen gegeben und es gehalten. Sie hatte manchmal in Erwägung gezogen, Erica und Anna zu erzählen, dass sie einen Bruder hatten, doch sie hatte Angst vor den Konsequenzen, und so kam sie immer wieder zu dem Schluss, dass es am besten sei, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ein Teil von Patrik wollte gegen diese Entscheidung protestieren, aber er glaubte ihr, dass sie der festen Überzeugung gewesen war, das Richtige zu tun.

Doch nun war das Geheimnis ans Licht gekommen, und er merkte Kristina an, dass sie erleichtert war. Nur fragte er sich, wie seine Ehefrau auf die Neuigkeit reagieren würde. Im Grunde ahnte er es schon. Inzwischen kannte er Erica gut genug, um zu wissen, dass sie alle Hebel in Bewegung setzen würde, um ihren Bruder zu finden. Er drehte sich zu ihr um und betrachtete ihr Profil. Sie starrte noch immer mit leerem Blick hinaus. Auf einmal wurde ihm schlagartig bewusst, wie sehr er sie liebte. Man vergaß es so leicht. Das Leben bestand oft nur aus dringenden Erledigungen, und im Alltagstrott vergingen die Tage einfach. Doch in manchen Augenblicken, so wie jetzt, da spürte er mit fast beängstigender Wucht, dass sie zusammengehörten und wie gern er jeden Morgen neben ihr aufwachte.

Zu Hause ging Erica sofort ins Arbeitszimmer. Noch immer hatte sie kein Wort gesagt und zeigte keine Regung. Nur diesen abwesenden Gesichtsausdruck. Patrik räumte ein wenig herum und brachte Maja ins Bett, damit sie ihren Mittagsschlaf hielt. Erst dann wagte er, sie zu stören.

Vorsichtig klopfte er an. »Darf ich reinkommen?« Erica drehte sich um und nickte. Sie war immer noch etwas blass, wirkte aber nicht mehr ganz so abwesend.

»Wie fühlst du dich?« Er setzte sich in den Sessel in der Ecke.

»Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich es nicht genau.« Sie holte tief Luft. »Durcheinander.«

»Bist du wütend auf meine Mutter? Weil sie nichts gesagt hat?«

Erica überlegte einen Moment, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das bin ich nicht. Sie hat es meiner Mutter versprochen. Außerdem kann ich verstehen, dass sie Angst hatte, damit noch mehr Schaden anzurichten.«

»Wirst du es Anna erzählen?«

»Ja, natürlich. Sie hat auch ein Recht, es zu erfahren. Aber zuerst muss ich es selbst verdauen.«

»Ich nehme an, die Recherche hat bereits begonnen.« Lächelnd deutete Patrik auf den Bildschirm mit der geöffneten Suchmaschine.

»Na klar.« Erica grinste matt zurück. »Ich habe mich über Möglichkeiten informiert, Adoptionen zurückzuverfolgen. Es wird bestimmt kein Problem sein, ihn zu finden.«

»Ist das nicht ein bisschen unheimlich?«, fragte Patrik. »Du hast doch gar keine Ahnung von ihm und seinem Leben.«

»Total unheimlich«, nickte Erica. »Aber nichts zu wissen ist noch schlimmer. Irgendwo da draußen habe ich einen Bruder. Ich habe mir immer einen großen Bruder gewünscht.« Sie verzog das Gesicht zu einem tapferen Lächeln.

»Deine Mutter muss oft an ihn gedacht haben. Verändert das dein Bild von ihr?«

»Natürlich«, antwortete sie. »Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich es richtig finde, wie sie mich und Anna auf Distanz gehalten hat, aber …« Sie suchte nach Worten. »Aber ich kann verstehen, dass sie nicht mehr den Mut hatte, jemanden an sich heranzulassen. Stell dir das mal vor! Zuerst wird man vom Vater seines Kindes verlassen, denn das dachte sie ja schließlich, und dann wird man gezwungen, das Kind abzugeben. Sie war erst sechzehn! Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie schmerzhaft das alles für sie gewesen sein muss. Außerdem hatte sie kurz zuvor ihren Vater verloren – und dadurch praktisch auch ihre Mutter. Nein, ich kann ihr keine Vorwürfe machen. So gerne ich es tun würde, es geht nicht.«

»Hätte sie doch nur gewusst, dass Hans sie nicht im Stich gelassen hat.« Patrik schüttelte den Kopf.

»Ja, das ist fast die größte Grausamkeit daran. Er hat Fjällbacka nie verlassen – und sie auch nicht. Stattdessen wurde er erschlagen.« Ericas Stimme versagte. »Warum? Warum wurde er ermordet?«

»Möchtest du, dass ich Martin anrufe und ihn frage, ob sie noch etwas herausgefunden haben?« Patrik wollte sich nicht nur Erica zuliebe erkundigen. Das Schicksal des Norwegers nahm ihn selbst ungeheuer mit, und das Wissen, dass Hans der Vater von Ericas Halbbruder war, hatte sein Interesse noch gesteigert.

»Würdest du das für mich tun?«, fragte Erica erfreut.

»Okay, ich mache es sofort.« Patrik stand auf.

Eine Viertelstunde später kam er wieder herauf. Erica sah ihm sofort an, dass er Neuigkeiten hatte.

»Es hat sich ein mögliches Motiv für den Mord an Hans Olavsen herauskristallisiert«, sagte er.

Sie hatte Mühe, ruhig sitzen zu bleiben. »Und?«

Patrik zögerte einen Moment, bevor er weitergab, was er von Martin erfahren hatte.

»Hans Olavsen war kein Widerstandskämpfer. Er war der Sohn eines hochstehenden SS-Offiziers und hat während der Besatzung in Norwegen selbst für die Deutschen gearbeitet.«

Es wurde vollkommen still im Raum. Erica starrte ihn an und war ausnahmsweise sprachlos. Patrik fuhr fort: »Und Kjell Ringholm hat heute einen Abschiedsbrief von Frans in die Dienststelle gebracht, der mit der Post gekommen ist. Frans gesteht den Mord an Britta und schreibt, er trage auch die Schuld an Eriks und Hans’ Tod. Hier hat sich Martin jedoch etwas vage ausgedrückt. Ich fragte ihn, ob das seiner Ansicht nach bedeutet, dass Frans die Morde an Erik und Hans ebenfalls zugibt, aber darauf wollte er sich nicht festlegen.«

»Wie meint er das? Er trägt die Schuld? Was heißt das?«, fragte Erica, als sie endlich die Sprache wiedergefunden hatte. »Und Hans soll kein Widerstandskämpfer gewesen … Wusste meine Mutter das? Wie …?« Sie schüttelte den Kopf.

»Wie siehst du es? Du hast schließlich die Tagebücher gelesen. Wusste sie es?« Patrik setzte sich wieder.

Erica dachte nach, schüttelte den Kopf und sagte entschieden: »Nein. Das glaube ich nicht. Auf keinen Fall.«

»Die Frage ist, ob Frans es irgendwie herausbekommen hat.« Patrik überlegte laut. »Aber warum schreibt er nicht ausdrücklich, dass er sie ermordet hat? Wieso sagt er, er sei schuld daran?«

»Hat Martin dir erzählt, wie sie jetzt weitermachen wollen?«

»Nein, er verriet mir nur, dass Paula plötzlich eine Idee hatte und dass sie sich jetzt auf den Weg machen, um sie zu überprüfen. Wenn er mehr weiß, meldet er sich. Er klang ziemlich optimistisch«, fügte Patrik hinzu und verspürte einen kleinen Stich. Es war ungewohnt und ein wenig belastend, nicht im Mittelpunkt der Ereignisse zu stehen.

»Ich sehe dir an, was in dir vorgeht«, grinste Erica.

»Wenn ich behaupten wollte, dass ich jetzt nicht gerne in der Dienststelle wäre, müsste ich lügen«, erwiderte Patrik, »aber ich möchte es nicht anders haben, und ich glaube, das weißt du auch.«

»Na klar«, sagte Erica, »und ich kann dich verstehen. Es ist ganz normal.«

Wie zur Bekräftigung ertönte ein lauter Schrei aus Majas Zimmer. Patrik stand auf.

»Wie gesagt, die Stechuhr ruft.«

»Glück auf!«, lachte Erica. »Aber bevor du in die Grube steigst, bring mir die kleine Sklaventreiberin bitte vorbei, damit ich ihr einen Kuss geben kann.«

»Wird gemacht«, sagte Patrik. Auf dem Weg zur Tür hörte er Erica nach Luft schnappen.

»Jetzt weiß ich, wer mein Bruder ist!«, lachte sie laut, doch die Tränen flossen bereits über ihre Wangen. »Ich weiß, wer er ist, Patrik!«

Sie saßen bereits im Auto, als ihnen die Genehmigung für die Hausdurchsuchung mitgeteilt wurde. Da sie damit gerechnet hatten, waren sie schon losgefahren. Auf der Fahrt sagte keiner von beiden ein Wort. Beide waren tief in Gedanken versunken und versuchten, lose Enden miteinander zu verknüpfen und das Muster zu erkennen, das allmählich hervortrat.

Als sie anklopften, kam keine Antwort.

»Es scheint niemand zu Hause zu sein«, stellte Paula fest.

»Wie kommen wir denn jetzt hinein?« Nachdenklich betrachtete Martin die massive Tür, die dem Anschein nach nicht leicht aufzubrechen war.

Lächelnd streckte Paula die Hand aus und betastete suchend den Balken über dem Eingang.

»Mit einem Schlüssel!« Sie hielt den Fund in die Höhe.

»Was würde ich bloß ohne dich machen?« Martin meinte es genau so, wie er es sagte.

»Du würdest dir bei dem Versuch, hier einzudringen, wahrscheinlich die Schulter brechen.« Sie schloss die Tür auf.

Sie traten ein. Es war unangenehm still, muffig und warm. Sie hängten die Jacken im Flur auf.

»Sollen wir uns aufteilen?«, fragte Paula.

»Ich nehme das Erdgeschoss und du das obere Stockwerk.«

»Wonach sollen wir suchen?« Plötzlich wirkte Paula unsicher. Sie war überzeugt, dass sie auf der richtigen Spur waren, aber nun wusste sie nicht mehr genau, ob sie wirklich einen Beweis für ihre Vermutung finden würden.

»Ich weiß nicht recht.« Martin schien von der gleichen Unsicherheit befallen zu sein. »Wir durchsuchen alles so sorgfältig wie möglich, und dann sehen wir weiter.«

»Okay.« Paula nickte und ging ins Obergeschoss.

Eine Stunde später kam sie wieder herunter. »Bis jetzt habe ich noch nichts. Soll ich da oben noch ein bisschen weitersuchen, oder wollen wir wechseln? Hast du etwas Interessantes entdeckt?«

»Bis jetzt nicht.« Martin schüttelte den Kopf. »Tauschen ist bestimmt eine gute Idee.« Nachdenklich zeigte er auf eine Tür im Flur. »Oder wir schauen zuerst im Keller nach. Da ist noch keiner von uns gewesen.«

»Super.« Paula öffnete die Kellertür. Auf der Treppe war es stockdunkel, aber sie entdeckte im Flur neben der Tür einen Lichtschalter. Paula ging voran und blieb am Fuß der Treppe einige Sekunden stehen. Ihre Augen mussten sich zuerst an das schummrige Licht gewöhnen.

»Was für ein grusliger Ort.« Martin ließ seinen Blick über die Wände wandern. Dann fiel ihm die Kinnlade herunter.

»Pst.« Paula legte den Zeigefinger an die Lippen und runzelte die Stirn. »Hast du etwas gehört?«

»Nein …«, erwiderte Martin und horchte. »Ich habe kein Geräusch bemerkt.«

»Es klang wie eine Autotür. Bist du sicher, dass du nichts gehört hast?«

»Das hast du dir bestimmt eingebildet …« Er verstummte, weil oben ganz deutlich Schritte ertönten.

»Eingebildet, aha. Wir gehen besser hinauf.« Paula setzte den Fuß auf die erste Treppenstufe. In diesem Augenblick wurde die Kellertür zugeknallt und ein Schlüssel umgedreht.

»Was soll der Mist …« Paula nahm zwei Stufen auf einmal, als das Licht ausging. Im Stockfinstern blieb sie stehen.

»Scheiße!«, fluchte Paula. Martin hörte sie an die Tür pochen. »Aufmachen! Hier ist die Polizei! Machen Sie die Tür auf und lassen Sie uns raus!«

Als sie verstummte, um Atem zu holen und einen neuen Anlauf zu nehmen, hörten sie, wie eine Autotür zugeschlagen wurde und ein Wagen mit quietschenden Reifen losfuhr.

»Verdammt.« Vorsichtig tastete sich Paula die Treppe hinunter.

»Wir müssen Hilfe rufen.« Martin wollte nach seinem Mobiltelefon greifen, begriff aber im selben Moment, dass es in seiner Jackentasche war.

»Du musst von deinem Telefon aus anrufen. Meins ist oben«, sagte Martin, bekam aber keine Antwort. Allmählich wurde er nervös. »Sag nicht, deins ist auch …«

»Doch«, erwiderte Paula kläglich. »Mein Handy ist auch in der Jacke.«

»Kacke!« Unsicher stieg Martin die Stufen hoch und unternahm einen Ausbruchsversuch.

»Au!«, schrie er, mehr als eine schmerzende Schulter hatte er nicht vorzuweisen. Kleinlaut ging er wieder hinunter zu Paula.

»Die bewegt sich keinen Millimeter.«

»Was machen wir jetzt?«, fragte Paula missmutig. Dann schnappte sie aufgeregt nach Luft. »Johanna!«

»Wer ist das?«, fragte Martin erstaunt.

Paula schwieg einige Sekunden, doch dann antwortete sie: »Meine Lebensgefährtin. In zwei Wochen bekommen wir ein Kind, aber man weiß ja nie … und ich habe ihr versprochen, dass ich jederzeit telefonisch erreichbar bin.«

»Es wird schon nichts passieren.« Martin bemühte sich, die höchst persönliche Information zu verdauen, die er soeben von seiner neuen Kollegin erhalten hatte. »Beim ersten Mal sind sie ja meistens überfällig.«

»Hoffen wir es«, seufzte Paula. »Ansonsten wird sie verlangen, dass man ihr meinen Kopf auf einem Teller serviert. Zum Glück kann sie immer meine Mutter erreichen. Im Notfall …«

»Daran darfst du jetzt nicht denken«, tröstete Martin sie. »So lange werden wir hier nicht bleiben, und wie gesagt, wenn es noch zwei Wochen bis zum Termin sind, brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen.«

»Aber niemand weiß, dass wir hier sind.« Paula setzte sich auf die Treppe. »Und während wir hier festhängen, kann der Mörder entkommen.«

»Sieh es mal von der positiven Seite. Zumindest besteht kein Zweifel daran, dass wir recht hatten«, versuchte Martin sie aufzuheitern. Paula ging nicht darauf ein.

Oben im Flur klingelte unaufhörlich ihr Handy.

Vor der Tür zögerte Mellberg. Im Unterricht am Freitag hatte er ein so gutes Gefühl gehabt, doch seitdem hatte er sie – trotz wiederholter Spaziergänge auf ihrer bevorzugten Strecke – nicht gesehen. Er hatte Sehnsucht nach ihr. Die Intensität seiner Empfindungen überraschte ihn, aber er konnte die Augen nicht länger davor verschließen, dass sie ihm wirklich fehlte. Offenbar gingen die Emotionen von Ernst in die gleiche Richtung, denn er hatte heftig an der Leine gezerrt und ihn mehr oder weniger zu Ritas Haus geschleift. Mellberg hatte nicht unbedingt Widerstand geleistet. Nun wurde er unsicher. Zum einen wusste er nicht, ob sie zu Hause war, und außerdem verspürte er plötzlich eine ganz untypische Schüchternheit. Er hatte Angst, aufdringlich zu erscheinen. Schließlich schüttelte er das ungewohnte Gefühl ab und drückte auf die Klingel. Es kam keine Antwort. Er wollte gerade wieder gehen, als aus der knisternden Sprechanlage ein Keuchen drang.

»Hallo?« Er drehte sich wieder um. »Hier ist Bertil Mellberg.«

Zuerst hörte er nichts, dann wurde gewispert: »Komm rauf!« Anschließend ein Stöhnen. Er runzelte die Stirn. Merkwürdig. Mit Ernst im Schlepptau ging er die zwei Treppen zu Ritas Wohnung hoch. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Er trat ein.

»Hallo?«, rief er vorsichtig. Stille. Dann vernahm er ganz in der Nähe ein Ächzen. Als er sich in diese Richtung wandte, erblickte er eine liegende Gestalt auf dem Fußboden.

»Es … geht los …« Johanna hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und rang keuchend mit einer Wehe.

»O mein Gott!« Mellberg stand augenblicklich der Schweiß auf der Stirn. »Wo ist Rita? Ich rufe sie an! Wir müssen sofort Paula holen … und einen Krankenwagen …«, stotterte er und blickte sich nach dem Telefon um.

»Die gehen … nicht ran …«, stöhnte Johanna, konnte aber nicht weitersprechen, solange die Wehe noch nicht abgeklungen war. Mühsam zog sie sich an der Garderobe hoch, hielt sich den Bauch und starrte Bertil an.

»Denkst du, ich hätte nicht versucht, sie zu erreichen? Keiner meldet sich! Ist es denn so schwer … Scheiße, verdammte …« Die kräftigen Flüche wurden von einer neuen Wehe unterbrochen. Sie fiel wieder auf die Knie und atmete hastig ein und aus.

»Bring mich … ins Krankenhaus.« Angestrengt zeigte sie auf den Autoschlüssel auf der Kommode. Mellberg starrte ihn an, als könnte er sich jeden Moment in eine aggressive Giftschlange verwandeln, doch dann nahm er ihn in Zeitlupe an sich. Ohne zu wissen, woher die plötzliche Tatkraft kam, schleppte er Johanna zum Parkplatz und bugsierte sie auf die Rückbank. Ernst musste in der Wohnung bleiben. Mit Bleifuß raste Mellberg zum Norra-Älvsborgs-Krankenhaus. Als die Laute, die Johanna von sich gab, immer angestrengter klangen, war er der Panik nah. Die gut achtzig Kilometer zu dem Krankenhaus zwischen Vänersborg und Trollhättan erschienen ihm unendlich, doch schließlich schlitterte er vor die Einfahrt der Entbindungsklinik und musste Johanna wieder fast tragen. Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen ließ sie sich zur Anmeldung schleifen.

»Sie bekommt ein Kind«, sagte Mellberg zu der Krankenschwester hinter der Glasscheibe, die diese Mitteilung nach einem Blick auf Johanna als überflüssig einstufte.

»Mitkommen!«, kommandierte sie und führte sie in ein Nebenzimmer.

»Ich werde mich … jetzt zurückziehen …«, stammelte Mellberg, als Johanna befohlen wurde, die Hose auszuziehen.

Doch in dem Moment, als er entwischen wollte, krallte sich Johanna in seinen Arm und ächzte unter Schmerzen: »Du … bleibst … hier … Wehe … du … gehst …«

»Aber …«, wollte Mellberg protestieren, sah dann jedoch ein, dass er sie jetzt nicht allein lassen konnte. Seufzend setzte er sich auf einen Stuhl und bemühte sich, in eine andere Richtung zu sehen, während Johanna gründlich untersucht wurde.

»Sieben Zentimeter offen.« Die Hebamme sah Mellberg an, als könnte er mit dieser Information etwas anfangen. Er nickte, fragte sich jedoch insgeheim, was das zu bedeuten hatte. War es gut? Oder schlecht? Wie viele Zentimeter waren überhaupt notwendig? Mit wachsendem Entsetzen wurde ihm bewusst, dass er noch vor Ende dieses Erlebnisses nicht nur das, sondern noch viel mehr erfahren würde.

Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und wählte noch einmal Paulas Nummer, doch es meldete sich nur die Mailbox. Dasselbe bei Rita. Was waren das eigentlich für Menschen? Wie konnten sie ihr Telefon ausschalten, wenn Johanna jeden Moment ein Baby bekam. Mellberg steckte das Handy wieder in die Tasche und überlegte, ob er sich nicht doch in einem unbeobachteten Moment davonstehlen sollte.

Zwei Stunden später war er noch immer nicht entkommen. Sie waren in einen Kreißsaal verlegt worden, und Johanna klammerte sich an ihn wie eine Eisenzange. Irgendwie tat sie ihm leid. Er hatte sich inzwischen erklären lassen, dass aus diesen sieben Zentimetern zehn werden mussten, aber die letzten drei ließen sich ziemlich viel Zeit. Johanna hielt sich fleißig die Lachgasmaske vors Gesicht, und Mellberg hätte auch gerne einen Zug genommen.

»Ich kann nicht mehr …« Johannas Blick war vom Lachgas verschleiert. Das schweißnasse Haar klebte ihr am Kopf. Mellberg griff nach einem Handtuch und tupfte ihr die Stirn ab.

»Danke …« Ihr Blick ließ ihn jeden Gedanken an Flucht vergessen. Mellberg konnte nicht verhehlen, dass das, was sich vor seinen Augen abspielte, ihn in gewisser Hinsicht faszinierte. Er hatte zwar gewusst, dass die Geburt eines Kindes ein schmerzhafter Prozess war, aber ihm war nicht klar gewesen, welchen übermenschlichen Kraftakt es erforderte, ein Kind zur Welt zu bringen. Zum ersten Mal im Leben empfand er eine tiefe Ehrfurcht vor dem weiblichen Geschlecht. Eins stand fest: Er hätte das nie geschafft.

»Ruf … noch mal an …«, schnaufte Johanna und sog gierig das Lachgas ein, als die Maschine, die mit dem Ding auf ihrem Bauch verbunden war, eine kräftige Wehe anzeigte.

Mellberg befreite seine Hand und wählte zum hundertsten Mal die beiden Nummern, doch noch immer ging niemand ans Telefon. Bedauernd schüttelte er den Kopf.

»Wo stecken …« Als die nächste Wehe über sie hereinbrach, gingen ihre Worte in ein Jammern über.

»Bist du sicher, dass du nicht diese … POK willst, die sie dir angeboten haben?«, fragte Mellberg besorgt und wischte Johanna erneut die Schweißperlen aus dem Gesicht.

»Nein … ich bin so nah dran … kann nicht mehr aufhören … Außerdem heißt das PDA …« Sie wimmerte wieder und bog den Rücken durch. Die Hebamme kam zurück ins Zimmer und prüfte zum wiederholten Mal, wie weit Johannas Muttermund sich geöffnet hatte.

»Sie ist jetzt ganz offen«, sagte sie zufrieden. »Hast du gehört, Johanna? Gut gemacht. Zehn Zentimeter. Es dauert nicht mehr lange, dann kannst du pressen. Du warst wirklich tüchtig. Dein Baby ist bald da.«

Mellberg nahm Johannas Hand und hielt sie ganz fest. Er hatte ein seltsames Gefühl in der Brust. Am ehesten ließ es sich mit Stolz umschreiben. Er war stolz auf das Lob, das Johanna bekommen hatte. Sie hatten zusammengehalten, und nun würde das Baby von Paula und Johanna bald kommen.

»Wie lange dauert das Pressen?«, fragte er die Hebamme, und sie antwortete ihm freundlich. Da sich niemand erkundigt hatte, in welcher Beziehung er zu Johanna stand, hielt man ihn wahrscheinlich für den etwas überalterten Vater des Kindes. Er hatte nichts dagegen einzuwenden.

»Das kommt darauf an, aber ich schätze, dieses Kind ist spätestens in einer halben Stunde da.« Sie lächelte Johanna aufmunternd zu. Nach einer kurzen Pause zwischen zwei Wehen schnitt sie wieder eine Grimasse und spannte den ganzen Körper an.

»Jetzt fühlt es sich anders an«, brachte sie mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und griff nach dem Gas.

»Das sind die Presswehen«, erklärte die Hebamme. »Wenn du eine richtig starke Presswehe hast, sage ich dir Bescheid. Dann ziehst du die Knie an, drückst das Kinn auf die Brust und presst, so fest du kannst.«

Johanna nickte ermattet und klammerte sich an Mellbergs Hand. Er erwiderte den Druck, und beide sahen gespannt die Hebamme an und warteten weitere Anordnungen ab.

Nach wenigen Sekunden fing Johanna an zu keuchen und sah die Hebamme fragend an.

»Warte, warte, warte … noch nicht … warte, bis sie richtig heftig ist … und JETZT pressen!«

Johanna tat, was ihr gesagt worden war, drückte das Kinn auf die Brust, zog die Knie an und presste mit hochrotem Kopf, bis die Wehe abgeklungen war.

»Gut gemacht! Das war eine richtig tolle Wehe! Warte auf die nächste. Du wirst sehen, in null Komma nix hast du es geschafft.«

Die Hebamme behielt recht. Zwei Wehen später glitt das Baby heraus und wurde Johanna sofort auf den Bauch gelegt. Mellberg war fasziniert. Theoretisch wusste er ja, wie es funktionierte, aber es war etwas ganz anderes, direkt mitzuerleben, wie das Kind auf die Welt kam, mit Armen und Beinen ruderte und vor Wut schrie, bevor es mit dem Mund an Johannas Brust wühlte.

»Hilf deinem kleinen Jungen, die Brustwarze zu finden. Danach sucht er nämlich.« Liebevoll half die Hebamme Johanna, den Kleinen anzudocken, damit er richtig saugen konnte.

»Herzlichen Glückwunsch«, gratulierte die Hebamme ihnen beiden. Mellberg strahlte wie die Sonne. Himmel Donnerwetter. So etwas hatte er noch nie erlebt!

Eine Weile später hatte der Junge sich satt getrunken und war gewaschen und in eine Decke gewickelt worden. Johanna saß mit einem Kissen im Rücken im Bett und bewunderte ihren Sohn. Dann sah sie Mellberg an und sagte leise: »Danke. Alleine hätte ich das nicht geschafft.«

Mellberg brachte nur ein Kopfnicken zustande. Er hatte einen dicken Kloß im Hals, der ihn vom Sprechen abhielt. Immer wieder bemühte er sich vergeblich, ihn hinunterzuschlucken.

»Willst du ihn mal nehmen?«

Wieder konnte Mellberg nur nicken. Nervös streckte er die Hände aus. Vorsichtig legte Johanna ihren Sohn in seine Arme und sorgte dafür, dass er das Köpfchen ordentlich stützte. Es war ein sonderbares Gefühl, den kleinen Körper zu halten. Er blickte auf das kleine Gesicht hinunter und spürte, wie dieser merkwürdige dicke Klumpen im Hals immer größer wurde. Als er in die Augen des Jungen sah, wusste er nur eins: dass er von diesem Moment an unendlich und rettungslos verliebt war.