Fjällbacka 1944

Der Krieg hatte an ihm gezehrt. Die vielen Fahrten über das Wasser, das inzwischen nicht mehr sein Freund, sondern sein Feind war. Er hatte das Meer vor der Küste von Bohuslän immer geliebt. Die Bewegungen, den Geruch und das Geräusch, wenn es am Bug hochspritzte. Doch seit Beginn des Krieges bestand zwischen ihm und der See keine freundschaftliche Beziehung mehr. Sie war feindlich. Unter ihrer Oberfläche verbargen sich gefährliche Minen, die ihn und seine Besatzung jederzeit in die Luft sprengen konnten. Und die Deutschen, die auf dem Wasser patrouillierten, waren auch nicht viel besser. Man wusste nie, was sie vorhatten. Das Meer war auf eine vollkommen andere Weise unberechenbar geworden, als sie es kannten und erwarteten. Mit Stürmen und Untiefen konnten sie umgehen, da half ihnen die Erfahrung von vielen Generationen. Und wenn die Natur die Oberhand gewann, dann trugen sie es mit Fassung und Gleichmut.

Diese neue Unberechenbarkeit war viel schlimmer. Und wenn sie die Fahrten überlebten, gab es in den Häfen, wo sie ihre Ladung löschen und das Schiff neu beladen wollten, wieder Gefahren. Nicht zuletzt der Vorfall, als sie Axel an die Deutschen verloren, hatte ihm das ins Gedächtnis gerufen. Er starrte den Horizont an und erlaubte sich, ein paar Minuten an den Jungen zu denken. So mutig und scheinbar so unverwundbar. Nun wusste niemand, wo er war. Gerüchteweise hatte er gehört, man habe ihn nach Grini überführt, doch er wusste weder, ob das stimmte, noch, ob er sich in dem Fall noch immer dort befand. Es wurde behauptet, einige der Gefangenen wären von Norwegen nach Deutschland verschifft worden. Vielleicht war es dem Jungen auch so ergangen. Vielleicht war er gar nicht mehr am Leben. Es war schon ein ganzes Jahr vergangen, seit die Deutschen ihn gefasst hatten, und niemand hatte ein Lebenszeichen von ihm erhalten. Man musste also das Schlimmste befürchten. Elof holte tief Luft. Manchmal traf er zufällig die Eltern des Jungen, Herrn und Frau Doktor Frankel, aber er konnte ihnen nicht in die Augen sehen. Wenn möglich, eilte er auf die andere Straßenseite und ging mit gesenktem Kopf an ihnen vorüber. In gewisser Weise hatte er das Gefühl, mehr für sie tun zu müssen. Er wusste jedoch nicht, was. Vielleicht hätte er den Jungen gar nicht mitnehmen dürfen.

Ihm wurde das Herz auch dann schwer, wenn er den Bruder sah. Den jüngeren, der immer so ernst war. Erik. Er war zwar nie ein Spaßvogel gewesen, doch seit Axels Verschwinden war er noch stiller geworden. Er hatte sich vorgenommen, Elsy zu sagen, dass sie nicht so viel Zeit mit Erik und Frans verbringen sollte. Nicht, dass er etwas gegen Erik gehabt hätte. Der Junge hatte freundliche Augen. Mit Frans war das anders. Der hatte ein richtiges Backpfeifengesicht. Besser konnte er ihn nicht beschreiben. Doch keiner von beiden war eine geeignete Gesellschaft für Elsy. Sie gehörten zwei verschiedenen Klassen an. Sie waren ganz andere Menschen. Er und Hilma hätten genauso gut auf einem anderen Planeten als die Frankels oder Ringholms geboren sein können. Ihre Welten hätten sich nie berühren sollen. Dabei konnte nichts Gutes herauskommen. Als sie klein waren und Räuber und Gendarm oder Fangen spielten, hatte er ein Auge zugedrückt, aber nun waren sie älter. Es würde nicht gutgehen.

Hilma hatte ihn mehrmals darauf hingewiesen und gebeten, mit dem Mädchen zu reden. Aber noch hatte er sich kein Herz gefasst. Der Krieg machte alles schwer genug. Freunde waren vielleicht der einzige Luxus, den die heutige Jugend sich gönnte. Wie konnte er Elsy diese Freude auch noch wegnehmen? Über kurz oder lang musste er es tun. Jungs waren eben Jungs. Bald würden aus Ringel, Ringel, Rosen und Versteckspielen heimliche Umarmungen werden, das wusste er aus Erfahrung. Er war schließlich auch einmal jung gewesen, auch wenn das eine Ewigkeit her zu sein schien. Nicht mehr lange, dann wurde es Zeit, die beiden Welten sauber zu trennen. So war es, und so musste es auch bleiben. Man konnte die Ordnung nicht auf den Kopf stellen.

»Käpt’n! Das muss er sich angucken!«

Elof wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Einer seiner Männer winkte ihm eifrig zu. Mit gerunzelter Stirn ging Elof zu ihm. Sie befanden sich auf dem offenen Meer und hatten noch einige Stunden vor sich, bevor sie in den Hafen von Fjällbacka einliefen.

»Wir haben noch jemanden an Bord«, sagte Calle Ingvarsson trocken und zeigte auf den Laderaum. Elof blickte verwundert hinein. Hinter den Säcken kauerte ein Jüngling, der nun vorsichtig aus seinem Versteck kroch.

»Ich habe ihn gefunden, weil mir ein Geräusch aufgefallen war. Er hat so laut gehustet, dass ich mich frage, warum wir ihn nicht bis an Deck gehört haben.« Calle steckte sich ein bisschen Snus unter die Lippe und verzog angewidert das Gesicht. In Kriegszeiten bekam man nur einen unbefriedigenden Ersatz.

»Wer bist du und was machst du auf meinem Schiff?«, fragte Elof barsch. Er überlegte, ob er Verstärkung rufen sollte.

»Ich heiße Hans Olavsen und bin in Kristiansand an Bord gegangen«, sagte der junge Mann in klangvollem Norwegisch. Er stand auf und streckte die Hand aus. Nach kurzem Zögern griff Elof zu. Der Junge sah ihm direkt in die Augen. »Ich habe gehofft, dass ich mit nach Schweden fahren darf. Die Deutschen haben … Sagen wir so: Wenn mir mein Leben lieb ist, kann ich nicht in Norwegen bleiben.«

Elof stand eine Weile schweigend da und überlegte. Er mochte es nicht, so hinters Licht geführt zu werden. Aber andererseits. Was war dem Jungen übriggeblieben? Hätte er sich in Gegenwart der deutschen Patrouillen vor ihm aufstellen und ihn höflich bitten sollen, ihn nach Schweden mitzunehmen?

»Woher kommst du?«, fragte er schließlich und musterte ihn von Kopf bis Fuß.

»Aus Oslo.«

»Warum kannst du nicht in Norwegen bleiben? Was hast du getan?«

»Man redet nicht über die Dinge, zu denen man während des Krieges gezwungen wurde.« Ein Schatten legte sich über seine Züge. »Man könnte es so ausdrücken: Die Widerstandsbewegung hat keine Verwendung mehr für mich.«

Bestimmt hat er Leute über die Grenze gebracht, dachte Elof. Das war eine gefährliche Arbeit. Wenn die Deutschen einem auf die Schliche kamen, tat man gut daran zu verschwinden, solange man noch am Leben war. Elof merkte, dass sein Herz weich wurde. Er dachte an Axel, der so oft nach Norwegen gefahren war, ohne an die möglichen Folgen für sich persönlich zu denken, und auch den Preis dafür gezahlt hatte. War er etwa schlechter als der neunzehnjährige Sohn vom Herrn Doktor? Sein Entschluss stand fest.

»Nun gut. Wir fahren nach Fjällbacka. Hast du etwas zu essen bekommen?«

Er schüttelte den Kopf und schluckte. »Nein. Seit vorgestern nicht. Die Reise von Oslo war … beschwerlich. Man kann nicht den direkten Weg nehmen.« Er senkte den Blick.

»Gib dem Jungen etwas zu essen, Calle. Ich sorge dafür, dass wir heil nach Hause kommen. Diese Scheißminen überall, mit denen die Deutschen das Wasser verseuchen.« Er schüttelte den Kopf und ging die Treppe hinauf. Als er sich noch einmal umdrehte, begegnete ihm der Blick des Jungen. Das Mitleid, das er empfand, überraschte ihn. Wie alt mochte er sein? Höchstens achtzehn. Trotzdem spiegelten diese Augen manches, was nicht hätte sein dürfen. Zum Beispiel den Verlust der Jugend und ihrer Unschuld. Der Krieg hatte wirklich viele Opfer gefordert. Auch von den Lebenden.

Gösta hatte ein schlechtes Gewissen. Hätte er ordentlich seine Arbeit gemacht, müsste dieser Mattias jetzt nicht im Krankenhaus liegen. Stimmte das überhaupt? Er wusste doch gar nicht, ob das etwas geändert hätte. Aber vielleicht hätte er herausgefunden, dass Per bereits im Frühjahr bei Frankels eingebrochen war, und das hätte dem Lauf der Ereignisse eine andere Richtung geben können. Als Gösta bei Adam war, um seine Fingerabdrücke zu nehmen, hatte der erwähnt, jemand aus seiner Schule habe erzählt, bei Frankels gebe es spannende Nazisachen. Das war das Puzzleteil, das sich in seinem Unterbewusstsein geregt, ihm keine Ruhe gelassen und ihn zum Narren gehalten hatte. Wäre er doch etwas aufmerksamer gewesen. Ein bisschen sorgfältiger. Kurz gesagt, hätte er einfach seine Pflicht getan. Er seufzte dieses spezielle Gösta-Seufzen, das er in jahrelangem Training perfektioniert hatte. Er wusste schließlich, was er zu tun hatte. Er musste versuchen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.

Er ging in die Garage und setzte sich in den noch verbliebenen Wagen. Mit dem anderen waren Martin und Paula nach Uddevalla gefahren. Vierzig Minuten später hielt er in Strömstad vor dem Krankenhaus. Am Empfang erfuhr er, dass sich der Zustand von Mattias stabilisiert hatte, und bekam eine Wegbeschreibung zu seinem Zimmer.

Bevor er die Tür aufmachte, holte er tief Luft. Es würden bestimmt Familienmitglieder bei ihm sein. Gösta mochte keine Begegnungen mit Angehörigen. Man konnte sich den Gefühlen nur schwer entziehen und hatte hinterher Schwierigkeiten, Distanz zur Arbeit zu halten. Trotzdem hatte er seine Kollegen und sich selbst hin und wieder durch ein gewisses Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen in schwierigen Situationen beeindruckt. Hätte er mehr Kraft und Energie gehabt, hätte er diese Begabung vielleicht nutzen und ausbauen können, aber so blieb sie ein seltener und nicht besonders willkommener Gast.

»Haben Sie ihn?« Als Gösta eintrat, erhob sich ein großer Mann im Anzug und mit schief hängender Krawatte. Er hatte eine weinende Frau im Arm gehalten, die der Ähnlichkeit mit dem Jungen im Bett nach zu urteilen seine Mutter sein musste. Allerdings stammte die Übereinstimmung, die Gösta auffiel, aus seiner Erinnerung an die Begegnung vor Frankels Haus, denn der Junge im Bett war kaum zu erkennen. Sein Gesicht war eine einzige rote, verquollene und aufgescheuerte Wunde. An einigen Stellen wurde es auch schon blau. Die Lippen waren auf die doppelte Größe angeschwollen, und er schien nur mit einem Auge einigermaßen sehen zu können. Das andere war vollkommen zu.

»Wenn ich diesen verfluchten Schläger erwische«, polterte Mattias’ Vater und ballte die Fäuste. Er hatte Tränen in den Augen, und Gösta kam wieder in den Sinn, dass er um die Geschichte mit den Angehörigen und ihren Gefühlen lieber herumgekommen wäre.

Aber da er nun einmal hier war, konnte er es auch hinter sich bringen. Vor allem, da seine Schuldgefühle mit jeder Sekunde, in der er das malträtierte Gesicht von Mattias vor sich sah, zunahmen.

»Überlassen Sie das der Polizei.« Gösta setzte sich auf einen Stuhl. Er stellte sich mit seinem vollen Namen vor und sah den Eltern in die Augen, um sicherzugehen, dass sie ihm zuhörten.

»Wir haben Per zum Verhör einbestellt. Er hat die Tat gestanden und muss mit Konsequenzen rechnen. Wie diese aussehen, weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, das bleibt dem Staatsanwalt überlassen.«

»Aber er sitzt doch hinter Gittern, oder?«, fragte die Mutter mit zitternder Stimme.

»Im Moment nicht. Minderjährige werden nur im Ausnahmefall in Untersuchungshaft genommen. In der Praxis kommt das äußerst selten vor. Daher durfte er mit seiner Mutter nach Hause gehen. Die Ermittlungen gehen weiter. Das Jugendamt wurde ebenfalls eingeschaltet.«

»Der darf also zu seiner Mutter, während mein Sohn hier liegt und …« Die Stimme des Vaters versagte. Verständnislos blickte er zwischen dem Jungen und Gösta hin und her.

»Zurzeit ist das so. Aber ich garantiere Ihnen, dass er seine Strafe bekommt. Jetzt würde ich gerne ein paar Worte mit Ihrem Sohn wechseln, um mich zu vergewissern, dass wir alles berücksichtigt haben.«

Mattias’ Eltern sahen sich an, dann nickten beide.

»Okay, aber nur, solange er die Kraft hat. Bis jetzt war er nur ab und zu wach. Er bekommt Schmerzmittel.«

»Ich richte mich ganz nach seinen Möglichkeiten«, sagte Gösta in beruhigendem Ton und schob seinen Stuhl an Mattias’ Bett. Er hatte zwar gewisse Schwierigkeiten, die genuschelten Worte zu verstehen, aber am Ende hatte er die Bestätigung bekommen, dass alles genauso vor sich gegangen war, wie Per bereits gestanden hatte.

Als er alle seine Fragen gestellt hatte, wandte er sich wieder an die Eltern.

»Darf ich auch seine Fingerabdrücke nehmen?«

Wieder warfen sich die beiden einen Blick zu, und wieder ergriff Mattias’ Vater das Wort. »Ja, das ist in Ordnung. Wenn es notwendig ist, um …« Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern sah seinen Sohn an. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Es dauert nur eine Minute.« Gösta zog die Ausrüstung aus der Tasche.

Eine Weile später saß er auf dem Parkplatz im Auto und betrachtete Mattias’ Fingerabdrücke. Vielleicht waren sie für die Ermittlungen vollkommen bedeutungslos. Aber er hatte seine Arbeit gemacht. Endlich. Ein schwacher Trost.

»Letzter Halt für heute«, seufzte Martin, als sie vor der Redaktion vom Bohusläningen ausstiegen.

»Tja, wir sollten uns bald in Richtung Heimat begeben.« Paula sah auf die Uhr. Sie hatte geschwiegen, seit sie beim Büro von Schwedens Freunden abgefahren waren, und Martin hatte sie in Ruhe nachdenken lassen. Er konnte nachvollziehen, dass es schwer für sie war, mit solchen Menschen konfrontiert zu sein. Leute, die sie verurteilten, bevor sie Hallo gesagt hatte, die nur ihre Hautfarbe und nichts anderes sahen. Er fand es selbst unangenehm, aber er war mit seiner schneeweißen sommersprossigen Haut und den kupferroten Haaren dieser Art von Blicken nicht ausgesetzt. Er hatte sich zwar in der Schulzeit den einen oder anderen dummen Spruch über seine Haarfarbe anhören müssen, aber das war lange her und nicht vergleichbar.

»Wir suchen Kjell Ringholm.« Paula lehnte sich an den Tresen.

»Einen Augenblick, bitte, ich sage ihm Bescheid.« Die Empfangsdame griff zum Telefon und teilte Kjell Ringholm mit, er habe Besuch.

»Setzen Sie sich. Er kommt gleich und holt Sie ab.«

»Danke.« Sie machten es sich auf den Sesseln bequem, die um einen niedrigen Tisch gruppiert waren, und warteten. Nach ein paar Minuten kam ein etwas rundlicher Mann mit dunklen Haaren und Vollbart auf sie zu. Paula fand, dass er große Ähnlichkeit mit Björn von Abba hatte. Oder mit Benny? Sie konnte die beiden nie auseinanderhalten.

»Kjell Ringholm.« Sein fester Händedruck tat beinahe weh. Martin verzog unfreiwillig das Gesicht.

»Gehen wir zu meinem Schreibtisch.« Er durchquerte vor ihnen die Redaktion und führte sie in sein Zimmer.

»Nehmen Sie Platz. Ich dachte, ich würde alle Polizeibeamten in Uddevalla kennen, aber Ihre Gesichter sind neu für mich. Für wen arbeiten Sie?« Kjell setzte sich an seinen Schreibtisch, der mit Papier bedeckt war.

»Wir gehören nicht zur Polizei Uddevalla, sondern zur Dienststelle in Fjällbacka.«

»Ach, tatsächlich?« Kjell wirkte erstaunt. Paula glaubte jedoch, einen Moment lang noch etwas anderes in seinen Augen aufblitzen zu sehen, aber es war genauso schnell wieder verschwunden.

»Was haben Sie auf dem Herzen?« Er lehnte sich zurück und faltete die Hände vor dem Bauch.

»In erster Linie müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir Ihren Sohn heute wegen schwerer Körperverletzung eines Schulkameraden aufgegriffen haben«, sagte Martin.

Der Mann hinter dem Schreibtisch richtete sich auf. »Was sagen Sie da? Sie haben Per festgenommen? Wen hat er …? Wie geht es dem …?« Er verhaspelte sich, weil die Worte nur so aus seinem Mund sprudelten. Paula wartete ruhig ab, bis er eine Pause machte.

»Er hat einen Schulkameraden mit Namen Mattias Larsson auf dem Schulhof zusammengeschlagen. Der Junge liegt in Strömstad im Krankenhaus. Unserem jüngsten Bericht zufolge ist sein Zustand stabil, aber er hat einige ernsthafte Verletzungen davongetragen.«

»Was …« Kjell schien Schwierigkeiten zu haben, die Neuigkeiten zu verarbeiten. »Warum haben Sie mich nicht schon früher benachrichtigt? Der Vorfall scheint doch schon ein paar Stunden her zu sein.«

»Per wollte, dass wir seine Mutter anrufen. Sie kam in die Dienststelle und war während des Verhörs dabei. Anschließend durfte er mit ihr nach Hause gehen.«

»Tja, die familiäre Situation ist nicht gerade optimal, wie Ihnen vielleicht aufgefallen sein dürfte.« Kjell sah Paula und Martin durchdringend an.

»Da wir im Laufe des Verhörs gemerkt haben, dass es gewisse … Probleme gibt«, Martin zögerte, »haben wir das Jugendamt gebeten, sich ein Bild zu machen.«

Kjell seufzte. »Ich hätte das längst angehen sollen … aber es kam dauernd etwas dazwischen … Ich weiß nicht …« Er starrte ein Foto auf seinem Schreibtisch an, auf dem eine Frau und zwei Kinder knapp unter zehn abgebildet waren. Eine Weile war es still.

»Was passiert jetzt?«

»Der Staatsanwalt wird sich seine Meinung bilden und dann entscheiden, wie es weitergeht. Sie dürfen die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

Kjell winkte ab. »Das weiß ich. Glauben Sie mir, ich nehme das nicht auf die leichte Schulter, ich würde nur gerne etwas konkreter von Ihnen wissen, womit Sie rechnen …« Er warf noch einen Blick auf das Bild, bevor er wieder die Polizisten ansah.

Paula beantwortete die Frage. »Schwer zu sagen. Ich würde auf ein Heim für Schwererziehbare tippen.«

Kjell nickte resigniert. »Das ist wahrscheinlich das Beste. Per macht schon so lange … Schwierigkeiten, und er würde vielleicht endlich den Ernst der Lage begreifen. Er hat es nicht leicht gehabt. Ich war nicht so für ihn da, wie ich es hätte sein sollen, und seine Mutter … Das haben Sie ja mit eigenen Augen gesehen. Aber sie war nicht immer so. Die Scheidung hat ihr …«, seine Stimme überschlug sich, und er blickte wieder das Foto an, »ziemlich zu schaffen gemacht.«

»Da wäre noch etwas.« Martin beugte sich nach vorn und betrachtete Kjell.

»Ja?«

»Im Laufe des Verhörs stellte sich heraus, dass Per im Juni einen Einbruch verübt und der Besitzer, Erik Frankel, ihn ertappt hat. Offenbar wissen Sie von diesem Ereignis?«

Eine Sekunde lang war Kjell vollkommen still, doch dann nickte er leicht.

»Das ist richtig. Erik Frankel rief mich an, nachdem er Per in der Bibliothek eingesperrt hatte, und ich bin sofort hingefahren.« Er lächelte gequält. »Es war wirklich lustig, Per zwischen all diesen Büchern zu sehen. Wahrscheinlich war es seine erste Berührung mit diesem Medium.«

»An Einbrüchen kann ich nichts Amüsantes erkennen«, erwiderte Paula trocken. »Das hätte übel ausgehen können.«

»Ich weiß, Entschuldigung. Ein schlechter Scherz«, lächelte Kjell schuldbewusst.

»Erik und ich waren uns einig, dass man die Angelegenheit nicht an die große Glocke hängen sollte. Erik meinte, der kleine Denkzettel würde genügen, und Per würde so etwas in nächster Zeit nicht wieder tun. Das war alles. Ich habe Per die Leviten gelesen, und …« Er zuckte hilflos mit den Achseln.

»Offenbar haben Sie und Erik Frankel noch über etwas anderes als den Einbruch gesprochen. Ihr Sohn hat Erik sagen hören, er habe Informationen, die für Sie als Journalisten von Interesse sein könnten. Sie haben vereinbart, sich noch einmal zu treffen. Klingelt da etwas?«

Es wurde mucksmäuschenstill. Dann schüttelte Kjell den Kopf. »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Das hat Per sich entweder ausgedacht oder möglicherweise völlig missverstanden. Wir sprachen darüber, dass ich mich melden könnte, falls ich Hintergrundwissen über den Nazismus bräuchte.«

Martin und Paula sahen ihn skeptisch an. Keiner von beiden glaubte ihm ein Wort. Es war offensichtlich, dass er log, aber sie konnten es nicht beweisen.

»Wissen Sie, ob Ihr Vater und Erik Kontakt hatten?«, fragte Martin am Ende.

Kjells Schultern entspannten sich ein wenig. Er schien erleichtert, dass sie das Thema wechselten.

»Soweit ich weiß, nicht. Andererseits habe ich keinen Überblick über die Aktivitäten meines Vaters und möchte das auch gar nicht. Sie interessieren mich nur insofern, als sie meine Artikel betreffen.«

»Ist es nicht ein merkwürdiges Gefühl«, fragte Paula neugierig, »seinen Vater öffentlich anzuprangern?«

»Gerade Sie sollten verstehen, wie wichtig es ist, aktiv gegen die Fremdenfeindlichkeit vorzugehen«, antwortete Kjell. »Sie ist ein Krebsgeschwür in unserer Gesellschaft, das wir mit allen Mitteln bekämpfen müssen, und wenn mein Vater zufälligerweise ein Teil dieser Wucherung ist, dann … ist er selbst schuld.« Kjell breitete die Arme aus. »Im Übrigen gibt es zwischen mir und meinem Vater, abgesehen von der Tatsache, dass er meine Mutter geschwängert hat, keine Bindung. Als Kind habe ich ihn nur im Besuchsraum im Gefängnis gesehen. Als ich alt genug war, mir Gedanken zu machen und eigene Entscheidungen zu fällen, wurde mir klar, dass er kein Mensch ist, mit dem ich etwas zu tun haben möchte.«

»Sie haben also keinen Kontakt? Sieht Per denn seinen Großvater?«, fragte Martin aus reiner Neugier, obwohl es für die Ermittlungen eigentlich keine Bedeutung hatte.

»Ich habe überhaupt keinen Kontakt zu ihm, aber meinem Sohn hat er bedauerlicherweise einen Haufen Mist eingeredet. Solange Per klein war, konnten wir verhindern, dass sie sich begegneten, aber seitdem er alt genug ist und sich frei bewegen kann … Es ist uns nicht gelungen, die Beziehung in dem Maße zu unterbinden, wie wir uns das gewünscht hätten.«

»Das wäre dann alles. Vorläufig«, fügte Martin hinzu und stand auf. Paula folgte seinem Beispiel. Auf dem Weg zur Tür blieb Martin stehen und drehte sich noch einmal um.

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine Informationen von oder über Erik Frankel haben, die für uns von Nutzen sein könnten?«

Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment sah es so aus, als ob Kjell zögerte. Dann schüttelte er mit Nachdruck den Kopf und sagte kurz angebunden: »Absolut sicher.«

Auch diesmal schenkten sie ihm keinen Glauben.

Margareta wurde unruhig. Seit ihr Vater gestern zu Besuch gekommen war, ging drüben bei ihren Eltern niemand ans Telefon. Das war merkwürdig und besorgniserregend. Britta und Herman sagten immer Bescheid, wenn sie irgendwohin gingen, doch inzwischen unternahmen sie ohnehin nicht mehr viel. Sie rief jeden Abend in ihrem Elternhaus an, um sich ein bisschen zu unterhalten. Dieses Ritual pflegten sie seit vielen Jahren, und sie konnte sich nicht entsinnen, dass ihre Eltern auch nur ein einziges Mal nicht an den Apparat gegangen wären. Diesmal wählte sie die Nummer, die ihre Finger mittlerweile auswendig kannten, vergeblich. Wieder und wieder ertönte der einsame Klingelton, ohne dass am anderen Ende jemand den Hörer abnahm. Sie hatte bereits am gestrigen Abend hinübergehen und nachsehen wollen, aber Owe, ihr Mann, hatte sie überredet, bis zum nächsten Tag abzuwarten. Die beiden seien bestimmt früh ins Bett gegangen. Doch nun war Morgen, fast schon Vormittag, und es antwortete noch immer niemand. Margaretas Unruhe wurde immer stärker, bis sie fast sicher wusste, dass etwas passiert war. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben.

Sie zog Schuhe und Jacke an und machte sich entschlossen auf den Weg zu ihrem Elternhaus. In jeder Sekunde dieses zehnminütigen Spaziergangs machte sie sich Vorwürfe, weil sie auf Owe gehört und nicht schon gestern Abend hingegangen war. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte sie.

Als sie nur noch ungefähr hundert Meter entfernt war, sah sie eine Person vor der Haustür stehen. Blinzelnd versuchte sie zu erkennen, wer es war, doch erst, als sie näher gekommen war, erkannte sie die Schriftstellerin Erica Falck.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie freundlich, hörte jedoch selbst den besorgten Unterton heraus.

»Ich … möchte zu Britta. Aber es macht niemand auf«, antwortete die blonde Frau auf dem Treppenabsatz unbeholfen.

»Ich rufe die beiden seit gestern Abend an, aber es geht niemand ans Telefon. Deswegen will ich nachsehen, ob mit ihnen alles in Ordnung ist«, sagte Margareta. »Sie können mit hereinkommen und im Flur warten.« Margareta streckte die Hand nach einem der Balken aus, die das Dach über dem Eingangsbereich abstützten, und zog einen Schlüssel hervor. Mit zitternder Hand öffnete sie die Tür.

»Kommen Sie, ich gehe nachsehen«, rief sie und war auf einmal ganz froh, nicht allein zu sein. Eigentlich hätte sie ihre Schwestern anrufen sollen, bevor sie hierherkam. Doch dann hätte sie nicht verhehlen können, für wie ernst sie die Lage hielt. Dass die Besorgnis sie innerlich auffraß.

Sie ging durchs Erdgeschoss. Hier war alles sauber und ordentlich und sah aus wie immer.

»Mama? Papa?«, rief sie, erhielt aber keine Antwort. Nun bekam sie es ernsthaft mit der Angst zu tun. Sie konnte kaum noch atmen. Sie hätte unbedingt ihre Schwestern anrufen sollen.

»Bleiben Sie hier, ich sehe oben nach«, sagte sie zu Erica und ging die Treppe hinauf. Sie beeilte sich nicht, sondern stieg langsam und innerlich bebend hinauf. Es war so unnatürlich still, doch als sie die oberste Stufe erreicht hatte, hörte sie ein leises Geräusch. Es klang wie ein Schluchzen. Fast wie ein weinendes Kind. Sie hielt einen Augenblick inne, um herauszufinden, woher die Laute kamen, merkte aber bald, dass sie aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern drangen. Mit heftig pochendem Herzen hastete sie dorthin und machte vorsichtig die Tür auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie das Bild, das sich ihr bot, verarbeitet hatte. Dann hörte sie, wie aus weiter Ferne, ihre eigene Stimme um Hilfe schreien.

Per öffnete ihm die Tür.

»Opa.« Er machte ein Gesicht wie ein Welpe, der einen Klaps auf den Kopf erwartete.

»Was hast du wieder angestellt?«, fragte Frans barsch und drängte sich an ihm vorbei.

»Aber ich … er … hat doch so viel Mist erzählt. Sollte ich das etwa auf mir sitzen lassen?« Per wirkte gekränkt. Er hatte gedacht, wenigstens sein Großvater würde ihn verstehen. »Verglichen mit den Sachen, die du gemacht hast, war das Kinderkram«, fügte er trotzig hinzu, wich jedoch Frans’ Blick aus.

»Deshalb weiß ich ja, wovon ich rede.« Frans packte ihn an den Schultern, schüttelte ihn und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen.

»Wir setzen uns jetzt zusammen hin und unterhalten uns, damit du endlich Vernunft annimmst. Wo ist überhaupt deine Mutter?« Frans sah sich nach Carina um. Er war bereit, für sein Recht zu kämpfen, hier zu sein und mit dem Enkelsohn zu reden.

»Wahrscheinlich schläft sie ihren Rausch aus.« Per trottete in die Küche. »Als wir gestern nach Hause kamen, hat sie angefangen zu saufen, und als ich ins Bett ging, war sie immer noch dabei, aber nun habe ich sie schon seit einer ganzen Weile nicht gehört.«

»Ich schaue mal nach ihr. Du setzt inzwischen Kaffee auf«, sagte Frans.

»Ich weiß aber gar nicht, wie man das …«, begann Per in seinem quengeligen und widerspenstigen Tonfall.

»Dann wird es höchste Zeit, dass du es lernst«, zischte Frans und machte sich auf den Weg zu Carinas Schlafzimmer.

Er rief ihren Namen, wurde aber nur von einem lauten Schnarchen empfangen. Sie fiel beinahe aus dem Bett, und der eine Arm hing auf dem Boden. Es roch nach Suff und Kotze.

»Igitt«, sagte Frans, doch dann ging er zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte sie.

»Du musst jetzt aufwachen, Carina.« Noch immer keine Reaktion. Er sah sich um. Das Badezimmer grenzte direkt ans Schlafzimmer. Er ging hinein und ließ Wasser in die Wanne laufen. Währenddessen zog er sie angewidert aus. Da sie nur BH und Höschen trug, dauerte es nicht lang. Eingewickelt in ihre Decke trug er sie zur Badewanne und legte sie einfach ins Wasser.

»Was soll der Mist?«, lallte seine ehemalige Schwiegertochter verschlafen. »Was machst du da?«

Frans antwortete nicht, sondern ging zu ihrem Kleiderschrank, suchte etwas Sauberes zum Anziehen heraus und legte die Sachen auf den Klodeckel.

»Per hat Kaffee aufgesetzt. Wasch dich, zieh dich an und komm in die Küche.«

Einen Augenblick lang schien sie protestieren zu wollen. Dann nickte sie gefügig.

»Na, ist dir das Kunststück gelungen, eine Kaffeemaschine einzuschalten?«, fragte er Per, der am Küchentisch saß und seine Nagelhaut untersuchte.

»Der schmeckt bestimmt beschissen«, antwortete Per grimmig.

Frans musterte die pechschwarze Flüssigkeit, die in die Glaskanne tröpfelte. »Stark genug ist er anscheinend.«

Lange saßen er und sein Enkelsohn sich schweigend gegenüber. Es war ein so seltsames Gefühl, die eigene Geschichte bei einem anderen noch einmal zu erleben. Natürlich konnte er in dem Jungen Züge seines eigenen Vaters erkennen. Er bereute es noch immer, dass er ihn nicht erschlagen hatte. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er es getan hätte. Wenn er die Wut, die in ihm gärte, gegen denjenigen gerichtet hätte, der sie eigentlich verdiente. Anstatt sich anderweitig Luft zu machen, ohne Richtung und ohne Ziel. Sie war immer noch da, das wusste er. Er ließ sich nur nicht mehr von ihr beherrschen, wie in seiner Jugend. Nun hatte er den Zorn unter Kontrolle und nicht umgekehrt. Davon musste er auch seinen Enkelsohn überzeugen. Wut war nicht verkehrt. Es kam nur darauf an, selbst zu bestimmen, wann man sie herausließ. Sie musste ein mit Besonnenheit abgeschossener Pfeil sein und keine Axt, die wild um sich schlug. Sonst erging es einem so wie ihm. Er hatte sich ein Leben eingebrockt, das er größtenteils im Gefängnis verbrachte, und sein eigener Sohn ertrug seinen Anblick kaum. Sonst hatte er niemand. Die anderen Mitglieder der Organisation waren keine Freunde, und er hatte auch nie den Fehler gemacht, sie als solche zu betrachten oder zu versuchen, sie dazu zu machen. Sie waren viel zu erfüllt von ihrem eigenen Zorn, um diese Art von Verhältnis zueinander aufzubauen. Sie hatten das gleiche Ziel. Das war alles.

Er betrachtete Per und sah seinen Vater, doch er sah auch sich selbst. Und Kjell. Er hatte versucht, ihn während der Besuche im Gefängnis und in den kurzen Phasen, in denen er auf freiem Fuß war, kennenzulernen, doch dieses Vorhaben war zum Scheitern verurteilt gewesen. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht einmal, ob er seinen Sohn liebte. Vielleicht hatte er das einst getan. Möglicherweise hatte sein Herz einen Sprung gemacht, wenn Rakel mit dem Jungen in die Haftanstalt kam. Er konnte sich nicht mehr entsinnen.

Merkwürdigerweise konnte er sich hier am Küchentisch mit seinem Enkelsohn nur noch an die Liebe zu Elsy erinnern. Sie war sechzig Jahre alt und hatte sich trotzdem in sein Gedächtnis gebrannt. Sie und der Enkelsohn waren die einzigen Menschen, die ihm je etwas bedeutet hatten. Die Gefühle in ihm weckten. Abgesehen davon war er innerlich leblos. Sein Vater hatte alles abgetötet. Frans hatte schon lange nicht mehr daran gedacht. Nicht an seinen Vater und nicht an alles andere. Doch dann war die Vergangenheit plötzlich zum Leben erwacht, und nun wurde es Zeit, sich damit zu befassen.

»Kjell dreht durch, wenn er erfährt, dass du hierherkommst.« Carina stand in der Tür. Sie schwankte leicht, war aber sauber und angezogen. Sie hatte sich ein Handtuch umgelegt, damit ihre triefenden Haare nicht den Pullover durchnässten.

»Es ist mir egal, was Kjell sagt«, erwiderte Frans trocken. Er stand auf, um sich und Carina Kaffee einzuschenken.

»Der sieht ungenießbar aus.« Sie setzte sich und starrte die randvolle Tasse an.

»Du trinkst das jetzt.« Frans öffnete Türen und Schubladen.

»Was machst du da?« Carina nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. »Lass meine Schränke in Ruhe!«

Wortlos suchte er die Flaschen zusammen und goss den Inhalt systematisch in den Abfluss.

»Du hast kein Recht, dich einzumischen!«, schrie sie. Per stand auf, um zu gehen.

»Du bleibst hier«, befahl Frans mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Nun reißen wir das Übel mit der Wurzel aus.«

Per ließ sich gehorsam auf den Stuhl sinken.

Eine Stunde später waren alle Schnapsflaschen leer. Nur die Wahrheiten waren geblieben.

Kjell starrte auf den Computerbildschirm. Das schlechte Gewissen nagte ununterbrochen an ihm. Seit ihn gestern die Polizei besucht hatte, sammelte er Kraft, um zu Per und Carina zu fahren. Aber er schaffte es einfach nicht. Er wusste nicht, an welchem Ende er anfangen sollte. Erschrocken stellte er fest, dass er allmählich den Mut verlor. Mit äußeren Feinden kämpfte er unermüdlich. Er ließ sich weder von Politikern noch von Neonazis einschüchtern und drosch unverdrossen auf die größten Windmühlenflügel ein. Aber wenn es um seine Familie ging, um Per und Carina, hatte er plötzlich keine Energie mehr. Sein schlechtes Gewissen hatte ihm die Kraft geraubt.

Er betrachtete das Foto von Beata und den Kindern. Natürlich liebte er Magda und Loke und wollte nicht ohne sie leben … aber gleichzeitig war alles so schnell gegangen und so schiefgelaufen. Er hatte sich in eine Situation hineinmanövriert, die aus dem Ruder lief, und er fragte sich manchmal, ob sie mehr Gutes oder mehr Schlechtes mit sich gebracht hatte. Vielleicht war das Timing ungünstig gewesen. Oder er befand sich in einer Art Midlife-Crisis, und Beata war genau zum falschen Zeitpunkt aufgetaucht. Zuerst konnte er es gar nicht fassen. Dass sich tatsächlich ein hübsches junges Mädchen, in deren Augen er doch ein alter Knacker sein musste, für ihn interessierte. Aber es war die Wahrheit. Und er konnte ihr nicht widerstehen. Mit ihr zu schlafen, ihren festen nackten Körper zu spüren, ihre anhimmelnden Blicke zu sehen, die sich wie ein Scheinwerfer auf ihn richteten, hatte ihn förmlich berauscht. Er konnte nicht mehr klar denken, keinen Schritt mehr zurücktreten und nicht den geringsten vernünftigen Gedanken fassen. Er ließ sich einfach mitreißen und genoss den Taumel. Ironischerweise begann gerade die Ernüchterung einzusetzen, als ihm die Situation vollständig entglitt. Er hatte es langsam satt, in Diskussionen nie auf wirklichen Widerstand zu stoßen, und langweilte sich an der Seite einer Frau, die von Mondlandung und Ungarnaufstand keine Ahnung hatte. Selbst die glatte Haut unter seinen Fingern verlor ihre Anziehungskraft.

Noch immer erinnerte er sich an den Augenblick, in dem alles zusammenbrach. Als wäre es gestern gewesen. Die Verabredung im Café. Ihre großen blauen Augen, als sie ihm freudestrahlend mitteilte, dass er Vater wurde, dass sie ein Kind bekamen und dass er Carina nun endlich alles sagen müsse. Das habe er ihr doch schon so lange versprochen!

In diesem Moment begriff er, dass er einen riesigen Fehler begangen hatte, und er wusste noch genau, wie ihm mit einem bleischweren Gefühl in der Brust klar wurde, dass er diesen nun nicht mehr gutmachen konnte.

Ganz kurz überlegte er, ob er sie einfach an diesem Tisch sitzenlassen, nach Hause gehen, sich neben Carina aufs Sofa legen und mit ihr zusammen die Nachrichten ansehen sollte, während der fünfjährige Per friedlich in seinem Bett schlief.

Sein männlicher Instinkt sagte ihm jedoch, dass es diese Alternative für ihn nicht gab. Manche Liebhaberinnen erzählten der Ehefrau nichts, andere taten es doch. Er wusste intuitiv, zu welcher Gruppe Beata gehörte. Wenn er ihr Leben kaputtmachte, würde sie sich einen Dreck darum scheren, wen oder was sie zerstörte. Sie würde sein ganzes Dasein zerstampfen, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Und er würde zwischen den Trümmern hocken.

Er wusste das und schlug den Weg des feigen Mannes ein. Den Gedanken, am Ende allein dazustehen, ertrug er nicht. In einer miesen Junggesellenwohnung die Wände anzustarren und sich zu fragen, wo sein Leben abgeblieben war. Also entschied er sich für die einzige Möglichkeit, die er noch hatte. Die Bedingungen diktierte Beata. Sie triumphierte, und er verließ Carina und Per. Sie blieben wie Abfall zurück. Sie hatten das Gefühl, einfach weggeworfen zu werden. Weil sie nichts mehr taugten. Er hatte Carina gedemütigt und Per verloren. Das war der Preis, den er für das Gefühl junger Haut unter seinen Händen zahlen musste.

Vielleicht hätte er Per behalten können. Wenn er die Kraft gehabt hätte, sich über das Schuldgefühl hinwegzusetzen, das sich jedes Mal, wenn er an die beiden dachte, wie ein Felsbrocken auf ihn legte. Aber es gelang ihm nicht. Er stattete sporadische Besuche ab, spielte bei seltenen Anlässen den Vater und mimte Autorität. Das Resultat war erbärmlich.

Nun kannte er seinen Sohn nicht mehr. Er war ein Fremder für ihn. Kjell war nicht mehr in der Lage, es zu versuchen, denn er hatte sich in seinen eigenen Vater verwandelt. Das war die bittere Wahrheit. Er hatte sein gesamtes Leben damit verbracht, einen Vater zu hassen, der sich gegen ihn und seine Mutter entschieden hatte und ein Leben führte, an dem sie keinen Anteil nehmen konnten.

Plötzlich begriff er, dass er genau das Gleiche getan hatte.

Kjell schlug mit der Faust auf den Tisch, damit er den Schmerz in seinem Herzen nicht mehr so spürte, doch es nützte nichts. Er öffnete die unterste Schreibtischschublade, um einen Blick auf das Einzige zu werfen, was ihn von seinen Qualen ablenken konnte.

Er starrte die Mappe an. Einen Augenblick lang war er versucht gewesen, das Material der Polizei zu übergeben, aber der Profi in ihm hatte ihn in letzter Sekunde davon abgehalten. Viel hatte Erik ihm ohnehin nicht gegeben. Als er Kjell in seinem Büro besuchte, drehte er sich die meiste Zeit im Kreis und wirkte unsicher, was und wie viel er erzählen sollte. Einen Moment lang sah es so aus, als ob er auf dem Absatz kehrtmachen und wieder gehen würde, ohne etwas preiszugeben.

Kjell öffnete die Mappe und bedauerte, dass er nicht dazu gekommen war, Erik mehr Fragen zu stellen. Was sollte Kjell nach Eriks Meinung tun, wo sollte er suchen? Außer den Zeitungsartikeln, die Erik ihm kommentarlos überreicht hatte, hatte er nichts in der Hand.

»Was soll ich damit?«, hatte er gefragt.

»Das herauszufinden, ist Ihre Aufgabe«, antwortete Erik. »Es muss einen seltsamen Eindruck auf Sie machen, aber die ganze Wahrheit kann ich Ihnen nicht sagen. Das schaffe ich nicht. Ich kann Ihnen jedoch das Werkzeug geben, mit dem Sie den Rest alleine erledigen können.«

Dann ging er und ließ Kjell mit den drei Zeitungsartikeln allein.

Kjell kratzte sich am Bart und schlug die Mappe auf. Er hatte das Material schon dreimal durchgelesen, doch jedes Mal waren andere Dinge dazwischengekommen, die ihn davon abhielten, wirklich mit der Arbeit zu beginnen. Wenn er ehrlich war, hatte er sich auch gefragt, ob es Sinn hatte, viel Zeit damit zu verschwenden. Vielleicht war der Alte verkalkt. Warum redete er nicht Klartext, wenn er tatsächlich über so sensationelle Informationen verfügte, wie er behauptete? Nun sah die Lage vollkommen anders aus. Erik Frankel war ermordet worden. Plötzlich schien die Mappe unter seinen Fingern zu glühen.

Es war Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und loszulegen. Er wusste schon genau, wo er anfangen würde. Beim einzigen gemeinsamen Nenner der drei Artikel. Dem norwegischen Widerstandskämpfer namens Hans Olavsen.