Fjällbacka 1944

Hilma!« Elofs Tonfall ließ Ehefrau und Tochter sofort herbeieilen.

»Meine Güte, was brüllst du denn so?«, fragte Hilma, verstummte jedoch, als sie sah, dass Elof nicht allein war.

»Haben wir Besuch?« Nervös trocknete sie sich die Hände an ihrer Schürze ab.

»Und ich bin mitten im Abwasch …«

»Keine Sorge«, sagte Elof beruhigend. »Dem Jungen hier ist es ziemlich egal, wie es bei uns aussieht. Er ist heute auf dem Schiff mitgekommen, weil er vor den Deutschen geflohen ist.«

Der Junge reichte Hilma die Hand und verbeugte sich.

»Hans Olavsen«, sagte er in seinem norwegischen Singsang und gab auch Elsy die Hand. Sie nickte unsicher.

»Vielleicht haben wir eine kleine Stärkung für ihn, er hat nämlich keine leichte Reise hinter sich.« Elof hängte seine Mütze auf und drückte Elsy die Jacke in die Hand, doch sie blieb wie angewurzelt stehen.

»Na los, Mädchen, häng die Jacke auf«, sagte ihr Vater streng, aber dann konnte er es sich nicht verkneifen, ihr über die Wange zu streichen. Angesichts der Gefahren, die mittlerweile jede Fahrt mit sich brachte, empfand er es immer als Geschenk, nach Hause zu kommen und Frau und Tochter wiederzusehen. Er räusperte sich betreten, weil er in Anwesenheit eines Fremden so viel Gefühl gezeigt hatte.

»Tritt ein. Hilma hat sicher etwas zu essen und zu trinken für uns.« Elof setzte sich an den Küchentisch.

»Wir haben zwar selbst nicht viel«, sagte seine Ehefrau mit gesenktem Blick, »aber davon geben wir gerne etwas ab.«

»Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar.« Der Junge setzte sich Elof gegenüber und betrachtete hungrig den Teller mit den belegten Broten, den Hilma auf den Tisch gestellt hatte.

»Bedient euch.« Sie ging zum Schrank, um den beiden Männern ein Schnäpschen einzuschenken. Es war ein teurer Tropfen, aber bei so einer Gelegenheit passte er.

Sie aßen eine Weile schweigend. Als nur noch ein Brot übrig war, schob Elof dem Norweger den Teller hinüber und gab ihm zu verstehen, dass er es nehmen sollte. Elsy, die an der Spüle stand und ihrer Mutter half, beobachtete die beiden heimlich. Es war wahnsinnig spannend, dass hier in ihrer Küche jemand saß, der in Norwegen vor den Deutschen geflohen war. Das musste sie unbedingt den anderen erzählen. Sie konnte es kaum erwarten. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und sie musste sich auf die Zunge beißen, um ihn nicht auszuplappern.

Ihr Vater musste jedoch den gleichen Einfall gehabt haben, denn genau in diesem Augenblick fragte er: »Wir haben hier einen Jungen in der Gegend, den die Deutschen geschnappt haben. Es ist schon über ein Jahr her, aber vielleicht weißt du …« Elof öffnete die Arme. Sein Blick hing hoffnungsvoll an den Lippen des Jungen gegenüber.

»Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn kenne, ist nicht groß. Es gibt so viele. Wie heißt er denn?«

»Axel Frankel«, antwortete Elof und sah den Norweger erwartungsvoll an. Er wurde jedoch enttäuscht. Nachdem der Junge eine Weile nachgedacht hatte, schüttelte er langsam den Kopf.

»Leider nicht. Er ist uns nicht begegnet. Das glaube ich jedenfalls. Sie haben nicht zufällig gehört, was mit ihm passiert ist? Irgendeinen Anhaltspunkt …?«

»Nein.« Auch Elof schüttelte den Kopf. »Die Deutschen haben ihn in Kristiansand festgenommen, und seitdem haben wir kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Soweit wir wissen, könnte er …«

»Nein, Vater, das ist unmöglich!« Elsy traten die Tränen in die Augen. Gedemütigt rannte sie nach oben in ihr Zimmer. Wie konnte sie sich nur so unmöglich benehmen, sie machte ja nicht nur sich selbst, sondern auch Mutter und Vater lächerlich! Vor einem wildfremden Menschen wie ein Kleinkind loszuheulen!

»Kennt Ihre Tochter diesen … Axel?«, fragte der Norweger bekümmert und blickte ihr hinterher.

»Sie und sein jüngerer Bruder sind befreundet. Erik ist die Sache sehr an die Nieren gegangen. Der ganzen Familie natürlich.« Elof seufzte.

Ein Schatten fiel über seine Augen. »Dieser Krieg hat vielen übel mitgespielt«, sagte der Norweger. Elof spürte, dass dieser Junge Dinge gesehen hatte, die kein Mensch in seinem Alter erleben sollte.

»Was ist mit deiner Familie?«, fragte er vorsichtig. Hilma, die gerade einen Teller abtrocknete, wurde ganz still.

»Ich weiß nicht, wo sie sind«, antwortete Hans schließlich und senkte den Blick. »Wenn der Krieg zu Ende ist, falls es dazu jemals kommt, muss ich sie suchen. Vorher kann ich nicht nach Norwegen zurückkehren.«

Hilmas und Elofs Blicke trafen sich über dem hellen Schopf des Jungen. Nach einem kurzen stummen Zwiegespräch waren sie sich einig. Elof räusperte sich.

»Im Sommer vermieten wir das Haus ja immer an Urlauber und ziehen in den Keller, aber ansonsten steht der Raum dort unten leer. Vielleicht willst du … eine Zeitlang hierbleiben und in Ruhe überlegen, wohin du als Nächstes gehen willst. Arbeit kann ich dir auch beschaffen. Vielleicht keine, die dich rund um die Uhr beschäftigt, aber zumindest wirst du ein bisschen Geld in der Tasche haben. Ich muss dem Kämmerer natürlich berichten, dass ich dich mit an Land gebracht habe, aber wenn ich verspreche, mich um dich zu kümmern, gibt es bestimmt keine Probleme.«

»Sie müssen mir nur erlauben, mit dem Geld, das ich verdiene, Miete für das Zimmer zu bezahlen.« Hans’ Augen füllten sich mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Schuld.

Elof warf Hilma einen Blick zu und nickte.

»Das können wir so machen. In diesen Zeiten ist jeder Zuschuss willkommen.«

»Ich gehe alles vorbereiten.« Hilma zog ihren Mantel über.

»Ich bin Ihnen wirklich dankbar«, sagte der Junge in seinem singenden Norwegisch und senkte schnell den Kopf, doch Elof hatte trotzdem das feuchte Glitzern in seinen Augen bemerkt.

»Das ist doch nicht der Rede wert«, sagte er unbeholfen.

Hilfe!«

Erica zuckte zusammen, als sie den Schrei im oberen Stockwerk hörte. Sie raste los und erklomm mit wenigen Schritten die Treppe.

»Was ist passiert?« Als sie Margaretas Gesichtsausdruck sah, blieb sie ruckartig stehen. Margareta stand vor einem der Zimmer im Obergeschoss. Erica ging ein paar Schritte näher heran und schnappte nach Luft, als sie ein Doppelbett erblickte.

»Papa«, wimmerte Margareta und trat ein. Erica blieb in der Tür stehen. Sie wusste nicht, was hier vor sich ging und was sie tun sollte.

»Papa …«, wiederholte Margareta.

Herman lag auf dem Bett. Er starrte an die Decke und reagierte nicht. Neben ihm lag Britta. Ihr Gesicht war weiß und starr, und es bestand kein Zweifel daran, dass sie tot war. Herman lag ganz dicht neben ihr und hatte die Arme um ihren steifen Körper gelegt.

»Ich habe sie umgebracht«, sagte er leise. Margareta holte erschrocken Luft.

»Was sagst du da, Papa? Natürlich hast du Mama nicht umgebracht!«

»Ich habe sie umgebracht.« Er klammerte sich noch fester an seine tote Ehefrau.

Seine Tochter umrundete das Bett und setzte sich neben ihn. Behutsam versuchte sie, seinen verkrampften Griff zu lockern, und schließlich gelang es ihr auch. Sie strich ihm über die Stirn und sprach leise mit ihm.

»Es war nicht deine Schuld. Mama ging es nicht gut. Wahrscheinlich hat ihr Herz einfach aufgehört zu schlagen. Dafür kannst du doch nichts.«

»Ich habe sie umgebracht«, wiederholte er unbeirrbar und starrte einen Fleck an der Decke an.

Margareta drehte sich zu Erica um. »Rufen Sie bitte einen Krankenwagen.«

Erica zögerte. »Soll ich auch die Polizei rufen?«

»Mein Vater steht unter Schock. Er weiß nicht, was er sagt. Wir brauchen keine Polizei«, erwiderte Margareta in scharfem Ton. Dann wandte sie sich wieder ihrem Vater zu und ergriff seine Hand.

»Lass mich das machen, Papa. Ich rufe Anna-Greta und Birgitta an, und dann helfen wir dir. Wir sind für dich da.«

Herman antwortete nicht, sondern lag bloß willenlos da und ließ sie seine Hand halten, aber er erwiderte den Druck nicht.

Erica ging nach unten und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie überlegte lange, bevor sie die Nummer eintippte.

»Hallo, Martin, hier ist Erica. Die Frau von Patrik. Hier ist etwas passiert. Ich bin bei einer Britta Johansson, und die ist tot. Ihr Mann behauptet, er habe sie umgebracht. Es sieht zwar nach einer natürlichen Todesursache aus, aber …«

»Okay, Martin, ich warte hier. Rufst du den Krankenwagen oder soll ich das machen?«

»In Ordnung.« Erica legte auf und hoffte, dass sie nichts Dummes getan hatte. Natürlich sah es so aus, als habe Margareta recht und Britta wäre einfach eingeschlafen. Aber warum behauptete Herman dann, er habe sie umgebracht? Außerdem war es ein merkwürdiger Zufall, dass nur zwei Monate nach dem Tod von Erik noch jemand aus dem Freundeskreis ihrer Mutter verstarb. Nein, sie hatte sich richtig verhalten.

Erica ging wieder nach oben.

»Bald kommt Hilfe«, sagte sie. »Kann ich noch etwas …«

»Es wäre nett, wenn Sie Kaffee machen würden, dann kann ich meinen Vater vielleicht dazu bewegen, nach unten zu gehen.«

Vorsichtig zog sie ihn in eine sitzende Stellung.

»Komm, Papa, wir gehen nach unten und warten auf den Krankenwagen.«

Erica ging in die Küche. Sie suchte alles zusammen, was sie brauchte, und setzte eine große Kanne Kaffee auf. Wenige Minuten später hörte sie Schritte auf der Treppe. Margareta führte Herman liebevoll bis zu einem Küchenstuhl, wo er wie ein Sack in sich zusammenfiel.

»Hoffentlich können sie ihm etwas geben«, sagte Margareta besorgt. »Er muss seit gestern so dagelegen haben. Ich verstehe nicht, warum er uns nicht angerufen hat …«

»Ich habe …«, Erica zögerte, doch dann nahm sie einen neuen Anlauf. »Die Polizei habe ich auch verständigt. Sie haben mit Sicherheit recht, aber ich musste … Ich konnte nicht …« Sie fand nicht die richtigen Worte. Margareta starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Sie haben die Polizei gerufen? Glauben Sie etwa, mein Vater meint das ernst? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Er steht unter Schock, weil er seine Ehefrau tot aufgefunden hat, und nun soll er auch noch die Fragen der Polizei beantworten? Wie können Sie es wagen?« Margareta machte einen Schritt auf Erica zu, die sich schützend die Kaffeekanne vors Gesicht hielt, doch in diesem Moment klingelte es an der Tür.

»Das sind sie wahrscheinlich. Ich mache auf«, murmelte Erica mit gesenktem Blick und stellte die Kanne ab, bevor sie in den Hausflur eilte. Ganz richtig. Zuerst erblickte sie Martin.

Er nickte grimmig. »Hallo, Erica.«

»Hallo«, antwortete sie leise und trat zur Seite. Was, wenn sie sich irrte? Wenn sie einen gebrochenen Mann einer völlig unnötigen Qual aussetzte? Doch nun war es zu spät.

»Sie liegt oben im Schlafzimmer.« Sie deutete mit dem Kopf zur Küche. »Ihr Mann ist dort drinnen. Mit der Tochter. Sie hat die beiden gefunden. Offenbar ist sie schon eine Weile tot.«

»Gut, wir sehen sie uns an.« Martin winkte Paula und den Notarzt herein. Nachdem er Paula und Erica einander kurz vorgestellt hatte, ging er in die Küche, wo Margareta hinter ihrem Vater stand und ihm über die Schultern strich.

»Es ist so widersinnig.« Sie starrte Martin an. »Meine Mutter ist im Schlaf gestorben, und mein Vater steht unter Schock. Ist das hier denn wirklich notwendig?«

Martin hob begütigend die Hände. »Es ist bestimmt genau so, wie Sie sagen, aber da wir nun einmal hier sind, sehen wir uns kurz alles an, und dann haben Sie es überstanden. Mein herzliches Beileid.« Er sah ihr fest in die Augen, und schließlich nickte sie widerwillig.

»Sie liegt oben. Kann ich meine Schwestern und meinen Mann anrufen?«

»Selbstverständlich.« Martin ging die Treppe hinauf.

Nach kurzem Zögern folgte Erica ihm und dem Notarzt. Leise sagte sie zu Martin: »Ich bin gekommen, um mit ihr zu reden, unter anderem über Erik Frankel. Vielleicht ist es nur ein Zufall, aber findest du es nicht auch seltsam?«

Martin sah sie an und ließ dem verantwortlichen Arzt den Vortritt ins Schlafzimmer. »Du meinst, es gibt einen Zusammenhang?«

»Ich weiß es nicht.« Erica schüttelte den Kopf. »Aber ich stelle gerade Nachforschungen über meine Mutter an. In ihrer Kindheit war sie mit Erik Frankel und Britta befreundet. Ein Frans Ringholm gehörte auch zu der Clique.«

»Frans Ringholm?« Martin zuckte zusammen.

»Ja. Kennst du ihn?«

»Wir sind im Zusammenhang mit dem Mord an Erik Frankel auf ihn gestoßen«, sagte Martin nachdenklich. In seinem Kopf ratterte es.

»Ist es nicht ein bisschen merkwürdig, dass Britta zwei Monate nach Erik Frankel auch stirbt?«, bohrte Erica.

Martin wirkte noch immer skeptisch. »Wir sprechen hier ja nicht von jungen Menschen. Ich meine, in ihrem Alter kann eine ganze Menge passieren: Schlaganfall, Herzinfarkt, alles Mögliche.«

»Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass hier weder ein Herzinfarkt noch ein Schlaganfall vorliegt«, rief der Arzt aus dem Schlafzimmer. Martin und Erica fuhren zusammen.

»Was dann?« Martin stellte sich direkt hinter den Arzt an Brittas Bett. Erica blieb im Türrahmen stehen, reckte aber den Hals, um besser sehen zu können.

»Diese Dame hier wurde erstickt.« Der Arzt zeigte mit der einen Hand auf Brittas Augen und öffnete mit der anderen ein Lid. »Sie hat Petechien in den Augen.«

»Petechien?«, fragte Martin.

»Das sind rote Punkte im Augapfel. Sie bilden sich, wenn aufgrund von erhöhtem Blutdruck winzige Gefäße platzen, und sind ein typisches Zeichen für Ersticken, Erdrosseln und Ähnliches.«

»Könnte ihr denn nicht etwas anderes zugestoßen sein, das dazu führte, dass sie keine Luft mehr bekam? Hätte sie dann nicht die gleichen Symptome?«, fragte Erica.

»Das ist natürlich möglich«, antwortete der Arzt. »Aber da ich schon bei einer ersten Untersuchung eine Feder in ihrem Rachen erkennen kann, würde ich mit ziemlicher Sicherheit darauf tippen, dass dies die Mordwaffe ist.« Er zeigte auf ein weißes Kissen neben Brittas Kopf. »Allerdings zeigen die Petechien, dass auch Druck direkt auf den Hals ausgeübt worden sein muss, als wäre sie gleichzeitig mit der Hand gewürgt worden. Aber all diese Fragen wird die Obduktion beantworten. Eins steht jedenfalls fest: Solange mich der Rechtsmediziner nicht vom Gegenteil überzeugt, werde ich nicht auf den Totenschein schreiben, dass es sich um eine natürliche Todesursache handelt. Von nun an ist das hier als Tatort zu betrachten.« Er stand auf und verließ vorsichtig den Raum.

Martin tat es ihm nach und rief die Kriminaltechniker an, die den Raum minuziös untersuchen würden.

Nachdem er alle nach unten geschickt hatte, ging er wieder in die Küche und setzte sich zu Herman. Margareta sah ihm an, dass etwas nicht stimmte, und es zeichnete sich eine tiefe Furche zwischen ihren Augenbrauen ab.

»Wie heißt Ihr Vater?«

»Herman.« Die Kerbe wurde noch tiefer.

»Herman«, sagte Martin. »Können Sie mir erzählen, was hier passiert ist?«

Zuerst erhielt er keine Antwort. Nur die Sanitäter waren zu hören, die sich im Wohnzimmer leise unterhielten. Dann blickte Herman auf und sagte laut und deutlich: »Ich habe sie umgebracht.«

Der Freitag brachte herrliches Spätsommerwetter. Mellberg ließ Ernst von der Leine und streckte die Beine aus. Der Hund schien den Altweibersommer genauso zu genießen wie er.

»Tja, mein Lieber«, Mellberg blieb stehen und wartete, weil der Hund das Bein an einem Gebüsch gehoben hatte, »heute Abend schwingt Papi wieder die Hufe.«

Ernst sah ihn fragend an und legte den Kopf schief, setzte dann jedoch sein Geschäft fort.

Mellberg ertappte sich selbst dabei, wie er voller Vorfreude auf den abendlichen Kurs und Ritas Körper vor sich hin pfiff. Salsa hatte es ihm wirklich angetan, so viel war klar.

Seine Miene verdüsterte sich, als seine Gedanken von den heißen Rhythmen zu den Ermittlungen wanderten. Es war doch zum Mäusemelken, dass man in diesem Ort nie seine Ruhe hatte. Dass die Leute sich aber auch dauernd den Schädel einschlagen mussten. Der eine Fall war wenigstens leicht zu lösen. Der Ehemann hatte ja bereits gestanden. Nun brauchten sie nur noch den Obduktionsbericht abzuwarten, und die Sache war erledigt. Was Martin Molin da die ganze Zeit vor sich hin faselte, es sei doch etwas merkwürdig, dass jemand ermordet wurde, der eine Verbindung zu Erik Frankel hatte, ließ ihn ziemlich kalt. Menschenskind, soweit er die Sache verstanden hatte, waren sie in ihrer Jugend befreundet gewesen. Vor sechzig Jahren. Das war doch eine Ewigkeit her und hatte mit diesem Mordfall nicht das Geringste zu tun. Der Gedanke war absurd. Er hatte Martin Molin trotzdem gestattet, sich die Sache anzusehen, Einzelverbindungsnachweise zu überprüfen und diese Dinge. Mellberg war ganz sicher, dass Martin keinen Zusammenhang finden würde, aber nun gab er wenigstens Ruhe.

Plötzlich merkte er, dass seine Füße ihn zu Ritas Haus getragen hatten. Ernst stellte sich vor die Tür und wedelte heftig mit dem Schwanz. Mellberg sah auf die Uhr. Elf. Der perfekte Zeitpunkt für eine kleine Kaffeepause. Falls sie da war. Er zögerte einen Moment, doch dann klingelte er. Keine Antwort.

»Hallo?«

Eine Stimme hinter ihm ließ ihn zusammenzucken. Johanna kam mühsam auf ihn zu. Sie schwankte leicht und hielt sich mit der einen Hand das Kreuz.

»Warum ist das bloß so anstrengend, einen beschissenen kleinen Spaziergang zu machen«, ächzte sie frustriert und streckte den Rücken unter gequälten Grimassen. »Ich bekomme die Krise, wenn ich nur zu Hause sitze und warte, aber mein Körper will nicht so wie mein Kopf.« Seufzend strich sie sich über den dicken Bauch.

»Ich nehme an, Sie suchen Rita?« Sie grinste.

»Äh, ja …« Mellberg genierte sich plötzlich. »Wir, also Ernst und ich, haben gerade eine kleine Runde gedreht, und der Hund wollte wahrscheinlich Señorita besuchen und …«

»Rita ist nicht zu Hause.« Johanna amüsierte sich offensichtlich köstlich über seine Verlegenheit. »Sie ist bei einer Freundin, aber wenn Sie sich vorstellen können, trotzdem auf einen Kaffee heraufzukommen, ich meine, falls Ernst Lust hat, mich zu besuchen, obwohl Señorita nicht da ist«, sie zwinkerte ihm zu, »dann dürfen Sie mir gerne Gesellschaft leisten. Mir fällt nämlich langsam die Decke auf den Kopf.«

»Na klar.« Mellberg folgte ihr.

Als sie in der Wohnung waren, ließ Johanna sich auf einen Küchenstuhl fallen.

»Ich mache gleich Kaffee, aber vorher muss ich verschnaufen.«

»Bleiben Sie sitzen«, sagte Mellberg. »Ich habe Rita beim letzten Mal zugesehen, ich schaffe das schon. Sie ruhen sich besser aus.«

Johanna verfolgte verdutzt, aber dankbar, wie er sich im Küchenschrank zurechtfand.

»Das muss ziemlich schwer sein.« Mellberg schielte auf ihren Bauch, während er Wasser in die Kaffeemaschine füllte.

»Schwer ist gar kein Ausdruck. Meiner Meinung nach wird Schwangersein viel zu positiv dargestellt. Zuerst ist einem vier Monate kotzübel, dann kommen vier erträgliche Monate, die hin und wieder sogar gemütlich sind, und dann verwandelt man sich über Nacht in Barbapapa, oder besser gesagt in Barbamama.«

»Tja, und dann …«

»Seien Sie bloß still!« Johanna erhob streng den Zeigefinger. »Daran wage ich überhaupt nicht zu denken. Wenn ich mir überlege, dass es für dieses Kind nur einen Ausgang gibt, gerate ich in Panik. Und wenn Sie jetzt sagen: So schlimm kann es nicht sein, Frauen haben schließlich zu allen Zeiten Kinder geboren und nicht nur überlebt, sondern sich sogar noch mehr Nachwuchs angeschafft, dann muss ich leider handgreiflich werden.«

Mellberg hob abwehrend die Hände. »Sie sprechen mit einem Mann, der nie auch nur in die Nähe eines Kreißsaals gekommen ist …«

Er deckte den Kaffeetisch und setzte sich zu ihr.

»Immerhin muss es schön sein, für zwei zu essen«, grinste er, als sie sich den dritten Keks in den Mund steckte.

»Diesen Vorteil genieße ich in vollen Zügen«, lachte Johanna und streckte die Hand noch einmal nach dem Teller aus. »Sie halten sich offenbar an die gleiche Devise, obwohl Sie sich nicht mit einer Schwangerschaft rechtfertigen können.« Sie zeigte auf Mellbergs Wampe.

»Das kleine Bäuchlein trainiere ich mir beim Salsatanzen in null Komma nix ab.« Er tätschelte zärtlich seine Mitte.

»Ich komme mal zum Zugucken«, sagte Johanna freundlich.

Mellberg fand es ebenso faszinierend wie ungewohnt, dass ganz offensichtlich jemand seine Gesellschaft schätzte, doch dann wurde ihm klar, dass er sich in Gegenwart von Ritas Schwiegertochter erstaunlicherweise ebenfalls wohl fühlte. Nachdem er tief Luft geholt hatte, fasste er sich ein Herz und stellte die Frage, die ihm seit dem Mittagessen, als bei ihm der Groschen fiel, keine Ruhe ließ.

»Wie …? Der Vater …? Wer …?« Er merkte selbst, dass dies kein rhetorischer Höhepunkt in seinem Leben war, doch Johanna begriff trotzdem, was er meinte. Sie sah ihn einige Sekunden lang scharf an und schien zu überlegen, ob sie ihm überhaupt antworten sollte. Am Ende entspannten sich ihre Züge. Sie war offenbar zu dem Schluss gekommen, dass nichts als reine Neugier hinter seiner Frage steckte.

»Eine Klinik. In Dänemark. Den Vater kennen wir nicht. Ich bin also nicht um die Häuser gezogen, falls Sie das meinen.«

»Nein … das hatte ich auch nicht vermutet«, stammelte Mellberg, musste sich jedoch eingestehen, dass ihm diese Idee durchaus durch den Kopf gegangen war.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Nun musste er aber zurück in die Dienststelle. Es war bald Mittagspause, und die konnte er sich nicht entgehen lassen. Er stand auf, trug die Tassen ins Spülbecken und zögerte einen Moment. Schließlich zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche, nahm eine Visitenkarte heraus und reichte sie Johanna.

»Sollten Sie … Schwierigkeiten bekommen … falls irgendetwas passiert … Ich nehme zwar an, dass Paula und Rita in ständiger Bereitschaft sind, aber …«

Verdutzt nahm Johanna das Kärtchen entgegen, und Mellberg eilte in den Flur. Er wusste selbst nicht, wie er auf diesen Gedanken gekommen war. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass er in seiner Handfläche noch immer die Tritte spürte.

»Komm her, Ernst«, rief er barsch und trieb den Hund aus der Wohnung. Dann schloss er die Tür, ohne sich zu verabschieden.

Martin starrte die Verbindungsnachweise an. Sie bewiesen zwar nicht, dass das, was sein Bauch ihm gesagt hatte, stimmte, aber auch nicht das Gegenteil. Kurz bevor Erik Frankel ermordet worden war, hatte jemand von Brittas und Hermans Telefon aus den gemeinsamen Anschluss von Axel und Erik angerufen. Zwei Anrufe waren registriert worden, und vor wenigen Tagen mussten entweder Britta oder Herman noch einmal bei Axel angerufen haben. Es war auch ein Anruf bei Frans Ringholm registriert worden.

Martin blickte ruhig aus dem Fenster, schob seinen Stuhl nach hinten und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er hatte den Vormittag damit verbracht, alle Unterlagen, Fotos und das restliche Material durchzugehen, das sie im Laufe der Ermittlungen im Mordfall Erik Frankel gesammelt hatten. Bevor er nicht eine mögliche Verbindung zwischen den beiden Morden gefunden hatte, wollte er nicht aufgeben. Dazu war er fest entschlossen. Doch bis jetzt hatte er nichts entdeckt. Abgesehen von den Telefonaten.

Frustriert warf er die Liste auf den Tisch. Er hatte das Gefühl, sich in eine Sackgasse manövriert zu haben, und wusste, dass Mellberg ihm nur erlaubt hatte, die Umstände von Brittas Tod etwas näher zu untersuchen, damit er den Mund hielt. Genau wie alle anderen war er offenbar überzeugt davon, dass der Ehemann der Schuldige war. Herman hatten sie jedoch noch nicht verhören können. Er lag im Krankenhaus und befand sich laut den Ärzten in einem schweren Schockzustand. Sie mussten also brav warten, bis die Mediziner der Meinung waren, dass er eine Vernehmung verkraften würde.

Das Ganze war ein verfluchtes Chaos, und er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Er fixierte den Ermittlungsordner, als wollte er ihn beschwören, etwas von sich zu geben, als ihm plötzlich eine Idee kam. Natürlich! Dass er nicht früher darauf gekommen war.

Fünfundzwanzig Minuten später bog er in die Einfahrt von Erica und Patrik ein. Er hatte Patrik aus dem Auto angerufen, um sicherzugehen, dass er auch zu Hause war. Nun öffnete er beim ersten Klingeln. Maja, die er auf dem Arm hatte, winkte mit beiden Händen, als sie den Besuch erkannte.

»Hallo, Kleine.« Martin wackelte mit den Fingern. Sie streckte die Arme nach ihm aus und wollte ihn gar nicht mehr loslassen, und so saß er eine Weile später mit Maja auf dem Schoß im Wohnzimmer. Patrik hatte es sich auf dem Sessel gegenüber vom Sofa bequem gemacht, beugte sich über die vielen Papiere und Fotos und rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Wo ist Erica?« Martin sah sich um.

»Äh, was?« Patrik blickte verwirrt auf. »Sie ist für ein paar Stunden in die Bibliothek gefahren. Ein bisschen Recherche für ihr neues Buch.«

»Aha.« Martin konzentrierte sich wieder darauf, Maja zu unterhalten, während Patrik in Ruhe alles durchlas.

»Du glaubst also, dass Erica recht hat?« Er blickte auf. »Meinst du auch, dass es zwischen den Morden an Erik Frankel und Britta Johansson eine Verbindung geben könnte?«

Martin überlegte einige Augenblicke, dann nickte er. »Ja, das glaube ich. Noch habe ich keine konkreten Belege dafür, aber wenn du mich nach meiner Vermutung fragst, dann bin ich fast sicher, dass es einen Zusammenhang gibt.«

Patrik nickte. »Ansonsten wäre es tatsächlich ein merkwürdiger Zufall.« Er streckte die Beine aus. »Habt ihr Axel Frankel und Frans Ringholm gefragt, worum es bei den Anrufen von Britta und Herman ging?«

»Noch nicht.« Martin schüttelte den Kopf. »Ich wollte mich erst mit dir abstimmen und mich vergewissern, dass ich nicht vollkommen auf dem Holzweg bin. Schließlich haben wir jemanden, der die Tat gestanden hat.«

»Ihren Mann, ja …«, sagte Patrik nachdenklich. »Warum sagt er, dass er sie umgebracht hat, wenn er es gar nicht war?«

»Was weiß ich? Vielleicht um jemanden zu schützen?« Martin zuckte mit den Achseln.

»Hm …« Patrik blätterte weiter in den Unterlagen. »Und die Ermittlungen im Mordfall Erik Frankel? Seid ihr damit weitergekommen?«

»Das kann man eigentlich nicht behaupten«, antwortete Martin kleinlaut und ließ Maja auf seinem Schoß hüpfen. »Paula sieht sich Schwedens Freunde gerade etwas genauer an, wir haben mit den Nachbarn gesprochen, aber es kann sich keiner erinnern, etwas Ungewöhnliches gesehen zu haben. Nun wohnen die Brüder Frankel ja so abgelegen, dass ohnehin wenig Hoffnung bestand, dass jemand etwas aufgefallen sein könnte, und unsere Befürchtungen haben sich leider bestätigt. Alles andere hast du hier.« Er zeigte auf die Papiere, die wie ein Fächer vor Patrik auf dem Tisch ausgebreitet lagen.

»Was ist mit Eriks Finanzen?« Er zog das unterste Blatt heraus. »Nichts Seltsames?«

»Nein, nicht direkt. Vor allem das Übliche. Rechnungen, einzelne kleinere Abhebungen, du weißt schon.«

»Keine größeren Summen, die bewegt wurden?« Patrik studierte sorgfältig die Zahlenreihen.

»Nein, das Einzige, was ein wenig auffällt, ist eine monatliche Zahlung. Die Bank hat gesagt, Erik hat dieses Geld regelmäßig seit fast fünfzig Jahren überwiesen.«

Patrik stutzte und sah Martin an. »Fünfzig Jahre? Wohin hat er das Geld denn überwiesen?«

»Offenbar an eine Privatperson in Göteborg. Der Name müsste auf einem Zettel stehen«, sagte Martin. »Es waren keine großen Summen. Es ist zwar im Laufe der Jahre mehr geworden, aber nun waren es etwa zweitausend Kronen. Es hörte sich nicht an wie ein … Ich meine, es wird sich wohl kaum um Erpressung oder so etwas handeln. Wer bezahlt schon fünfzig Jahre …?«

Martin merkte selbst, wie dünn seine Ausführungen klangen, und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Er hätte diese Überweisung überprüfen müssen. Aber besser spät als nie.

»Ich kann ihn heute anrufen und fragen, was dahintersteckt.« Martin setzte Maja auf sein anderes Bein, weil das, auf dem sie bis jetzt herumgeturnt war, allmählich taub wurde.

Patrik schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Weißt du was? Ich brauche sowieso ein bisschen Bewegung.« Er klappte den Ordner auf und nahm sich den Zettel. »Der Mann, dem das Geld überwiesen wurde, heißt Wilhelm Fridén. Ich kann morgen hinfahren und persönlich mit ihm sprechen. Die Adresse steht ja hier.« Er wedelte mit dem Zettel. »Die ist doch aktuell?«

»Das müsste sie sein, ich habe sie nämlich von der Bank bekommen«, sagte Martin.

»Gut, dann fahre ich da morgen hin. Es könnte sich um eine heikle Angelegenheit handeln, die man besser nicht am Telefon bespricht.«

»Okay, wenn du willst und kannst, bin ich dir dankbar«, sagte Martin. »Aber was machst du mit …?« Er zeigte auf Maja.

»Das Mädchen kommt mit.« Patrik strahlte seine Tochter an. »Wir nutzen die Gelegenheit und besuchen Tante Lotta und ihre Kinder. Das wird ein Spaß!«

Maja gurgelte zustimmend und klatschte in die Hände.

»Dürfte ich den ein paar Tage behalten?« Patrik zeigte auf den Ordner. Martin überlegte. Wahrscheinlich war es kein Problem, denn er hatte von fast allen Dokumenten Fotokopien.

»Klar. Und sag Bescheid, wenn du noch etwas entdeckst, das wir uns näher ansehen sollten. Wenn du diese Sachen in Göteborg überprüfst, fragen wir Frans und Axel, was Britta und Herman von ihnen wollten.«

»Aber frag Axel erst nach dem Geld, wenn ich mehr weiß.«

»Okay.«

»Du darfst nicht den Mut verlieren«, tröstete er Martin, während er und Maja ihn zur Tür begleiteten. »Du weißt doch, wie das ist. Früher oder später findet sich das Puzzleteil, das einem für die Auflösung gefehlt hat.«

»Ich weiß«, seufzte Martin, klang aber nicht richtig überzeugt. »Es ist nur so ein ungünstiges Timing, dass du ausgerechnet jetzt nicht da bist. Wir könnten dich gut gebrauchen.« Er lachte, damit es nicht so dramatisch klang.

»Glaub mir, du schaffst das schon. Und wenn du dann in Windelbergen versinkst, gebe ich in der Dienststelle wieder Vollgas.« Augenzwinkernd machte Patrik die Tür hinter Martin zu.

»Stell dir vor, wir zwei fahren morgen nach Göteborg«, trällerte er und machte mit Maja auf dem Arm ein paar Tanzschritte. »Wir müssen es nur noch Mama verkaufen.«

Maja nickte.

Paula war unheimlich müde. Und angewidert. Sie hatte stundenlang im Internet gesurft, um etwas über hiesige rechtsradikale Organisationen und vor allem über Schwedens Freunde herauszufinden. Es schien immer noch am wahrscheinlichsten, dass sie hinter dem Mord an Erik Frankel steckten, aber leider gab es keine konkreten Anhaltspunkte. Drohbriefe hatte sie nicht gefunden. Nur die Andeutungen in den Briefen von Frans Ringholm, der schrieb, dass Schwedens Freunde Eriks Aktivitäten nicht gern sähen und dass er ihn nicht mehr vor diesen Kräften schützen könne. Es gab auch keine Indizien, die einen von ihnen mit dem Tatort in Verbindung brachten. Alle Vorstandsmitglieder hatten freiwillig – und hämisch – ihre Fingerabdrücke abgegeben, die Kollegen aus Uddevalla waren dabei freundlicherweise behilflich gewesen, aber das kriminaltechnische Labor SKL hatte festgestellt, dass keiner der Fingerabdrücke mit denen in der Bibliothek von Erik und Axel übereinstimmte. Die Überprüfung ihrer Alibis hatte genauso wenig gebracht. Es hatte zwar keiner ein lückenloses Alibi, aber die meisten konnten zumindest eins vorweisen, das ausreichte, solange es keine weiteren konkreten Beweise gab. Mehrere von ihnen hatten bezeugt, dass Frans sie an den fraglichen Tagen auf einer Reise zu einer dänischen Schwesterorganisation begleitet hatte. Leider hatten Schwedens Freunde so viele Mitglieder – viel mehr, als Paula gedacht hätte –, dass sie nicht alle Fingerabdrücke und Alibis überprüfen konnten, sondern sich auf den Vorstand beschränken mussten. Doch bis jetzt war das Ergebnis gleich null.

Missmutig klickte sie weiter. Woher kamen all diese Menschen? Woher dieser ganze Hass? Sie verstand Hass, der sich gegen bestimmte Personen richtete, gegen Menschen, die einem Unrecht getan hatten. Aber einfach alle Menschen zu hassen, die aus einem anderen Land kamen oder eine andere Hautfarbe hatten als man selbst? Nein, das konnte sie nicht nachvollziehen.

Sie selbst hasste die Henker ihres Vaters so sehr, dass sie sie mit Sicherheit hätte umbringen können, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Und wenn sie noch lebten. Weiter ging ihr Hass nicht, obwohl er sich hätte ausbreiten können. Das hatte sie jedoch zu verhindern gewusst und hasste nur die Männer, die ihre Gewehre auf ihren Vater gerichtet und abgedrückt hatten. Hätte sie ihren Hass nicht eingegrenzt, hätte sie am Ende ihr ganzes Land gehasst, und wie sollte sie das tun? Wie hätte sie mit dem Hass auf das Land leben sollen, in dem sie geboren war, wo sie laufen gelernt, mit Freunden gespielt, auf dem Schoß ihrer Großmutter gesessen, die Lieder gehört, die abends gesungen wurden, und auf fröhlichen Festen getanzt hatte. Wie hätte sie all das hassen können?

Aber diese Leute hier … Sie las einen Absatz nach dem anderen über Menschen, die man ausrotten oder wenigstens zurück in ihre Heimatländer schicken sollte. Es gab auch Bilder. Natürlich einige aus Nazideutschland. Diese Schwarzweißfotos hatte sie schon so oft gesehen, die Haufen aus nackten, ausgemergelten Leibern, die man einfach weggeworfen hatte, nachdem sie in den Konzentrationslagern gestorben waren. Auschwitz, Buchenwald, Dachau … diese Namen waren so erschreckend bekannt und für immer mit dem Bösen verbunden. Doch hier wurden sie gefeiert und gepriesen. Oder geleugnet. Diesen Flügel gab es schließlich auch. Peter Lindgren gehörte dazu. Er behauptete, das alles wäre nie passiert, es wären während des Zweiten Weltkriegs nicht sechs Millionen Juden getötet, vertrieben, gequält, gefoltert und in den Konzentrationslagern vergast worden. Wie konnte man so etwas abstreiten, wo es doch noch so viele Spuren und so viele Zeugen gab? Was ging bloß in den Köpfen dieser Leute vor sich?

Sie zuckte zusammen, als an die Tür geklopft wurde.

»Na, was machst du da?« Martin steckte den Kopf herein.

»Ich suche ein paar Hintergrundinformationen über Schwedens Freunde heraus«, seufzte sie. »Aber es wird einem angst und bange, wenn man sich mit dem Mist beschäftigt. Wusstest du, dass es in Schweden ungefähr zwanzig rechtsradikale Organisationen gibt und dass die Schwedendemokraten in 144 Kommunen insgesamt 281 Mandate haben? In welche Richtung entwickelt sich eigentlich dieses Land?«

»Das frage ich mich allmählich auch«, erwiderte Martin.

»Es ist wirklich zum Kotzen.« Wütend schleuderte Paula ihren Kugelschreiber weg, der über den Schreibtisch kullerte und auf den Boden fiel.

»Hört sich an, als bräuchtest du eine kleine Pause«, lächelte Martin. »Wir sollten uns noch einmal mit Axel unterhalten.«

»Über etwas Bestimmtes?«, fragte Paula neugierig. Sie stand auf und folgte ihm in die Garage.

»Ich dachte, es könnte hilfreich sein, sich noch einmal mit ihm abzustimmen, er stand Erik schließlich am nächsten und kannte ihn am besten. Vor allem wollte ich eine Sache überprüfen«, er zögerte, »ich weiß, dass ich der Einzige bin, der das Gefühl hat, dass es da eine Verbindung zum Mord an Britta Johansson gibt, doch irgendjemand hat erst kürzlich von ihrem Haus aus bei Axel angerufen. Schon im Juni wurden Frankels von ihnen angerufen, aber da können wir ja nicht wissen, ob sie Erik oder Axel sprechen wollten. Ich habe diese Angaben gerade mit den Nummern verglichen, die von Frankels Telefonanschluss aus gewählt wurden. Im Juni wurde von ihrem Haus aus zweimal bei Britta und Herman angerufen. Noch vor deren Anruf bei Axel und Erik.«

»Wir sollten der Sache unbedingt nachgehen.« Paula schnallte sich an. »Mir ist es egal, wie abwegig die Ausrede ist, Hauptsache, ich kann mich von den Nazis erholen.«

Martin nickte und fuhr aus der Garage. Er konnte Paula voll und ganz verstehen. Und irgendetwas sagte ihm, dass seine Idee gar nicht so abwegig war.

Sie war die ganze Woche so schockiert, dass sie die Information erst am Freitag wirklich verarbeiten konnte. Dan hatte es viel lockerer aufgenommen. Seit sich der erste Schreck gelegt hatte, summte er ständig vor sich hin. All ihre Einwände wischte er fröhlich vom Tisch: »Das wird super! Ein Baby zusammen, das ist doch der Hammer!«

Anna konnte den Hammer noch nicht richtig fassen. Manchmal strich sie sich über den Bauch und versuchte, sich den winzigen Klumpen dort drinnen vorzustellen. Noch war es ein kaum zu erkennender Embryo, doch schon in wenigen Monaten würde es ein kleines Kind sein. Obwohl sie es schon zweimal erlebt hatte, erschien es ihr völlig unbegreiflich. Diesmal vielleicht sogar noch mehr, denn an die Schwangerschaften mit Emma und Adrian konnte sie sich kaum erinnern. Sie waren in einem Nebel verschwunden, in dem die Angst vor den Schlägen jede wache und nicht wache Minute dominierte. Damals konzentrierte sie sich nur darauf, ihren Bauch und das Leben darin vor Lucas zu schützen.

Diesmal brauchte sie das nicht zu tun. Absurderweise machte ihr das Angst. Diesmal konnte sie sich freuen. Musste sie sich freuen. Jedenfalls sollte sie es tun. Schließlich liebte sie Dan. Fühlte sich geborgen bei ihm. Wusste, dass er niemandem etwas zuleide tun würde. Was ängstigte sie so? Das war die Frage, die sie sich in den letzten Tagen unaufhörlich stellte.

»Was glaubst du? Junge oder Mädchen? Hast du schon eine Ahnung?« Dan schlich sich von hinten an, legte die Arme um sie und streichelte ihren noch flachen Bauch.

Lachend rührte Anna weiter im Topf.

»Mensch, ich bin ungefähr in der siebten Woche. Es ist noch ein bisschen zu früh für diese Frage. Wieso willst du das überhaupt wissen?« Anna drehte sich mit besorgtem Gesichtsausdruck um. »Mach dir bitte keine großen Hoffnungen, dass es diesmal ein Sohn wird, du weißt ja, dass das Geschlecht vom Vater abhängt, und da du bereits drei Töchter hast, ist es statistisch gesehen am wahrscheinlichsten …«

»Pst.« Dan legte lachend den Zeigefinger auf Annas Lippen. »Ich freue mich, ganz egal, was es wird. Wenn es ein Junge wird, super, wenn es ein Mädchen wird, der Knüller. Und außerdem«, er wurde ernst, »habe ich das Gefühl, dass ich bereits einen Sohn habe. Adrian. Ich hoffe, du weißt das. Jedenfalls dachte ich, du wüsstest es. Als ich euch bat, bei mir einzuziehen, habe ich nicht nur das Haus gemeint, sondern auch das hier.« Er legte die Hand aufs Herz. Anna musste schwer schlucken, doch eine kleine Träne lief ihr trotzdem über die Wange. Ärgerlicherweise fing ihre Unterlippe an zu zittern. Dan wischte die Träne ab, nahm ihr Gesicht in seine Hände, sah ihr fest in die Augen und zwang sie, seinem Blick standzuhalten.

»Wenn es ein kleines Mädchen wird, dann werden Adrian und ich uns gegen euch Bräute verbünden. Aber du darfst nie daran zweifeln, dass ich dich, Emma und Adrian als Einheit betrachte. Und ich liebe euch alle drei. Und dich da drinnen liebe ich auch, hörst du«, rief er in Richtung Bauch.

Anna lachte. »Ich glaube, die Ohren entwickeln sich erst um die zwanzigste Woche.«

»Meine Kinder entwickeln sich sehr, sehr früh!« Dan zwinkerte.

»Das kann man wohl sagen«, seufzte Anna, aber dann musste sie trotzdem lachen.

Sie küssten sich eine Weile, zuckten jedoch zusammen, als die Haustür aufgerissen und wieder zugeknallt wurde.

»Hallo? Wer ist da?«, rief Dan und ging in den Flur.

»Ich«, ertönte eine mürrische Stimme. Belinda sah die beiden verstohlen an.

»Wie bist du hierhergekommen?«, fragte Dan wütend.

»Was glaubst du wohl? Genauso wie ich von hier weggekommen bin. Das ist doch logisch.«

»Sprich höflich mit mir oder gar nicht«, sagte Dan verbissen.

»Äh … dann entscheide ich mich für …« Belinda legte den Zeigefinger an die Wange und tat, als würde sie nachdenken. »Ich hab’s: DANN LIEBER GAR NICHT!« Sie stürmte die Treppe hinauf in ihr Zimmer, warf mit einem dröhnenden Knall die Tür zu und drehte die Stereoanlage so laut auf, dass der Boden unter ihren Füßen vibrierte.

Dan ließ sich auf die unterste Treppenstufe sinken, zog Anna an sich und sagte zu dem Bauch, der sich genau auf Augenhöhe befand: »Ich hoffe, du hast dir die Ohren zugehalten. Denn wenn du erst in diese Phase kommst, wird dein Papa zu alt für diesen Umgangston sein.«

Anna strich ihm mitfühlend über den Kopf. Über ihnen wummerte die Musik.