Fjällbacka 1944

Ich habe mir doch gedacht, dass du hier bist.« Elsy ließ sich neben Erik nieder, der in einer windgeschützten Felsspalte saß.

»Hier habe ich eben am ehesten meine Ruhe«, erwiderte Erik mürrisch, doch dann wurden seine Züge weicher, und er legte das Buch in den Schoß.

»Entschuldige bitte, ich wollte meine schlechte Laune nicht an dir auslassen.«

»Ist Axel der Grund?«, fragte Elsy mit sanfter Stimme. »Wie ist denn die Stimmung bei euch zu Hause?«

»Als ob er schon tot wäre.« Erik blickte auf das Wasser, das sich vor der Hafeneinfahrt von Fjällbacka unruhig bewegte. »Zumindest führt sich Mutter so auf. Vater brummt nur und weigert sich, darüber zu reden.«

»Und wie fühlst du dich?« Elsy betrachtete den Freund prüfend. Sie kannte Erik gut. Viel besser, als er wusste. So viele Stunden hatten sie, Erik, Frans und Britta zusammen gespielt. Nun gab es nicht mehr viele Spiele, denn bald waren sie erwachsen. In diesem Augenblick konnte sie jedoch keinen Unterschied zwischen dem vierzehnjährigen und dem fünfjährigen Erik erkennen, der schon in kurzen Hosen ein alter Mann in einem jungen Körper gewesen war. Erik schien als ein kleiner Onkel geboren zu sein, der erst nach und nach in sein wahres Ich hineinwuchs. Als wären das Kleinkind, der Junge und nun der Heranwachsende Übergangsstadien gewesen, die er durchlaufen musste, um endlich in seine Haut zu passen.

»Ich habe keine Ahnung, was ich fühle«, sagte Erik trocken und drehte den Kopf weg. Elsy hatte den feuchten Schimmer in seinem Augenwinkel trotzdem gesehen.

»Doch, das weißt du.« Sie betrachtete ihn von der Seite. »Rede mit mir.«

»Ich fühle mich so … gespalten … Mein eines Ich empfindet große Angst und Trauer über das, was passiert ist und immer noch mit Axel geschieht. Allein der Gedanke, dass er sterben könnte, macht mich …« Er suchte nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht. Elsy verstand trotzdem, was er meinte. Sie schwieg und ließ ihn weitersprechen.

»Aber mein anderes Ich … ist furchtbar wütend.« Die Stimme wurde dunkler und ließ erahnen, wie der erwachsene Erik sich einst anhören würde.

»Ich bin wütend, weil ich noch unsichtbarer geworden bin als zuvor. Es gibt mich nicht. Ich existiere nicht. Solange Axel zu Hause war, konnte er einen Teil des Lichts, das auf ihn fiel, zu mir umleiten. Hin und wieder einen kleinen Strahl. Ein bisschen Glanz, ein wenig Aufmerksamkeit bekam auch ich ab. Und das reichte mir. Mehr habe ich nie verlangt. Axel verdiente es, im Mittelpunkt zu stehen. Er war schon immer besser als ich. Was er getan hat, hätte ich nie gewagt. Ich bin nicht mutig. Ich ziehe nicht die Blicke auf mich. Und ich habe nicht Axels Begabung, dafür zu sorgen, dass es den Menschen um mich herum gutgeht. Ich glaube nämlich, das war … ist … sein Geheimnis. In seiner Gegenwart geht es allen gut. Dieses Talent besitze ich nicht. Ich mache die Leute nervös. Sie wissen nicht recht, was sie mit mir anfangen sollen. Ich weiß zu viel. Ich lache zu wenig. Ich …« Er musste Atem holen. Dies war bestimmt die längste zusammenhängende Rede, die er je gehalten hatte.

Elsy konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Pass auf, dass du nicht all deine Worte verbrauchst. Du solltest sparsamer mit ihnen umgehen.« Sie lächelte, aber Erik presste die Kiefer zusammen.

»Genau das meine ich. Weißt du was? Ich glaube, ich könnte losgehen und immer weitergehen und nicht zurückkehren, ohne dass sie es zu Hause merken würden. Für Mutter und Vater bin ich nur ein Schatten am Rande ihres Gesichtsfeldes, und in gewisser Weise wäre es beinahe eine Erleichterung für sie, wenn ich verschwände, denn dann könnten sie sich voll und ganz auf Axel konzentrieren.« Seine Stimme versagte, und er blickte beschämt zur Seite.

Elsy legte ihm den Arm um die Schultern und schmiegte sich an ihn. Sie zwang ihn, von dem dunklen Ort zurückzukommen, an dem er sich befand.

»Ich verspreche dir, dass sie es merken würden, wenn du nicht mehr da wärst. Sie sind nur so damit beschäftigt … das zu verkraften, was Axel zugestoßen ist.«

»Es sind vier Monate vergangen, seit die Deutschen ihn geschnappt haben«, sagte Erik dumpf. »Wie lange werden sie damit noch beschäftigt sein? Sechs Monate? Ein Jahr? Zwei Jahre? Ihr ganzes Leben? Ich bin doch jetzt hier. Mich gibt es noch. Ist das denn gar nichts wert? Andererseits komme ich mir wie ein schlechter Mensch vor, weil ich eifersüchtig auf einen Bruder bin, den wir vielleicht nie wiedersehen, weil er vermutlich im Gefängnis sitzt und hingerichtet wird. Ich bin wirklich ein wunderbarer Bruder.«

»Niemand bezweifelt, dass du Axel liebst.« Elsy strich ihm über das Hemd. »Aber es ist doch kein Wunder, dass du auch wahrgenommen werden möchtest. Du willst ihnen auch etwas bedeuten. Und ich weiß, dass du es tust … aber du musst ihnen sagen, was du empfindest, damit sie dich sehen.«

»Ich traue mich nicht.« Erik schüttelte heftig den Kopf. »Stell dir vor, sie würden mich für einen schrecklichen Menschen halten.«

Elsy nahm seinen Kopf in die Hände und zwang ihn, sie anzusehen. »Jetzt hör mir zu, Erik Frankel. Du bist kein schrecklicher Mensch. Du liebst deinen Bruder und deine Eltern, aber du trauerst auch, und das musst du ihnen erklären. Du musst von ihnen verlangen, dass sie dir ein wenig Raum dafür geben. Verstanden?«

Er wollte sich abwenden, aber sie hielt ihn noch immer fest und sah ihm in die Augen.

Schließlich nickte er. »Du hast recht. Ich werde mit ihnen reden …«

Instinktiv legte Elsy die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Sie spürte, wie er sich entspannte, als sie seinen Rücken streichelte.

»Was ist hier los?« Eine Stimme hinter ihnen ließ sie erschrocken voneinander abrücken. Elsy drehte sich um und erblickte Frans, der sie mit bleichem Gesicht und geballten Fäusten anstarrte und die Frage wiederholte. Offenbar hatte er Schwierigkeiten, andere Worte zu finden. Elsy begriff, wie es für ihn ausgesehen haben musste, und wollte ihm schnell erklären, was sich abgespielt hatte, bevor seine Sicherungen durchbrannten. Sie hatte schon oft erlebt, dass sein Zorn schneller aufflammte als ein Streichholz. Irgendetwas in ihm sorgte dafür, dass er jederzeit wütend werden konnte, als warte er nur auf einen geeigneten Anlass. Sie hatte auch gemerkt, dass er eine Schwäche für sie hatte. Schließlich war sie nicht dumm. Wenn sie es nicht schaffte, ihm die Situation begreiflich zu machen, konnte das Ganze mit einer Katastrophe enden …

»Erik und ich haben uns nur ein bisschen unterhalten.« Sie sprach ruhig und vorsichtig.

»Das habe ich gesehen.« In Frans’ Augen blitzte etwas auf, das Elsy erschauern ließ.

»Wir haben über Axel geredet. Es ist so bedrückend, dass er dort ist, wo er ist.« Sie hielt seinem Blick stand. Das Wilde und Kalte ließ ein wenig nach. Sie sprach weiter.

»Ich habe Erik getröstet. Das war alles. Komm zu uns.«

Sie klopfte auf den Felsen neben sich. Er zögerte, doch seine Hände entspannten sich und die Kälte fiel von ihm ab. Er seufzte tief und setzte sich neben sie.

»Entschuldigung …«, sagte er, ohne sie anzusehen.

»Nicht so wild«, erwiderte sie, »aber du solltest keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

Frans schwieg eine Weile. Dann sah er sie an. Die Intensität der Gefühle, die sie in seinen Augen sah, machte ihr plötzlich mehr Angst als der kalte Zorn vorhin. Eine Ahnung durchzuckte sie. Das konnte nicht gut enden.

Sie dachte auch an Britta und die verliebten Blicke, die sie ihm andauernd zuwarf.

Elsy wiederholte es innerlich. Das konnte nicht gut enden.

Sie macht einen sehr netten Eindruck.« Lächelnd schob Karin den Kinderwagen mit Ludde darin vor sich her.

»Erica ist super.« Patriks Mundwinkel bewegten sich automatisch nach oben. In der letzten Zeit hatte es einige Reibereien gegeben, aber das waren Kleinigkeiten. Er war unheimlich glücklich, dass er jeden Morgen neben Erica aufwachen durfte.

»Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von Leif behaupten«, sagte Karin. »Aber ich habe das Leben als Tanzkapellengattin wirklich langsam satt. Allerdings wusste ich, worauf ich mich einließ. Ich nehme also an, dass ich mich nicht beklagen darf.«

»Wenn man Kinder bekommt, wird alles anders.« Patriks Feststellung klang wie eine Frage.

»Ach, wirklich?«, gab Karin ironisch zurück. »Ich bin wohl naiv, aber ich hatte keine Ahnung, wie viel Arbeit das ist und was alles von einem verlangt wird, wenn man ein kleines Kind hat, und … ja … es ist nicht leicht, die Verantwortung allein zu tragen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich alle groben Arbeiten mache, ich schlage mir die Nächte um die Ohren, wechsle Windeln, spiele mit Ludde, füttere ihn und gehe mit ihm zum Arzt, wenn er krank ist. Aber wenn Leif anrauscht, wird er empfangen wie der Weihnachtsmann persönlich. Das ist so ungerecht.«

»Und zu wem rennt Ludde, wenn er sich weh getan hat?«

Karin lächelte. »Du hast recht, dann will er zu mir. Es bedeutet ihm also schon etwas, dass ich ihn all die Nächte herumgetragen habe. Aber irgendwie … fühle ich mich manchmal so betrogen. So hatte ich mir das jedenfalls nicht vorgestellt.« Seufzend zog sie Luddes Mütze wieder über beide Ohren.

»Für mich war alles viel schöner, als ich es mir jemals vorgestellt hätte.« Als er Karins bohrenden Blick sah, begriff Patrik, dass er etwas Dummes gesagt hatte.

»Sieht Erica das genauso?«, fragte sie scharf, und nun wusste er, worauf sie hinauswollte.

»Nein, das tut sie nicht. Jedenfalls bis jetzt nicht.« Patriks Magen krampfte sich zusammen, als er daran dachte, wie blass und freudlos Erica in Majas ersten Monaten ausgesehen hatte.

»Könnte das daran liegen, dass sie aus ihrem Erwachsenenleben herausgerissen wurde und mit Maja zu Hause bleiben musste, während du jeden Tag zur Arbeit gehen durftest?«

»Ich habe doch geholfen, so gut ich konnte«, protestierte Patrik.

»Geholfen vielleicht.« Als sie die schmale Straße erreichten, die nach Badholmen führte, überholte Karin ihn. »Es macht einen riesigen Unterschied, ob man nur mithilft oder ob man für alles verantwortlich ist. Es ist nicht leicht herauszufinden, wie man einen schreienden Säugling beruhigt, wann und was er essen sollte und wie man sich und das Kind mindestens fünf Tage in der Woche beschäftigt – und zwar meistens ohne die Gesellschaft anderer Erwachsener. Es liegen Welten zwischen dem Geschäftsführer im Unternehmen Baby und dem Handlanger, der daneben steht und die Befehle abwartet.«

»Du kannst den Vätern aber nicht die alleinige Schuld geben«, schnaufte Patrik, während er den Kinderwagen den steilen Hügel hinaufschob. »Ich habe oft den Eindruck, dass die Mütter nicht die Kontrolle an die Väter abgeben wollen. Man wickelt das Kind falsch, man hält das Fläschchen nicht richtig und so weiter. Es ist also gar nicht so einfach für die Väter, sich an der Rolle des Geschäftsführers zu beteiligen, von der du sprichst.«

Karin schwieg eine Weile. Dann sah sie Patrik an. »Findest du, dass Erica sich so verhalten hat, als sie mit Maja zu Hause war? Hat sie dich nicht machen lassen?« Sie wartete ruhig seine Antwort ab.

Nach gründlichem Nachdenken musste Patrik zugeben: »Doch, das hat sie. Es war eher so, dass ich froh war, nicht die Hauptverantwortung zu tragen. Wenn Maja traurig war und ich sie trösten wollte, war es schön zu wissen, dass ich sie jederzeit an Erica hätte übergeben können, wenn ich es nicht hinbekommen hätte. Und natürlich war es angenehm, morgens zur Arbeit zu gehen. Abends habe ich mich immer auf Maja gefreut.«

»Weil du dir deine Dosis Erwachsenenwelt abgeholt hattest«, erwiderte Karin. »Wie läuft es denn jetzt? Nun trägst du doch die meiste Verantwortung. Funktioniert das?«

Patrik überlegte und schüttelte den Kopf. »Bis jetzt habe ich mich im Erziehungsurlaub nicht mit Ruhm bekleckert, wenn man das so sagen darf. Aber es ist auch nicht leicht. Erica arbeitet ja zu Hause, und sie weiß, wo die Sachen sind und …«

»Das kenne ich. Jedes Mal, wenn Leif nach Hause kommt, schreit er: Karin! Wo sind die Windeln? Manchmal frage ich mich, wie ihr eigentlich an euren Arbeitsplätzen zurechtkommt, wenn ihr euch zu Hause nicht einmal merken könnt, wo die einfachsten Dinge liegen.«

»Jetzt hör aber auf.« Patrik knuffte Karin in die Seite. »So schlimm sind wir nun auch wieder nicht. Schenk uns wenigstens ein bisschen Nachsicht. Noch in der Generation vor uns haben die Männer ihre Kinder kaum gewickelt, und ich finde, wir sind schon ziemlich weit gekommen. Das lässt sich nicht alles in null Komma nix umstellen. Unsere Väter waren schließlich unsere Vorbilder, sie haben uns geprägt. Es braucht Zeit, die Dinge zu verändern, aber wir tun unser Bestes.«

»Du vielleicht.« Wieder lag der bittere Unterton in Karins Stimme. »Aber Leif nicht.«

Patrik antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Nachdem sie sich an der Kreuzung in Sälvik beim Segelclub Norderviken getrennt hatten, war er bedrückt und nachdenklich. Lange hatte er Karin für alles, was sie ihm angetan hatte, die Pest an den Hals gewünscht. Doch nun tat sie ihm wahnsinnig leid.

Nach dem Anruf stürzten sie zum Dienstwagen. Mellberg murmelte wie üblich irgendeine Entschuldigung und hastete in sein Zimmer, aber Martin, Paula und Gösta fuhren durch die Affärsgatan zum Oberstufenzentrum von Tanum. Sie waren instruiert worden, sich sofort ins Sekretariat zu begeben, und da es nicht ihr erster Besuch in der Schule war, hatte Martin keine Probleme, den kürzesten Weg dorthin zu finden.

»Was ist passiert?« Er sah sich im Zimmer um, in dem ein mürrischer Jugendlicher auf einem Stuhl saß und vom Rektor und zwei weiteren Männern, vermutlich Lehrern, flankiert wurde.

»Per hat einen unserer Schüler zusammengeschlagen«, sagte der Schulleiter scharf und ließ sich auf dem Schreibtisch nieder. »Gut, dass Sie so schnell kommen konnten.«

»Wie geht es dem Schüler?«

»Es sieht ziemlich schlimm aus. Die Schulschwester ist bei ihm, und der Notarzt ist unterwegs. Ich habe Pers Mutter angerufen, sie muss gleich hier sein.« Er warf dem Jungen einen zornigen Blick zu, woraufhin dieser ein gelangweiltes Gähnen von sich gab.

»Wir müssen dich mitnehmen.« Martin bedeutete Per, dass er sich zu erheben hatte, und wandte sich wieder an den Rektor. »Versuchen Sie, seine Mutter zu erreichen, bevor sie hier eintrifft. Sonst schicken Sie sie bitte gleich zu uns in die Dienststelle. Meine Kollegin Paula Morales wird hierbleiben und die Zeugen verhören.«

Paula nickte.

»Ich fange gleich damit an.« Sie verließ den Raum.

Als Per hinter den Polizisten durch den Flur schlenderte, gab er sich noch immer gleichgültig. Eine größere Anzahl von neugierigen Schülern hatte sich versammelt, und Per reagierte auf die Aufmerksamkeit, indem er ihnen grinsend den Stinkefinger zeigte.

»Idioten«, murmelte er.

Gösta blickte ihn streng an. »Du hältst den Mund, bis wir in der Dienststelle sind.«

Per fügte sich achselzuckend. Auf dem Rest des kurzen Weges zu dem flachen Polizeigebäude, in dem sich auch die Feuerwehr befand, starrte er schweigend aus dem Fenster.

Als sie ankamen, setzten sie ihn allein in ein Zimmer und warteten das Eintreffen seiner Mutter ab. Plötzlich klingelte Martins Telefon. Er hörte sich interessiert an, was der Anrufer zu sagen hatte, und wandte sich mit nachdenklichem Gesichtsausdruck an Gösta.

»Das war Paula. Weißt du, wer das Opfer ist?«

»Jemand, den wir kennen?«

»Allerdings. Mattias Larsson, der die Leiche von Erik Frankel gefunden hat. Er befindet sich auf dem Weg ins Krankenhaus. Ihn können wir also erst später vernehmen.«

Gösta nahm die Nachricht kommentarlos auf, doch Martin sah, dass er ganz blass wurde.

Zehn Minuten später kam Carina angehetzt und erkundigte sich am Empfangstresen atemlos nach ihrem Sohn. Ruhig wies Annika ihr den Weg zu Martins Zimmer.

»Wo ist Per? Was ist passiert?« Sie sprach mit einem Kloß im Hals und war spürbar aufgelöst. Martin gab ihr die Hand und stellte sich vor. Formalitäten und feste Rituale besänftigten oft die Gemüter. So auch in diesem Fall. Carina wiederholte ihre Frage in einem gedämpfteren Tonfall und setzte sich dann auf den Stuhl, den Martin ihr hinschob. Als er sich hinter dem Schreibtisch niederließ und einen nur allzu bekannten Geruch wahrnahm, verzog er angewidert das Gesicht. Eine Fahne. Dieser Duft war einzigartig und leicht wiederzuerkennen. Vielleicht war sie gestern Abend auf einer Party gewesen, doch das glaubte er nicht. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Aufgelöstes und leicht Verquollenes, ein typisches Merkmal von Alkoholikern.

»Per ist wegen Körperverletzung festgenommen worden. Laut dem Bericht der Schule hat er auf dem Schulhof einen Klassenkameraden verprügelt.«

»O mein Gott.« Sie klammerte sich an die Armlehnen. »Wie …? Und der andere …« Sie konnte den Satz nicht beenden.

»Er wird ins Krankenhaus gebracht. Offenbar hat Per ihm ziemlich zugesetzt.«

»Aber warum?« Sie schluckte und schüttelte den Kopf.

»Das möchten wir auch wissen. Wir haben Per in ein Verhörzimmer gesetzt und würden ihm mit Ihrer Erlaubnis gerne ein paar Fragen stellen.«

Carina nickte. »Selbstverständlich.«

»Nun, dann werden wir uns mal mit Per unterhalten.« Martin verließ den Raum vor Carina. Im Flur blieb er stehen und klopfte an Göstas Tür. »Komm mit. Wir reden jetzt mit dem Jungen.«

Carina und Gösta gaben sich höflich die Hand, und dann begaben sich die drei in das Zimmer, wo Per saß und versuchte, einen völlig erschöpften Eindruck zu machen. Als seine Mutter eintrat, ließ er jedoch für einen Moment die Maske fallen. Es war nur ein Zucken im Augenwinkel. Ein Zittern der Hände. Danach zwang er sich wieder zu dem gleichgültigen Gesichtsausdruck und drehte sich zur Wand.

»Was hast du denn nur angestellt, Per?«, fragte Carina mit schriller Stimme, setzte sich neben ihren Sohn und wollte ihn umarmen, doch er schüttelte sie ab und gab keine Antwort.

Martin und Gösta ließen sich gegenüber von Per und Carina nieder, und Martin stellte ein Tonbandgerät auf den Tisch. Aus Gewohnheit legte er auch einen Block und einen Stift daneben. Hastig sprach er Datum und Uhrzeit auf das Band und räusperte sich.

»So. Würdest du uns bitte erzählen, was passiert ist? Mattias wird übrigens gerade von einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Falls es dich interessiert.«

Per grinste nur. Seine Mutter stieß ihm den Ellbogen in die Seite.

»Du musst jetzt antworten. Natürlich interessiert es dich! Oder nicht?« Wieder überschlug sich ihre Stimme, und der Sohn weigerte sich noch immer, sie anzusehen.

»Lassen Sie Per antworten.« Gösta warf Carina einen beruhigenden Blick zu.

Sie mussten eine Weile warten. Dann warf der Fünfzehnjährige den Kopf in den Nacken.

»Mattias hat ziemlichen Scheiß erzählt.«

»Was meinst du damit?«, fragte Martin freundlich. »Könntest du dich etwas präziser ausdrücken?«

Wieder war es still. »Er wollte sich bei Mia einschleimen, dem hübschesten Mädchen der Schule, Typ Lucia, Sie wissen schon, und ich habe gehört, wie wahnsinnig mutig er und Adam zu dem Haus von diesem Alten gegangen sind und die Leiche angeguckt haben, und dass sich das angeblich sonst niemand getraut hat. Was soll das? Die hatten die Idee doch erst, nachdem ich dort gewesen war. Die haben Bauklötze gestaunt, als ich von seinen coolen Nazisachen erzählt habe. Vorher hätten diese Schwachköpfe sich das nie getraut.«

Per lachte, und Carina blickte beschämt auf die Tischplatte. Es dauerte einige Sekunden, bis Martin begriffen hatte, was der Junge da sagte.

»Meinst du das Haus von Erik Frankel? In Fjällbacka?«

»Ja, der Alte, dessen Leiche Mattias und Adam gefunden haben. Der mit der tollen Nazisammlung.« Pers Augen leuchteten. »Eigentlich wollte ich mit meinen Freunden noch mal hingehen und einiges mitgehen lassen, aber dann kam der Typ, sperrte mich ein und rief meinen Vater an, und dann …«

»Warte mal.« Martin hielt abwehrend die Hände hoch. »Ganz langsam. Willst du damit sagen, dass Erik Frankel dich auf frischer Tat ertappt und eingesperrt hat?«

Per nickte. »Ich dachte, er wäre nicht zu Hause, und bin durchs Kellerfenster hineingeklettert, aber als ich in dem Raum mit den vielen Büchern und dem ganzen Mist war, hat er die Tür abgeschlossen. Dann musste ich ihm Papas Telefonnummer sagen.«

»Wussten Sie davon?« Martin richtete einen scharfen Blick auf Carina.

Sie nickte schwach. »Aber erst seit kurzem. Kjell, mein Exmann, hat es mir erst jetzt erzählt. Vorher hatte ich keine Ahnung. Ich verstehe auch gar nicht, warum du ihm nicht meine Nummer gegeben hast, anstatt deinen Vater mit hineinzuziehen.«

»Du hättest sowieso nichts kapiert.« Zum ersten Mal sah Per seine Mutter an. »Du liegst doch nur herum und säufst. Alles andere ist dir scheißegal. Übrigens stinkst du schon wieder nach Alkohol!« Pers Hände zitterten wieder genau wie in dem Moment, als sie ins Zimmer kam und er kurz die Kontrolle verlor.

Carinas Augen füllten sich mit Tränen. Sie starrte ihren Sohn an und sagte dann leise: »Ist das alles, was du mir zu sagen hast? Nach allem, was ich für dich getan habe? Ich habe dich geboren, dafür gesorgt, dass du etwas zum Anziehen hast, und war immer für dich da, während sich dein Vater einen Dreck um uns geschert hat.« Sie wandte sich an Martin und Gösta. »Eines Tages ist er einfach gegangen. Er hat seine Koffer gepackt und sich aus dem Staub gemacht. Hinterher stellte sich heraus, dass er eine Fünfundzwanzigjährige geschwängert hatte. Er hat mich und Per verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er gründete eine neue Familie und warf uns einfach weg.«

»Das ist zehn Jahre her«, sagte Per müde. Plötzlich wirkte er viel älter als fünfzehn.

»Wie heißt dein Vater?«, fragte Gösta.

»Mein Exmann heißt Kjell Ringholm«, antwortete Carina spitz. »Ich kann Ihnen seine Telefonnummer geben.«

Martin und Gösta sahen sich an.

»Ist das der Kjell Ringholm vom Bohusläningen?«, wollte Gösta wissen. In seinem Kopf passten allmählich alle Puzzleteile zusammen. »Der Sohn von Frans Ringholm?«

»Frans ist mein Großvater«, antwortete Per stolz. »Er ist total cool. Er war sogar schon im Gefängnis, aber nun arbeitet er politisch. Bei der nächsten Kommunalwahl kommen sie rein und können mitregieren, und dann fliegen die ganzen Kanaken hier raus.«

»Per!«, rief Carina entsetzt und wandte sich an die Polizisten. »Er ist in dem Alter, in dem man auf der Suche ist und verschiedene Rollen ausprobiert. Es stimmt, sein Großvater hat keinen guten Einfluss auf ihn. Kjell hat Per verboten, Frans zu sehen.«

»Das könnt ihr gerne versuchen«, brummte Per. »Dieser Mann mit dem Nazikram hat jedenfalls bekommen, was er verdient hat. Ich habe ihr Gespräch belauscht, als mein Vater mich abholen kam. Der Alte wollte ihm Stoff für seine Artikel über Schwedens Freunde geben, vor allem über Frans. Sie haben nicht gemerkt, dass ich zugehört habe, aber sie wollten sich bald wiedersehen. Verräter! Ich kann verstehen, dass Opa sich für Papa schämt«, stieß Per hasserfüllt aus.

Carina gab ihm eine klatschende Ohrfeige. In der Stille danach sahen Mutter und Sohn sich mit einer Mischung aus Überraschung und Verachtung an. Dann wurden Carinas Züge weicher. »Verzeih mir, Liebling. Das war keine Absicht … ich … es tut mir leid.« Sie wollte ihn umarmen, aber er stieß sie schroff von sich.

»Hau ab, du beschissene Säuferin! Du fasst mich nicht an!«

»Jetzt beruhigen wir uns mal.« Gösta erhob sich halb und starrte Carina und Per wütend an. »Ich glaube, im Moment kommen wir nicht weiter. Per, du kannst vorläufig gehen, aber …« Er blickte Martin fragend an, und der nickte fast unmerklich. »Wir werden Kontakt zum Jugendamt aufnehmen. Es gibt nämlich einige Dinge, die uns beunruhigen. Die Ermittlungen wegen der Körperverletzung gehen ohnehin ihren Gang.«

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Carina mit zitternder Stimme, aber ohne wirkliche Energie. Gösta hatte den Eindruck, dass sie teilweise auch erleichtert war, dass endlich jemand ihre familiäre Situation in die Hand nahm.

Als Per und Carina die Dienststelle Seite an Seite, aber ohne einander anzusehen, verlassen hatten, folgte Gösta Martin in dessen Zimmer.

»Nun haben wir reichlich Stoff zum Nachdenken.« Martin setzte sich.

»Allerdings.« Gösta kaute auf der Unterlippe und wiegte sich auf den Absätzen.

»Möchtest du etwas sagen?«

»Ja, eine Sache vielleicht.« Gösta nahm Anlauf. Seit Tagen regte sich etwas in seinem Unterbewusstsein. Während des Verhörs war ihm plötzlich aufgegangen, was es war. Es fragte sich nur noch, wie er sich ausdrücken sollte. Martin würde nicht erfreut sein.

Lange stand er zögernd auf dem Treppenabsatz vorm Haus. Schließlich klopfte er an. Herman öffnete umgehend.

»Da bist du also.«

Axel nickte. Er blieb vor der Tür stehen.

»Komm rein. Ich habe deinen Besuch nicht angekündigt, weil ich nicht wusste, ob sie sich noch an dich erinnert.«

»Ist es so schlimm?« Axel betrachtete den Mann vor sich voller Mitgefühl. Herman sah müde aus. Leicht hatte er es bestimmt nicht.

»Ist das eure Sippschaft?«

»Ja, der ganze Haufen.«

Mit hinter dem Rücken gefalteten Händen betrachtete Axel die Bilder. Mittsommerfeste und Geburtstage, Weihnachten und Alltag. Ein Gewimmel von Erwachsenen, Kindern und Enkelkindern. Einen Augenblick lang erlaubte er sich, darüber nachzudenken, wie seine eigene Fotowand ausgesehen hätte. Aufnahmen aus dem Arbeitszimmer. Riesige Papierstapel. Unzählige Abendessen mit Politikern und anderen mächtigen Personen. Einige wenige Freunde, wenn überhaupt. Nicht viele konnten einen Menschen ertragen, der ständig auf der Jagd war, der immer den Antrieb verspürte, irgendwo da draußen noch jemanden zu finden. Wieder einen Verbrecher, der unberechtigterweise ein angenehmes Leben führte. Noch einen, der trotz des Bluts an seinen Händen das Privileg genoss, die Köpfe seiner Enkelkinder tätscheln zu dürfen. Wie hätten sich Familie, Freunde und ein normales Leben mit diesem Drang vereinbaren sollen? Die meiste Zeit seines Lebens hatte er sich nicht einmal die Frage gestattet, ob er etwas vermisste. Als seine Arbeit Früchte trug, wurde er reich belohnt. Wenn die Schuldigen nach jahrzehntelanger Suche in Archiven, nach unendlich vielen Interviews mit Menschen, die immer schneller vergaßen, von ihrer Vergangenheit eingeholt und zur Rechenschaft gezogen wurden. Dieser Lohn war so viel wert, dass er die Sehnsucht nach dem gewöhnlichen Leben verdrängte. Zumindest hatte er das geglaubt. Doch als er nun vor den Fotos von Herman und Britta stand, dachte er kurz darüber nach, ob es nicht ein Fehler gewesen war, den Tod wichtiger zu nehmen als das Leben.

»Schön«, sagte Axel und kehrte den Bildern den Rücken. Er folgte Herman ins Wohnzimmer und blieb abrupt stehen, als er Britta erblickte. Obwohl Fjällbacka schon lange sein und Eriks Heimathafen war, hatte er Britta seit ewigen Zeiten nicht gesehen. Ihre Wege hatten keinen Grund gehabt, sich zu kreuzen.

Plötzlich fielen die Jahre schonungslos von ihm ab, und er kam ins Straucheln. Sie war noch immer eine Schönheit. Eigentlich war sie viel hübscher gewesen als Elsy, die man eher als niedlich hätte bezeichnen können. Aber Elsy hatte von innen geleuchtet und eine Freundlichkeit ausgestrahlt, mit der Brittas äußerliche Attraktivität sich nicht messen konnte. Mit den Jahren hatte sich jedoch etwas verändert. Von Brittas früherer Härte und Oberflächlichkeit war nichts geblieben. Sie verströmte nur noch eine warmherzige Mütterlichkeit. Offenbar war sie mit der Zeit gereift.

»Bist du es wirklich?« Sie stand vom Sofa auf. »Axel?« Sie streckte beide Hände nach ihm aus, und er ergriff sie. So viele Jahre waren vergangen. Unfassbar. Sechzig Jahre. Ein ganzes Leben. Als er jünger war, hatte er sich nicht vorstellen können, wie schnell die Zeit verging. Die Hände, die er in seinen hielt, waren runzlig und mit winzigen Altersflecken bedeckt. Die Haare waren nicht mehr dunkel, sondern elegant silberfarben. Britta sah ihm ruhig in die Augen.

»Schön, dich wiederzusehen. Du bist gut gealtert.«

»Lustig, das Gleiche habe ich von dir gedacht.« Axel lächelte.

»Na, dann plaudern wir ein bisschen. Machst du uns einen Kaffee?«

Herman nickte und begann in der Küche zu hantieren. Britta ließ sich auf dem Sofa nieder und hielt noch immer seine Hand fest, als er sich neben sie setzte.

»Tja, dass wir beide auch einmal alt werden. Wer hätte das gedacht?« Sie legte den Kopf schief. Offenbar hat sie ihre kokette Seite nicht ganz abgelegt, dachte Axel amüsiert.

»Ich habe gehört, dass du viel Gutes getan hast.« Britta sah ihn prüfend an. Er wich ihrem Blick aus.

»Was heißt schon gut. Ich habe getan, was getan werden musste. Manche Dinge darf man nicht unter den Teppich kehren.« Er verstummte jäh.

»Da hast du recht«, erwiderte Britta in ernstem Ton.

Schweigend saßen sie nebeneinander und blickten hinaus auf die Bucht, bis Herman auf einem geblümten Tablett den Kaffee und die Tassen brachte.

»Danke, Liebling«, sagte Britta. Axel brach es fast das Herz, als er den Blick sah, den die beiden einander zuwarfen. Er erinnerte sich selbst daran, dass seine Arbeit zum Seelenfrieden vieler Menschen beigetragen hatte. Ihnen war die Befriedigung vergönnt, ihre Peiniger vor Gericht zu sehen. Auch das war eine Art, Liebe zu geben. Sie war nicht persönlich oder körperlich, aber es war Liebe.

Britta schien seine Gedanken gelesen zu haben. Sie reichte ihm eine Tasse Kaffee. »Hast du ein gutes Leben gehabt, Axel?«

Die Frage war so komplex und vielschichtig, dass er sie nicht beantworten konnte. Er sah Erik und seine Freunde zu Hause in der Bibliothek vor sich, sorglos und unbekümmert. Elsy mit dem milden Lächeln und der sanften Art. Frans, der allen in seiner Umgebung das Gefühl vermittelte, auf einem Vulkan zu tanzen, der aber trotzdem etwas Zartes und Zerbrechliches an sich hatte. Britta, die jetzt so anders wirkte als damals. Sie hatte ihre Schönheit wie einen Schild getragen, und er hatte sie verurteilt. Damals sah er nur eine leere Hülle in ihr. Vielleicht war sie das ja auch. Mit den Jahren hatte sie sich gefüllt, und nun schien auch sie von innen zu leuchten. Und Erik? Der Gedanke an ihn war so schmerzhaft, dass sein Gehirn ihn wegstoßen wollte, doch hier in Brittas Wohnzimmer zwang Axel sich, ihn so zu sehen, wie er vor der schweren Zeit gewesen war. Am Schreibtisch des Vaters. Die Füße auf der Platte. Die braunen Haare immer ein wenig zerzaust, und dank seines zerstreuten Gesichtsausdrucks wirkte er viel älter, als er in Wirklichkeit war. Erik. Geliebter Erik.

Axel begriff, dass Britta wartete. Er riss sich vom Damals los und bemühte sich, eine Antwort im Jetzt zu finden. Doch wie immer war beides hoffnungslos verwoben, und die sechzig vergangenen Jahre verschmolzen zu einem Mischmasch aus Menschen, Begegnungen und Ereignissen. Die Hand an der Kaffeetasse bebte.

»Ich weiß es nicht. Vermutlich war es so gut, wie ich es verdient habe.«

»Ich hatte ein gutes Leben, Axel, und habe schon vor sehr langer Zeit beschlossen, dass ich das auch verdient habe. Das solltest du auch tun.«

Seine Hand zitterte immer heftiger, und der Kaffee schwappte auf das Sofa.

»Verzeihung … ich …«

Herman sprang auf. »Keine Sorge, ich hole einen Lappen.« Er verschwand in der Küche und kehrte kurz darauf mit einem klitschnassen blauweiß karierten Küchenhandtuch zurück, mit dem er vorsichtig den Fleck betupfte.

Britta jammerte so laut, dass Axel zusammenzuckte. »Oh, Mutter wird böse sein. Ihr schönstes Sofa. Das war nicht gut.«

Axel sah Herman fragend an, woraufhin der noch eifriger an dem Fleck rieb.

»Meinst du, der geht wieder weg? Mutter wird mit mir schimpfen!« Britta schaukelte vor und zurück und verfolgte Hermans Bemühungen voll Sorge. Er stand auf und legte den Arm um seine Frau. »Alles wird gut, Liebste. Ich bekomme den Fleck wieder weg. Das verspreche ich dir.«

»Bist du sicher? Denn wenn Mutter böse wird, erzählt sie es vielleicht Vater, und …« Britta biss sich nervös auf den Knöchel ihrer verkrampften Hand.

»Ich verspreche dir, dass der Fleck wieder weggeht. Sie wird nichts davon erfahren.«

»Das ist gut.« Britta entspannte sich. Dann erstarrte sie plötzlich und sah Axel erschrocken an. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

Hilfesuchend wandte er sich Herman zu.

»Das kommt und geht.« Er setzte sich neben sie und klopfte beruhigend auf ihre Hand. Sie betrachtete Axel intensiv, als wäre sein Gesicht eine irritierende Täuschung, die ihr immer wieder entglitt. Dann packte sie Axels Hand und kam ganz nah an sein Gesicht.

»Er ruft nach mir.«

»Wer?«, fragte Axel und unterdrückte den Impuls, ihr sein Gesicht, seine Hand und seinen ganzen Körper zu entziehen.

Britta antwortete nicht. Stattdessen hörte er einen Widerhall seiner eigenen Worte.

»Manche Dinge darf man nicht unter den Teppich kehren«, flüsterte sie langsam.

Jäh riss er seine Hand los und blickte Herman über Brittas silbergrauen Scheitel hinweg an.

»Du siehst es ja selbst«, sagte Herman müde. »Was machen wir jetzt?«

»Jetzt benimm dich, Adrian!« Anna rackerte sich ab, dass ihr der Schweiß hinunterlief, aber er war in letzter Zeit ein Meister darin geworden, sich so zu winden, dass man ihm nicht einmal eine Socke überstreifen konnte. Sie versuchte, ihn festzuhalten und ihm eine Unterhose anzuziehen, aber er riss sich los und rannte lachend durchs ganze Haus.

»Bitte hör auf, Adrian. Mama kann nicht mehr. Wir wollen doch mit Dan nach Tanum. Einkaufen. Du darfst dir bei Hedemyrs die Spielsachen angucken«, lockte sie ihn. Ihr war durchaus bewusst, dass Bestechung wahrscheinlich nicht der geeignetste Ausweg aus der Anziehkrise war, doch was sollte man machen?

»Seid ihr immer noch nicht fertig?«, fragte Dan, als er die Treppe herunterkam und Anna neben einem Klamottenhaufen hocken sah, während Adrian wie ein Irrer herumflitzte. »Mein Unterricht fängt in einer halben Stunde an, ich muss bald los.«

»Dann mach es doch selbst«, zischte Anna und warf ihm Adrians Kleidungsstücke zu. Dan sah sie erstaunt an. In letzter Zeit war sie wirklich nicht besonders gut gelaunt, aber das war wohl kein Wunder. Zwei Familien zusammenzuführen war anstrengender, als sie erwartet hatten.

»Komm, Adrian.« Dan schnappte sich den nackten Wilden. »Wollen wir doch mal sehen, ob ich es noch kann.« Die Unterhose und die Socken schaffte er mit unerwarteter Leichtigkeit, aber dann kam es zum Stillstand. Adrian probierte seine Verrenkungskünste auch an ihm aus und verweigerte das Überstreifen einer langen Hose. Dan unternahm einige Versuche in ruhigem Ton, doch dann verlor auch er die Geduld. »Du sitzt jetzt STILL!«

Verblüfft hielt Adrian mitten in der Bewegung inne. Dann färbte sich sein Gesicht knallrot. »Du bist nicht mein Papa! Geh weg! Ich will zu meinem Papa. Papaaa!«

Das war zu viel für Anna. All die Erinnerungen an Lucas und die schreckliche Zeit, als sie wie eine Gefangene im eigenen Haus lebte, stiegen in ihr hoch, und sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie lief hinauf ins Schlafzimmer, warf sich aufs Bett und begann hemmungslos zu schluchzen.

Dann spürte sie eine sanfte Hand auf ihrem Rücken. »Was ist mit dir, mein Liebling? Das war doch nicht so schlimm. Er hat sich einfach noch nicht an die neue Situation gewöhnt und stellt uns auf die Probe. Verglichen mit Belinda in dem Alter ist das gar nichts. Dagegen ist er ein reiner Amateur. Einmal war ich so sauer auf sie, weil sie beim Anziehen ständig Theater machte, dass ich sie in der Unterhose vor die Tür setzte. Allerdings bekam ich daraufhin Ärger mit Pernilla, es war nämlich September. Dabei hatte ich schon nach einer Minute ein schlechtes Gewissen bekommen und sie wieder hereingelassen.«

Anna lachte nicht, sondern weinte noch lauter. Ihr ganzer Körper zitterte.

»Was hast du denn, Schatz? Langsam mache ich mir wirklich Sorgen. Ich weiß, dass du viel durchgemacht hast, aber das hier kriegen wir schon hin. Alle Beteiligten brauchen ein bisschen Zeit, und irgendwann wird es dann ruhiger. Du … und ich … wir schaffen das.«

Sie wandte ihm ihr verweintes Gesicht zu und setzte sich halb auf.

»Ich … ich … weiß«, stammelte sie, während sie sich bemühte, das Weinen unter Kontrolle zu bekommen. »Ich … weiß … das … und ich habe … keine Ahnung … was … los ist … so bin ich eigentlich nur … wenn ich …« Anna hielt mitten im Satz inne und starrte Dan mit offenem Mund an.

»Wenn du was?« Auf seiner Stirn stand ein Fragezeichen. »So bist du nur, wenn du …?«

Anna konnte sich nicht überwinden, seine Frage zu beantworten, aber nach einer Weile ging ihm von selbst ein Licht auf.

Mit weit aufgerissenen Augen nickte sie langsam. »Wenn ich schwanger bin.«

Es wurde mucksmäuschenstill im Schlafzimmer. Dann ertönte eine kleine Stimme.

»Ich habe mich jetzt angezogen. Ganz alleine. Ich bin ein großer Junge. Können wir jetzt zum Spielzeuggeschäft fahren?«

Dan und Anna sahen Adrian an, der im Türrahmen stand und vor Stolz fast platzte. Richtig. Der Hosenstall saß zwar hinten und die Pullinähte außen, aber angezogen hatte er sich. Ganz alleine.

Schon im Flur roch es herrlich. Erwartungsvoll ging Mellberg in die Küche. Rita hatte kurz vor elf angerufen und gefragt, ob er zum Mittagessen herüberkommen wolle. Señorita habe den Wunsch geäußert, mit Ernst herumzutoben. Er fragte nicht, wie das Tier das zum Ausdruck gebracht hatte. Manche Dinge nahm man einfach dankbar an. Wie Manna, das vom Himmel fiel.

»Hallo.« Johanna stand neben Rita und half ihr beim Gemüseschnippeln, hatte allerdings Mühe, weil sie wegen ihres Bauches einen gewissen Abstand zur Arbeitsplatte halten musste.

»Hallöchen. Hier riecht es aber lecker.« Mellberg schnupperte.

»Es gibt Chili con Carne.« Rita gab ihm ein Küsschen auf die Wange. Mellberg verkniff es sich, die Stelle zu betasten, die ihre Lippen berührt hatten, und setzte sich an den Tisch, der für vier Personen gedeckt war.

»Bekommen wir Gesellschaft?« Er sah Rita fragend an.

»Mein Schatz kommt zum Mittagessen nach Hause.« Johanna rieb sich den unteren Rücken.

»Wollen Sie sich nicht setzen?« Mellberg schob ihr einen Stuhl hin. »Was Sie da mit sich herumschleppen, sieht ziemlich schwer aus.«

Johanna ließ sich schnaufend neben ihm nieder. »Sie machen sich keine Vorstellung. Hoffentlich ist bald Schluss damit. Ich kann es kaum erwarten, die Kugel los zu sein.« Sie strich sich über den Bauch.

»Wollen Sie mal fühlen?«, fragte sie, als sie Mellbergs neugierigen Blick sah.

»Darf man das denn?«, gab er dümmlich zurück. Da Simon, sein eigener Sohn, bereits ein Teenager war, als Mellberg von seiner Existenz erfuhr, war dieser Teil der Elternschaft ein Buch mit sieben Siegeln für ihn.

»Sehen Sie, es strampelt.« Johanna nahm seine Hand und legte sie auf die linke Seite ihres Bauchs.

Mellberg zuckte zusammen, als er einen kräftigen Tritt spürte. »Donnerwetter, nicht übel. Tut das weh?« Er starrte den Bauch an, während er noch immer die heftigen Beinbewegungen unter seiner Handfläche wahrnahm.

»Nicht besonders. Es ist nur manchmal etwas unangenehm, wenn ich schlafen möchte. Mein Schatz meint, es wird ein Fußballspieler.«

»Das würde ich auch sagen.« Mellberg wollte die Hand gar nicht mehr wegnehmen. Das Erlebnis weckte seltsame Gefühle in ihm, die er nicht genau benennen konnte. Sehnsucht, Faszination, Wehmut … Irgendetwas in der Richtung.

»Hat der Vater denn ein Ballgefühl, das er vererben könnte?«, lachte er. Zu seiner großen Verwunderung wurde seine Frage nur mit Schweigen beantwortet. Er blickte auf und sah in die erstaunten Augen von Rita.

»Mensch, Bertil, weißt du denn nicht, dass …«

In diesem Augenblick ging die Wohnungstür auf.

»Das riecht aber gut, Mama«, ertönte es aus dem Flur. »Was gibt es denn? Dein leckeres Chili?«

Paula betrat die Küche. Ihr verblüffter Gesichtsausdruck spiegelte den von Mellberg.

»Paula?«

»Chef?«

Dann ratterte es in Mellbergs Kopf, und er zählte eins und eins zusammen. Paula war mit ihrer Mutter hierher gezogen. Rita wohnte erst seit kurzem hier. Die dunklen Augen. Dass ihm das nicht früher aufgefallen war. Sie hatten genau die gleiche Farbe. Nur eins konnte er nicht ganz …

»Sie haben also meine Lebensgefährtin kennengelernt.« Paula legte demonstrativ die Arme um Johanna, starrte ihn erwartungsvoll an und forderte ihn geradezu heraus, etwas Falsches zu sagen oder zu tun.

Im Augenwinkel sah er, dass Rita ihn gespannt beobachtete. Sie hielt einen Holzlöffel in der Hand, hatte aber aufgehört, im Topf zu rühren. Tausend Gedanken und ebenso viele Vorurteile gingen ihm durch den Kopf. In den letzten Jahren hatte er unendlich viele Dinge gesagt, die vielleicht nicht ganz durchdacht waren. Aber jetzt begriff er plötzlich, dass nun der Augenblick gekommen war, in dem er das Richtige tun und sagen musste. Viel zu viel stand auf dem Spiel. Ritas dunkle Augen ruhten auf ihm.

»Ich wusste nicht, dass Sie ein Kind erwarten. Und schon so bald. Ich darf hoffentlich gratulieren. Johanna war so freundlich, mich mit dem kleinen Wildfang Kontakt aufnehmen zu lassen. Ich bin geneigt, Ihrer Theorie zuzustimmen, dass es sich um ein zukünftiges Fußballtalent handelt.«

Paula stand noch ein paar Sekunden reglos da. Sie hatte die Arme um Johanna geschlungen und starrte ihn prüfend an, um herauszufinden, ob sich hinter seinen Worten irgendeine Ironie verbarg. Dann entspannte sie sich und lächelte. »Klar, die Tritte sind ziemlich heftig.« Der ganze Raum schien vor Erleichterung zu implodieren.

Rita rührte weiter im Chili und lachte. »Gegen dich ist das gar nichts, Paula. Ich weiß noch, dass dein Vater immer seine Scherze darüber machte, dass du offenbar einen anderen Ausgang als den üblichen suchtest.«

Paula küsste Johanna auf die Wange, setzte sich an den Tisch und sah Mellberg verwundert an. Er selbst war ungeheuer zufrieden mit sich. Er fand es immer noch merkwürdig, dass zwei Frauen zusammenlebten, und das Zustandekommen des Babys ließ ihm keine Ruhe. Früher oder später würde er seine Neugier in diesem Punkt stillen müssen … Trotzdem hatte er die passenden Worte gefunden, und zu seinem großen Erstaunen kamen sie von Herzen.

Rita stellte den Topf auf den Tisch und forderte sie auf, sich zu bedienen. Ihr Blick war der endgültige Beweis, dass er sich richtig verhalten hatte.

Den prallen Bauch und den strampelnden Kinderfuß fühlte er noch immer in seiner Hand.

»Du kommst genau richtig zum Mittagessen. Ich wollte dich gerade anrufen.« Patrik probierte die Tomatensuppe mit einem Teelöffel und stellte anschließend den Topf auf den Tisch.

»Was für ein Service. Womit habe ich das verdient?« Erica kam in die Küche und küsste seinen Nacken.

»Glaubst du etwa, das wäre alles? Willst du damit sagen, ich hätte nur das Mittagessen zu kochen brauchen, um dich zu beeindrucken? Mist, dann habe ich ja ganz umsonst die Wäsche gemacht, das Wohnzimmer aufgeräumt und im Klo eine neue Glühbirne eingeschraubt.« Er drehte sich um und küsste sie auf den Mund.

»Von dem Zeug, das du geraucht hast, will ich auch etwas haben.« Erica sah ihn fragend an. »Wo ist überhaupt Maja?«

»Sie schläft seit einer Viertelstunde. Wir zwei können also ganz in Ruhe essen. Und wenn wir fertig sind, gehst du hinauf und arbeitest weiter, und ich kümmere mich um den Abwasch.«

»Okaaay … Jetzt wird es langsam unheimlich. Entweder hast du unser ganzes Geld veruntreut oder du teilst mir gleich mit, dass du eine Geliebte hast oder du bist ins Raumfahrtprogramm der NASA aufgenommen worden und willst ein Jahr um die Erde kreisen … Vielleicht ist mein Mann auch von Aliens entführt worden, und du bist nur ein seltsames Zwitterwesen aus Mensch und Roboter …«

»Woher weißt du das mit der NASA?«, erwiderte Patrik augenzwinkernd. Er schnitt etwas Brot ab, legte es in einen Korb und setzte sich Erica gegenüber. »In Wahrheit hat mir der Spaziergang mit Karin heute zu denken gegeben und … da dachte ich mir, vielleicht sollte ich dir etwas mehr Service bieten. Rechne aber bitte nicht ständig mit dieser Vorzugsbehandlung, möglicherweise erleide ich einen Rückfall.«

»Wenn man sich wünscht, dass der Mann zu Hause ein bisschen mehr mithilft, muss man ihn also nur zu einem Date mit seiner Ex schicken? Das muss ich unbedingt meinen Freundinnen erzählen …«

»Wahrscheinlich.« Patrik pustete auf seinen Löffel. »Es war allerdings kein richtiges Date. Sie hat es nicht gerade leicht.« Er fasste kurz zusammen, was Karin gesagt hatte. Erica nickte. Obwohl Karin zu Hause viel weniger Unterstützung zu bekommen schien als sie selbst, erkannte sie sich wieder.

»Wie lief es bei dir?« Geräuschvoll schlürfte Patrik die heiße Suppe.

Erica strahlte. »Ich habe wahnsinnig viel herausgefunden. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele spannende Dinge hier in Fjällbacka während des Zweiten Weltkriegs passiert sind. Es gab Schmuggel von hier nach Norwegen und andersherum: Lebensmittel, Nachrichten, Waffen und Menschen. Hierher kamen nicht nur Norweger aus der Widerstandsbewegung, sondern auch desertierte Deutsche. Es gab Minen, von denen eine große Gefahr ausging. Einige Fischerboote und Frachtschiffe gingen mit der Besatzung unter. Wusstest du, dass die schwedische Luftwaffe 1940 vor Dingle ein deutsches Flugzeug abgeschossen hat? Alle drei Männer an Bord kamen ums Leben. Davon hatte ich nie gehört. Ich dachte immer, der Krieg wäre ganz unbemerkt an diesem Ort vorübergegangen, abgesehen von den Problemen mit der Rationierung und diesen Dingen.«

»Klingt, als hättest du dich richtig in das Thema vertieft«, lachte Patrik und gab Erica noch mehr von der Suppe.

»Du hast noch nicht alles gehört! Ich hatte doch Christian gebeten, auch die Sachen herauszusuchen, die möglicherweise etwas mit meiner Mutter und ihren Freunden zu tun haben. Eigentlich habe ich nicht geglaubt, dass er etwas finden würde, schließlich waren sie damals so jung. Aber guck mal hier …« Ericas Stimme bebte, als sie ihre Dokumentenmappe holen ging. Sie legte sie auf den Küchentisch und zog einen dicken Stapel Papier heraus.

»Das ist nicht wenig.«

»Ich habe drei Stunden nur gelesen«, sagte Erica und blätterte mit zitternden Händen. Schließlich fand sie, was sie gesucht hatte.

»Hier!« Sie zeigte auf einen Artikel mit einem großen Schwarzweißfoto.

Patrik nahm die Kopie in die Hand und betrachtete sie genau. Als Erstes zog das Bild seinen Blick auf sich. Fünf Menschen. Nebeneinander. Blinzelnd entzifferte er die Bildunterschrift. Vier Namen kannte er: Elsy Moström, Frans Ringholm, Erik Frankel und Britta Johansson, doch den fünften hatte er noch nie gehört. Es handelte sich um einen Jungen namens Hans Olavsen, der schätzungsweise im gleichen Alter wie die anderen war. Schweigend las er den Rest des Artikels. Erica ließ ihn nicht aus den Augen.

»Na? Was sagst du? Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber es kann kein Zufall sein. Sieh dir das Datum an. Er kam fast genau an dem Tag nach Fjällbacka, als meine Mutter scheinbar aufhörte, Tagebuch zu schreiben. Oder? Das kann kein Zufall sein!« Erica ging fieberhaft auf und ab.

Patrik beugte sich erneut über die Fotografie und musterte die fünf Jugendlichen. Einer von ihnen war tot, sechzig Jahre später ermordet. Irgendetwas in seiner Magengegend sagte ihm, dass Erica recht hatte. Es musste etwas zu bedeuten haben.

Als sie zurück zur Dienststelle ging, schwirrte ihr der Kopf. Ihre Mutter hatte zwar erwähnt, dass sie beim Spazierengehen einen netten Mann kennengelernt und zum Salsakurs überredet hatte, aber Paula wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich um ihren Chef handelte. Es war nicht übertrieben zu behaupten, dass sie nicht gerade entzückt war. Mellberg war so ungefähr der letzte Mann auf diesem Erdball, den sie sich an der Seite ihrer Mutter wünschte. Allerdings musste sie zugeben, dass er mit der Information über sie und Johanna gut umgegangen war. Erstaunlich gut. Engstirnigkeit war ihr wichtigstes Argument gegen Tanum gewesen. Für sie und Johanna war es schon in Stockholm schwer genug, als Familie akzeptiert zu werden. In einem kleinen Ort … konnte es zu einer Katastrophe kommen. Sie hatte die ganze Sache jedoch mit Johanna und ihrer Mutter besprochen, und gemeinsam hatten sie sich darauf geeinigt, dass man ja zurück in die Hauptstadt ziehen konnte, wenn es hier nicht klappte. Bis jetzt lief es jedoch viel besser als erwartet. Sie selbst fühlte sich pudelwohl bei der hiesigen Polizei, ihre Mutter hatte sich mit ihren Salsakursen und einer Halbtagsstelle bei Konsum eingerichtet, und Johanna war zwar im Moment krankgeschrieben und würde noch eine ganze Weile Erziehungsurlaub nehmen, hatte aber bereits Kontakt mit einem hier ansässigen Unternehmen aufgenommen, das ausdrücklich an betriebswirtschaftlicher Verstärkung interessiert war. Als Paula in die Küche kam, Johanna umarmte und Mellbergs Gesichtsausdruck sah, dachte sie einen Augenblick lang, nun würde ihr neues Leben einstürzen wie ein Kartenhaus. In diesem Moment hätte alles kaputtgehen können. Doch Mellberg hatte sie überrascht. Vielleicht war er gar nicht so ein hoffnungsloser Fall, wie sie gedacht hatte.

Paula wechselte am Empfangstresen ein paar Worte mit Annika, klopfte dann an Martins Türrahmen und trat ein.

»Wie ist es gelaufen?«

»Die Körperverletzung? Er hat alles zugegeben, etwas anderes blieb ihm eigentlich gar nicht übrig. Seine Mutter durfte ihn mit nach Hause nehmen, aber Gösta ist in Kontakt mit dem Jugendamt. Die häuslichen Verhältnisse machen nicht den besten Eindruck.«

»So ist es ja häufig.« Paula setzte sich.

»Das Interessanteste ist der Auslöser des Vorfalls. Per ist im Frühjahr bei Erik Frankel eingebrochen.«

Paula hob eine Augenbraue, ließ Martin aber weitersprechen.

Als er die ganze Geschichte erzählt hatte, schwiegen sie eine Weile.

»Ich frage mich, was Erik Kjell hätte mitteilen können«, sagte Paula schließlich. »Ob es um seinen Vater ging?«

Martin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber ich finde, wir sollten mit ihm sprechen und es herausfinden. Wir müssen sowieso nach Uddevalla, um einige Herren von Schwedens Freunden zu verhören. Der Bohusläningen hat seinen Hauptsitz dort. Auf dem Weg können wir uns mit Axel unterhalten.«

»Gesagt, getan.« Paula stand auf.

Zwanzig Minuten später standen sie wieder vor dem Haus von Erik und Axel. Er sah älter aus als beim letzten Mal, dachte Paula. Grauer, dünner und fast durchsichtig. Freundlich lächelnd ließ er sie herein, wollte nicht wissen, warum sie gekommen waren, sondern wies ihnen nur den Weg zur Veranda.

»Haben Sie irgendetwas erreicht?«, fragte er, als sie saßen, und fügte unnötigerweise hinzu: »Mit Ihren Ermittlungen?«

Nach einem Seitenblick zu Paula sagte Martin: »Wir verfolgen gewisse Spuren. Das Wichtigste ist wohl, dass wir nun den Zeitraum eingrenzen können, innerhalb dessen Ihr Bruder umgekommen sein muss.«

»Das ist doch ein großer Fortschritt.« Axel lächelte, aber seine Augen verloren nichts von ihrer traurigen Müdigkeit. »Wann war das Ihrer Meinung nach?« Er sah Martin und Paula an.

»Er hat seine … Bekannte, Viola Ellmander, am fünfzehnten Juni getroffen, da hat er also mit Sicherheit noch gelebt. Das zweite Datum ist etwas unsicherer, aber wir glauben zumindest, dass er am siebzehnten Juni bereits tot war, weil Ihre Putzfrau …«

»Laila«, ergänzte Axel, als er merkte, dass Martin der Name nicht einfiel.

»Laila, genau. Sie kam am siebzehnten Juni hierher, um wie üblich sauberzumachen, aber niemand machte ihr auf, und der Schlüssel lag auch nicht wie sonst unter der Fußmatte.«

»Ja, damit nahm Erik es ganz genau und hat es meines Wissens nie vergessen. Wenn er also nicht die Tür aufgemacht hat und kein Schlüssel dalag, dann …« Axel verstummte und strich sich hastig mit der Hand über die Augen, als sähe er Bilder seines Bruders vor sich, die er so schnell wie möglich wegwischen wollte.

»Es tut mir furchtbar leid«, sagte Paula sanft, »aber wir müssen Sie fragen, wo Sie sich zwischen dem fünfzehnten und dem siebzehnten Juni befunden haben. Es handelt sich um eine reine Formsache, das versichere ich Ihnen.«

Axel fegte ihre Entschuldigung mit einer Handbewegung vom Tisch. »Sie brauchen mich nicht um Verzeihung zu bitten, mir ist klar, dass das zu Ihrer Arbeit gehört, und im Übrigen zeigen doch die Statistiken, dass die meisten Morde im engsten Familienkreis begangen werden, nicht wahr?«

Martin nickte. »Wir brauchen Ihre Angaben, um Sie aus den Ermittlungen auszuschließen.«

»Selbstverständlich. Ich hole meinen Kalender.«

Axel blieb einige Augenblicke weg und kehrte dann mit einem dicken Buch zurück. Er setzte sich und begann zu blättern.

»Mal sehen … Am dritten Juni bin ich direkt von Schweden nach Paris geflogen und kam nicht zurück, bevor Sie … so freundlich waren, mich vom Flughafen abzuholen. Aber zwischen dem fünfzehnten und dem siebzehnten … So … Am fünfzehnten hatte ich ein Treffen in Brüssel, fuhr am sechzehnten nach Frankfurt und kehrte am siebzehnten zurück zur Zentrale in Paris. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen Kopien meiner Flugtickets zukommen lassen.« Er reichte Paula den Kalender.

Sie studierte ihn genau, schob ihn aber nach einem fragenden Blick zu Martin, der leicht den Kopf schüttelte, wieder über den Tisch.

»Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Haben Sie aus dieser Zeit keine besonderen Erinnerungen, die Erik betreffen? Ein Anruf? Hat er irgendetwas erwähnt?«

Axel schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Wie gesagt, mein Bruder und ich haben nicht oft telefoniert, wenn ich im Ausland war. Erik hätte mich wahrscheinlich nur angerufen, wenn das Haus in Flammen gestanden hätte.« Er lachte leise, verstummte dann aber jäh und strich sich wieder über die Augen.

»War das alles? Gibt es noch etwas, womit ich Ihnen helfen kann?« Behutsam klappte er den Kalender zu.

»Doch, da war noch eine Sache.« Martin sah Axel aufmerksam an. »Wir haben heute einen Per Ringholm wegen Körperverletzung verhört, und der erzählte uns, dass er versucht hat, Anfang Juni hier bei Ihnen einzubrechen. Erik hat ihn erwischt, in der Bibliothek eingesperrt und seinen Vater angerufen, Kjell Ringholm.«

»Den Sohn von Frans«, stellte Axel fest.

Martin nickte. »Genau. Per hat Teile eines Gesprächs zwischen Erik und Kjell mit angehört, im Laufe dessen die beiden sich für einen späteren Zeitpunkt verabredeten, weil Erik über Informationen verfügte, von denen er annahm, dass sie für Kjell von Interesse sein könnten. Ist Ihnen das bekannt?«

»Davon habe ich keine Ahnung.« Axel schüttelte heftig den Kopf.

»Haben Sie eine Idee, was Erik Kjell mitteilen wollte?«

Axel schwieg eine Weile. Er schien nachzudenken. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, ich habe keine Ahnung, worum es sich gehandelt haben könnte. Allerdings hat Erik viel Zeit mit der Erforschung des Zweiten Weltkriegs verbracht, wozu natürlich auch der Nazismus dieser Zeit gehörte, während Kjell sich mit dieser Bewegung im heutigen Schweden beschäftigt hat. Ich könnte mir also vorstellen, dass er eine Verbindung entdeckt hatte, etwas von historischem Interesse, das Kjell als Hintergrundmaterial dienen konnte. Sie brauchen ihn doch nur danach zu fragen, dann kann er Ihnen selbst erzählen, worum es ging.«

»Wir wollen gleich weiter nach Uddevalla, um uns ein bisschen mit ihm zu unterhalten. Ich gebe Ihnen meine Handynummer für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt.« Martin reichte Axel einen Zettel, den dieser sorgfältig in seinen Kalender steckte.

Im Auto schwiegen Paula und Martin, doch ihre Gedanken bewegten sich in den gleichen Bahnen. Was war ihnen entgangen? Welche Fragen hätten sie stellen sollen? Sie wünschten beide, sie wüssten es.

»Wir müssen die Sache bald angehen. Lange kann sie nicht mehr zu Hause bleiben.« Herman sah seine Töchter mit einer so tiefen Verzweiflung an, dass sie seinem Blick kaum standhalten konnten.

»Das wissen wir, Papa. Du hast völlig recht, es gibt keine Alternative. Solange es möglich war, hast du dich um Mama gekümmert, aber nun müssen das andere Leute übernehmen. Wir werden einen wunderschönen Ort für sie finden.« Anna-Greta stellte sich hinter ihren Vater und legte die Arme um ihn. Als sie spürte, wie mager er unter dem Hemd war, erschauerte sie. Mutters Krankheit setzte ihm mehr zu, als ihnen bisher aufgefallen war. Vielleicht hatten sie es gar nicht bemerken wollen. Sie beugte sich nach vorn und legte ihre Wange an die von Herman.

»Wir sind da, Vater. Birgitta, Maggan und unsere Familien. Wir sind für dich da, das weißt du. Du musst dich nie einsam fühlen.«

»Ohne eure Mutter bin ich aber einsam. Dagegen kann man nichts machen«, sagte Herman tonlos und wischte sich hastig eine Träne aus dem Augenwinkel. »Aber ich weiß, dass es für Britta das Beste ist.«

Die Töchter sahen sich über den Kopf ihres Vaters hinweg an. Herman und Britta waren der Kern ihres Lebens gewesen, auf den sie sich immer verlassen konnten. Nun waren ihre Grundfesten erschüttert. Sie streckten die Arme nach einander aus, um wieder Halt zu finden. Es war erschreckend mit anzusehen, wie die eigenen Eltern schrumpften und schließlich kleiner wurden als man selbst. Dann musste man sich um Menschen kümmern, die man immer für unfehlbar und unverwüstlich gehalten hatte. Auch wenn man seine Eltern längst nicht mehr als gottähnliche Wesen betrachtete, die auf alles eine Antwort hatten, war es schmerzhaft, wenn sie ihre Kraft verloren.

Anna-Greta drückte Hermans knochige Schultern noch ein paar Mal ganz fest. Dann setzte sie sich wieder an den Küchentisch.

»Kommt sie denn allein zurecht, während du hier bist?«, fragte Maggan besorgt. »Soll ich nicht mal schnell hinüberflitzen und nach ihr schauen?«

»Als ich ging, war sie gerade eingeschlafen«, antwortete Herman. »Doch da sie normalerweise nicht länger als eine Stunde schläft, werde ich mich jetzt nach Hause begeben.« Schwerfällig stand er auf.

»Wir könnten doch hinübergehen und eine Weile bei ihr bleiben, damit du dich ausruhen kannst«, schlug Birgitta vor. »Soll Papa sich nicht eine Weile ins Gästezimmer legen?«, fragte sie Maggan, weil sie sich bei ihr zum Kaffeetrinken verabredet hatten, um über ihre Mutter zu sprechen.

»Das ist eine wunderbare Idee.« Maggan nickte ihrem Vater eifrig zu. »Wir gehen zu ihr, und du legst dich ein bisschen hin.«

»Danke, Mädchen.« Herman ging in den Flur. »Aber Mutter und ich haben uns fünfzig Jahre lang umeinander gekümmert, und deswegen möchte ich gerne in den wenigen Momenten, die uns noch bleiben, für sie da sein. Wenn sie erst im Heim ist …« Er beendete den Satz nicht, sondern verließ eilig das Haus, damit sie seine Tränen nicht sahen.

Britta lächelte im Schlaf. Je weniger Klarheit ihr Gehirn im Wachzustand zuließ, desto mehr hatte sie im Schlaf davon. Einige Erinnerungen waren nicht willkommen, drängten sich jedoch trotzdem auf. Wie zum Beispiel das Geräusch, das der Gürtel ihres Vaters auf nackten Kinderpopos erzeugte. Oder der Anblick des verheulten Gesichts ihrer Mutter. Die Enge in dem kleinen Haus am Hang, durch das die Kinderschreie so laut schrillten, dass sie sich immerzu die Ohren zuhalten und mitbrüllen wollte. An andere Dinge erinnerte sie sich gerne. Die Sommer, als sie von den warmen Klippen sprangen und unbekümmert spielten. Elsy in ihren geblümten Kleidern, die ihre Mutter so geschickt nähte. Erik mit der kurzen Hose und der ernsten Miene. Frans mit den blonden Locken, die sie so gerne anfassen wollte, obwohl sie alle so jung waren, dass der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen noch keine große Bedeutung hatte.

Eine Stimme durchdrang die Erinnerungen ihres Schlafes. Sie kannte sie nur allzu gut. Immer öfter hatte sie zu ihr gesprochen. Hatte keine Ruhe gegeben, ob sie nun wachte, schlief oder vom Nebel umgeben war. Sie überwand alles, wollte alles, forderte ihren Platz in ihrer Welt. Diese Stimme erlaubte ihr nicht, Frieden zu finden und zu vergessen. Dabei hatte sie geglaubt, sie würde sie nie wieder hören. Nun war sie hier. Es war so seltsam. Und so beängstigend.

Sie warf ihren Kopf auf dem Kissen hin und her. Versuchte im Schlaf, die Stimme und die störenden Erinnerungen abzuschütteln. Schließlich gelang es ihr. Schöne Bilder tauchten auf. Ihre erste Begegnung mit Herman. Der Tag, an dem sie plötzlich wusste, dass er und sie ihr Leben miteinander verbringen würden. Die Hochzeit. Sie im schönen weißen Kleid, ganz schwindlig vor Glück. Die Schmerzen und die Liebe, als Anna-Greta geboren wurde. Birgitta und Margareta, die sie genauso liebte. Herman, der trotz des lautstarken Protests ihrer Mutter die Kinder wickelte. Er hatte es aus Liebe getan. Nicht aus Pflichtgefühl oder weil es von ihm verlangt wurde. Sie lächelte. Ihre Augäpfel bewegten sich unruhig hinter den Lidern. Hier wollte sie bleiben. In diesen Erinnerungen. Wenn man sie zwang, sich eine einzige Erinnerung auszusuchen, mit der sie ihren Kopf für den Rest ihres Lebens ausfüllen konnte, dann war es Herman, der ihre jüngste Tochter in der kleinen Säuglingswanne badete. Summend stützte er ihr Köpfchen mit der Hand ab. Unendlich vorsichtig strich er mit dem Waschlappen über den zarten Körper. Sah seiner Tochter in die Augen, die jede seiner Bewegungen gespannt verfolgten. Sie sah sich selbst im Türrahmen stehen, von wo aus sie das Geschehen heimlich beobachtete. Und wenn sie alles andere vergaß, um diese Erinnerung würde sie kämpfen. Herman und Margareta, die Hand unter dem Kopf, die Zärtlichkeit und die Nähe.

Ein Laut riss sie aus ihrem Traum. Sie versuchte, wieder dorthin zu gelangen. Zurück zu dem plätschernden Wasser, mit dem Herman den Waschlappen anfeuchtete. Margaretas erfreutes Juchzen, als das warme Wasser sie umschloss. Ein Geräusch zwang sie jedoch weiter an die Oberfläche. Noch näher an den Nebel, dem sie um jeden Preis ausweichen wollte. Aufwachen bedeutete womöglich, sich der trüben Macht zu überlassen, die ihren Kopf und einen Großteil ihrer Zeit erobert hatte.

Am Ende schlug sie widerwillig die Augen auf. Eine Gestalt beugte sich über sie. Britta lächelte. Vielleicht war sie doch nicht wach. Vielleicht hielt sie den Nebel noch immer mit dem Schlaf in Schach.

»Bist du es?« Sie betrachtete die Person. Ihr Körper war kraftlos und schwer vom Schlaf, der noch nicht vollständig von ihr gewichen war, und sie konnte sich nicht bewegen. Etwa eine Minute lang sprach keiner von beiden ein Wort. Es gab nicht viel zu sagen. Dann drängte sich die Gewissheit in Brittas angegriffenes Gehirn. Erinnerungen stiegen an die Oberfläche. Gefühle, die in Vergessenheit geraten waren, aber nun überschäumend zum Leben erwachten. Sie spürte, wie die Angst sie packte, von der das allmähliche Vergessen sie befreit hatte. Nun sah sie den Tod an ihrem Bett stehen. Ihr ganzes Wesen wehrte sich dagegen, das Leben und alles, was ihr gehörte, jetzt hinter sich lassen zu müssen. Sie klammerte sich an das Bettlaken. Nur ein Gurgeln kam über ihre spröden Lippen. Entsetzen breitete sich in ihrem Körper aus. Heftig warf sie den Kopf hin und her. Verzweifelt versuchte sie, Herman im Geiste um Hilfe zu rufen. Als könnte er ihre Gedanken lesen. Sie wusste bereits, dass es vergeblich war. Der Tod war gekommen, um sie abzuholen, bald würde die Sense niedergehen, und es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Sie würde einsam in ihrem Bett sterben. Ohne Herman. Ohne die Mädchen. Ohne Abschied. In diesem Augenblick war aller Nebel verschwunden, und ihre Gedanken waren so klar wie schon lange nicht mehr. Die Angst in ihrer Brust ging wie ein wildes Tier mit ihr durch, und schließlich gelang es ihr, tief einzuatmen und zu schreien. Der Tod rührte sich nicht. Sah sie nur an und lächelte. Es war kein unfreundliches Lächeln, doch genau deshalb war es umso erschreckender.

Dann beugte sich der Tod zu ihr und nahm Hermans Kissen in die Hände. Entsetzt sah Britta, wie das Weiße näher kam. Der endgültige Nebel.

Einen Augenblick lang rebellierte ihr Körper. Der Sauerstoffmangel löste Panik aus. Der Mund wollte Luft einatmen und die Lungen damit füllen. Die Hände ließen das Laken los und fuchtelten wild umher. Sie trafen auf Widerstand. Auf Haut. Sie zerrten und kratzten, um noch ein bisschen Zeit zu erringen.

Dann wurde es schwarz.