32
1966 war ich zum
ersten Mal betrunken. Das war auf der Abschlussfahrt nach
Washington. Wir fuhren mit dem Bus, ungefähr vierzig Schüler und
drei Aufpasser (einer davon tatsächlich doch die Alte
Billardkugel), und verbrachten die erste Nacht in New York. Dort
durfte man damals ab achtzehn Jahren Alkohol kaufen und
konsumieren. Dank meiner kaputten Ohren und beschissenen Mandeln
war ich schon fast neunzehn. Alt genug also.
Die
unternehmungslustigeren unter uns Jungen fanden ein
Spirituosengeschäft um die Ecke des Hotels. Mit dem Gedanken im
Hinterkopf, dass mein Taschengeld ganz und gar kein Vermögen
darstellte, ließ ich den Blick über die Regale schweifen. Es gab zu
viel – zu viele Flaschen, zu viele Marken, zu viele Preise über
zehn Dollar. Schließlich gab ich auf und fragte den Mann hinter der
Theke (zweifellos derselbe kahlköpfige, gelangweilt aussehende Kerl
im grauen Mantel, der seit Anbeginn des Handels Alkoholneulingen
ihre erste Flasche verkauft), was am billigsten sei. Ohne ein Wort
stellte er eine Flasche Old Log Cabin Whiskey auf die Winston-Matte
neben der Kasse. Auf dem Preisschild stand $ 1,95. Der Preis war in
Ordnung.
Ich kann mich
erinnern, dass ich später am Abend (vielleicht war es auch früh am
nächsten Morgen) von Peter Higgins (dem Sohn der Alten
Billardkugel), Butch Michaud, Lenny Partridge und John Chizmar in
den Fahrstuhl geführt wurde. Diese Erinnerung ähnelt eher einer
Fernsehübertragung als einer echten Erinnerung. Ich schien neben
mir zu stehen und die ganze Sache zu beobachten. In meinem Körper
ist gerade noch so viel Verstand zurückgeblieben, um zu wissen,
dass ich stinkbesoffen, vielleicht sogar sternhagelvoll
bin.
Die Kamera zeigt,
wie wir zum Stockwerk der Mädchen hochgehen. Sie zeigt, wie ich
durch den Gang geschoben werde, als würde eine Attraktion
vorgeführt. Offenbar eine sehr unterhaltsame. Die Mädchen in
Nachthemden, Morgenmänteln und Lockenwicklern haben Creme im
Gesicht. Sie lachen mich aus, doch das Gelächter klingt gutmütig.
Die Töne sind gedämpft, so als hörte ich alles durch Watte. Ich
will Carole Lemke sagen, dass ich ihre Frisur ganz toll finde und
dass sie die schönsten blauen Augen der Welt hat. Heraus kommt
etwas wie: »Isn-wisn-blaue Augen, wisnmisn ganze Welt.« Carole
lacht und nickt, als verstünde sie mich ganz und gar. Ich bin sehr
glücklich. Für die Welt bin ich zweifellos ein Arschloch, aber
immerhin ein glückliches, das alle
lieben. Einige Minuten lang versuche ich Gloria Moore zu erklären,
dass ich das geheime Leben von Dean Martin entdeckt
habe.
Irgendwann danach
liege ich in meinem Bett. Das Bett steht still, doch das Zimmer
fängt an, sich zu drehen, immer schneller. Es kommt mir vor, als
drehte es sich wie der Plattenteller meines Webcor-Plattenspielers,
auf dem ich früher Fats Domino abspielte und jetzt Dylan und die
Dave Clark Five. Das Zimmer ist der Plattenteller, und ich bin die
Spindel in der Mitte. Gleich schleudert die Spindel den
Plattenteller von sich.
Eine Weile bin ich
nicht da. Als ich erwache, knie ich im Bad des Doppelzimmers, das
ich mit meinem Freund Louis Purington teile. Ich habe keine Ahnung,
wie ich dahin gelangt bin, aber es ist gut so, weil die Toilette
randvoll mit hellgelber Kotze ist. Sieht aus
wie Häppchen, denke ich, und das reicht schon aus, um wieder
loszulegen. Es kommen nur nach Whiskey schmeckende Spuckefäden
raus, aber mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich
explodieren. Ich kann nicht gehen. Ich krieche zurück ins Bett, das
verschwitzte Haar hängt mir in den Augen. Morgen geht’s mir besser, denke ich, dann bin ich
wieder weg.
Am nächsten Morgen
hat sich mein Magen ein wenig beruhigt, aber mein Zwerchfell
schmerzt vom Würgen, und mir brummt der Schädel, als wären
sämtliche Zähne entzündet. Meine Augen sind über Nacht zu
Vergrößerungsgläsern geworden, die das schrecklich helle
Sonnenlicht bündeln und drohen, mein Hirn in Brand zu
setzen.
Die Teilnahme am
Tagesprogramm – ein Besuch des Times Square, ein Bootsausflug zur
Freiheitsstatue, eine Fahrt auf das Empire State Building – steht
außer Frage. Gehen? Würg. Boote? Zweimal würg. Aufzüge? Würg hoch
vier. Gott, ich kann mich kaum bewegen. Ich denke mir eine schwache
Ausrede aus und verbringe fast den ganzen Tag im Bett. Am späten
Nachmittag fühle ich mich etwas besser. Ich ziehe mich an, schleppe
mich den Gang hinunter zum Lift und fahre ins Erdgeschoss. Essen
ist noch immer unmöglich, aber ich glaube, ein Ginger Ale, eine
Zigarette und eine Zeitschrift würden mir guttun. Und wer sitzt in
der Lobby in einem Sessel und liest die Zeitung? Mr. Earl Higgins,
alias Alte Billardkugel. Ich schleiche mich so leise wie möglich an
ihm vorbei, aber es nutzt nichts. Als ich vom Souvenirshop
zurückkehre, sitzt er mit der Zeitung im Schoß da und sieht mich
an. Das Herz sackt mir in die Hose. Jetzt steht neuer Ärger mit dem
Direx ins Haus, vielleicht sogar noch schlimmer als der Ärger, den
ich mir damals wegen The Village Vomit
einhandelte. Er ruft mich zu sich, und ich stelle etwas
Interessantes fest: Mr. Higgins ist eigentlich ganz in Ordnung.
Wegen der Verarschungs-Zeitung hatte er mir eine gehörige Abreibung
verpasst, aber vielleicht hatte Miss Margitan ja darauf bestanden …
und ich war ja auch erst sechzehn. Am Tag meines ersten richtigen
Katers war ich fast neunzehn. Ich war an der Universität von Maine
angenommen worden, und nach der Klassenfahrt wartete ein Job in der
Weberei auf mich.
»Ich hab gehört, du
warst zu krank, um mit den übrigen Schülern durch New York zu
fahren«, sagt die Alte Billardkugel. Er beäugt mich von oben bis
unten.
Ich bestätige ihm,
ich hätte mich nicht wohlgefühlt.
»Schade, dass du den
ganzen Spaß verpasst«, meint die Alte Billardkugel. »Geht’s dir
inzwischen besser?«
Ja. Es ging mir
besser. Wahrscheinlich so ein
24-Stunden-Magen-und-Darm-Virus.
»Dann will ich
hoffen, dass du dir diesen Virus nicht noch einmal einfängst«, sagt
er. »Wenigstens nicht auf dieser Fahrt.« Er schaut mich einen
Augenblick lang an. Seine Augen fragen, ob wir uns verstanden
haben.
»Ganz bestimmt
nicht«, antworte ich und meine es auch so. Jetzt weiß ich, wie es
ist, betrunken zu sein: ein vages Gefühl überschwänglicher
Gutmütigkeit, dazu ein deutlicheres Gefühl, ein vom Körper
losgelöstes Bewusstsein zu haben, das über einem schwebt wie eine
Kamera in einem Science-Fiction-Film und alles aufnimmt … und dann
die Übelkeit, das Erbrechen, die Kopfschmerzen. Nein, diesen Virus
wollte ich mir kein zweites Mal holen, sagte ich mir. Nicht auf
dieser Fahrt, überhaupt nie wieder. Einmal reicht, nur um
herauszufinden, wie das ist. Nur ein Idiot würde es ein zweites Mal
probieren, und höchstens ein Verrückter, ein masochistischer Verrückter würde Alkohol zu einem
Teil seines Lebens machen.
Am nächsten Tag
fahren wir nach Washington und machen eine Pause im Land der Amish.
In der Nähe des Busparkplatzes gibt es eine Spirituosenhandlung.
Ich betrete sie und sehe mich um. In Pennsylvania muss man
einundzwanzig Jahre alt sein, um trinken zu dürfen, doch in meinem
guten Anzug und »Fazzas« altem schwarzen Mantel sehe ich bestimmt
alt genug aus. Wahrscheinlich wirke ich wie ein frisch entlassener
junger Häftling: groß, hungrig und nicht ganz ordentlich
zusammengeschraubt. Der Angestellte verkauft mir ein Fünftel Four
Roses, ohne mich nach meinem Ausweis zu fragen, und als wir abends
anhalten, bin ich schon wieder betrunken.
Ungefähr zehn Jahre
später sitze ich mit Bill Thompson in einem irischen Pub. Wir haben
einiges zu feiern, darunter nichts Geringeres als die
Fertigstellung meines dritten Buches Shining (Originaltitel: The
Shining). Das ist der Roman, der zufällig von einem
alkoholkranken Schriftsteller und ehemaligen Lehrer handelt. Es ist
Juli, im Fernsehen läuft das All-Star-Baseballspiel. Wir haben vor,
eins der guten, alten Gerichte zu essen, die auf der
Warmhalteplatte stehen, und uns dann die Kante zu geben. Wir
beginnen mit einigen Drinks an der Theke, und ich lese die
Aufkleber an den Spiegeln: TRINK EINEN MANHATTAN IN MANHATTAN!,
steht auf einem. DIENSTAGS ALLES FÜR DIE HÄLFTE, steht auf einem
anderen Aufkleber. ARBEIT IST DER FLUCH DER TRINKENDEN KLASSE,
besagt ein dritter. Und genau vor mir ist einer, auf dem steht:
SPEZIELL FÜR FRÜHAUFSTEHER: SCREWDRIVERS MONTAGS BIS FREI-TAGS 8-10
UHR NUR EINEN DOLLAR!
Ich winke dem
Barkeeper. Er kommt herüber. Er ist kahl und trägt ein graues
Jackett. Er könnte der Typ sein, der mir 1966 die erste Flasche
verkaufte. Ist er wahrscheinlich auch. Ich weise auf den Aufkleber
für Frühaufsteher und frage: »Wer kommt denn morgens um Viertel
nach acht schon in die Bar und bestellt einen
Screwdriver?«
Ich lächele, aber er
erwidert mein Lächeln nicht. »Collegejungs«, antwortet er. »So wie
Sie.«