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Nur sehr langsam
rückte die Veröffentlichung von Carrie
näher. Vom Vorschuss hatten wir uns ein neues Auto gekauft, (mit
normaler Gangschaltung, die Tabby hasste und in farbenprächtigster
Fabrikarbeitersprache verunglimpfte), und ich hatte einen Vertrag
als Lehrer für das Schuljahr 1973/74 unterschrieben. Ich saß an
einem neuen Roman, einer besonderen Mischung aus Die Leute von Peyton Place (Originaltitel:
Peyton Place) und Dracula (Originaltitel: Dracula), den ich
Second Coming (erschien später unter
dem Titel Brennen muss Salem,
Originaltitel: Salem’s Lot) nannte. Wir
waren zurück nach Bangor in eine Erdgeschosswohnung gezogen, ein
richtiges Loch, aber immerhin waren wir wieder in der Stadt, fuhren
ein Auto mit gültiger Garantie und besaßen ein
Telefon.
Um ehrlich zu sein,
war Carrie völlig von meinem
Radarschirm verschwunden. Die Kinder waren anstrengend, die in der
Schule genauso wie die zu Hause, und ich machte mir allmählich
Sorgen um meine Mutter. Sie war einundsechzig, arbeitete noch immer
im Behindertenzentrum Pineland Training Center und war so lustig
wie eh und je, doch Dave erzählte mir, sie fühle sich meistens
nicht besonders gut. Auf ihrem Nachtschrank ständen Unmengen
verschreibungspflichtiger Schmerzmittel, und er befürchte, sie sei
ernsthaft krank. »Sie hat immer gequalmt wie ein Schlot, das weißt
du doch«, sagte Dave. Das musste er gerade sagen, er rauchte selbst
wie ein Schlot (ich ebenfalls – und wie meine Frau über die Kosten
und die überall herumliegende Asche schimpfte!), aber ich wusste,
was er meinte. Und obwohl ich weiter weg wohnte als Dave und sie
nicht so oft besuchte, hatte ich beim
letzten Mal bemerkt, dass sie abgenommen hatte.
»Was können wir
tun?«, fragte ich. Hinter dieser Frage verbarg sich alles, was wir
über unsere Mutter wussten, deren Grundsatz immer lautete: »Meine
Angelegenheiten gehen niemanden was an«. Das Ergebnis dieser
Einstellung war eine enorme Grauzone anstelle einer
Familiengeschichte; Dave und ich wussten so gut wie nichts über
unseren Vater und dessen Familie und auch nur wenig über die
Vergangenheit unserer Mutter, von deren Geschwistern angeblich
unglaublicherweise (für mich zumindest) acht gestorben waren. Wir
wussten nur von ihren gescheiterten Ambitionen, Konzertpianistin zu
werden (sie behauptete, Orgel in einigen Radiosoaps auf NBC und
Sonntags in der Kirche während des Krieges gespielt zu
haben).
»Wir können gar
nichts tun«, antwortete Dave, »bis sie uns fragt.«
Eines Sonntags, kurz
nach dem Gespräch mit Dave, erhielt ich einen weiteren Anruf von
Bill Thompson von Doubleday. Ich war allein zu Hause; Tabby war mit
den Kindern zu Besuch bei ihrer Mutter, und ich arbeitete an dem
neuen Buch, das ich in Gedanken Vampire in
unserer kleinen Stadt nannte (nach dem Theaterstück
Unsere kleine Stadt von Thornton
Wilder, Anm. d. Red.).
»Sitzt du gerade?«,
fragte Bill.
»Nein«, sagte ich.
Unser Telefon hing in der Küche an der Wand. Ich stand in der Tür
zwischen Küche und Wohnzimmer. »Muss ich?«
»Vielleicht besser«,
antwortete er. »Die Taschenbuchrechte für Carrie sind für vierhunderttausend Dollar an Signet
gegangen.«
Als ich noch klein
war, hatte Daddy Guy einmal zu meiner Mutter gesagt: »Ruth, warum
bringst du das Kind nicht zum Schweigen? Wenn Stephen den Mund
aufmacht, fallen alle seine Eingeweide heraus.« Es stimmte damals
und stimmt mein ganzes Leben lang, aber an jenem Muttertag im Mai
1973 war ich vollkommen sprachlos. Ich stand da in der Tür, warf
denselben Schatten wie immer, brachte jedoch kein einziges Wort
mehr heraus. Bill fragte, ob ich noch da sei, und lachte dabei. Er
wusste, dass ich noch da war.
Ich hatte mich
verhört. Musste mich verhört haben. Dieser Gedanke ließ mich
schließlich meine Stimme wiederfinden. »Hast du gesagt, für
vierzigtausend Dollar?«
»Vierhunderttausend Dollar«, sagte er. »Nach dem Gesetz
der Straße« – damit meinte er den Vertrag, den ich unterzeichnet
hatte – »gehören zweihundert Riesen davon dir. Glückwunsch,
Steve.«
Ich stand noch immer
in der Tür, blickte durch das Wohnzimmer bis zu unserem
Schlafzimmer und Joes Kinderbett. Diese Mietwohnung in der Sanford
Street kostete neunzig Dollar Miete im Monat, und dieser Mann, den
ich nur einmal persönlich getroffen hatte, sagte mir, ich hätte
gerade in der Lotterie gewonnen. Meine Knie wurden weich. Ich fiel
nicht um, sondern sackte vielmehr zusammen, bis ich auf der
Türschwelle saß.
»Bist du dir
sicher?«, fragte ich Bill.
Er bejahte. Ich bat
ihn, die Zahl noch einmal ganz langsam und deutlich zu wiederholen,
damit ich sichergehen konnte, mich nicht verhört zu haben. Er
sagte, es sei eine Vier, gefolgt von fünf Nullen. »Dann ein Komma
und noch mal zwei Nullen«, fügte er hinzu.
Wir unterhielten uns
noch eine halbe Stunde, doch ich kann mich an kein einziges Wort
mehr erinnern. Nach dem Gespräch versuchte ich, Tabby bei ihrer
Mutter zu erreichen. Ihre jüngste Schwester Marcella sagte mir, Tab
sei schon weg. Ich tigerte in Strümpfen durch die Wohnung, wollte
mit der guten Neuigkeit herausplatzen, doch niemand war da, der
mich hörte. Ich zitterte am ganzen Leibe. Schließlich zog ich mir
Schuhe an und ging in die Stadt. Der einzige offene Laden auf der
Main Street in Bangor war La Verdiere’s Drug. Plötzlich meinte ich,
Tabby zum Muttertag etwas ganz Ausgefallenes und Verrücktes kaufen
zu müssen. Ich versuchte es, aber hier ist eine der wahren
Tatsachen des Lebens: Im La Verdiere’s gab es nichts Ausgefallenes
und Verrücktes zu kaufen. Ich tat mein Bestes. Ich kaufte ihr einen
Föhn.
Als ich nach Hause
kam, war sie in der Küche, packte die Taschen mit den Kindersachen
aus und sang zu einer Musik im Radio. Ich schenkte ihr den Föhn.
Sie betrachtete ihn, als hätte sie noch nie einen gesehen. »Wofür
ist der denn?«, fragte sie.
Ich fasste sie an
den Schultern. Ich erzählte ihr vom Verkauf der Taschenbuchrechte.
Sie schien es nicht zu verstehen. Ich erzählte es noch einmal.
Tabby blickte über meine Schultern in unsere beschissene
Vierzimmerwohnung, so wie ich es auch getan hatte, und begann zu
weinen.