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Sie ist los. Sie ist los. Felice ist los ...

Der blödsinnige Refrain wiederholte sich immerzu im Unterbewußtsein Aikens, ein schriller Mißklang über dem Dröhnen der Furcht. Die schlechte Nachricht war nicht von seinem unfähigen Spion auf der Schwarzen Klippe gekommen, sondern von Elizabeth selbst, die kurz nach Sonnenaufgang mit ihm fernsprach, als seine Flotte weniger als eine Stunde von ihrem Rendezvous mit den Landtruppen aus Koneyn und den drei nordamerikanischen Operanten entfernt war:

Sie ist los, Aiken! Felice ist los! Ich habe sie entkommen lassen ... und sie hat Amerie umgebracht.

Gottverdammt!

Ameries Tod ist meine Schuld meine. Ich hätte Felice während der Redigierung auslöschen können. Sie ins Nichts sinken lassen. Ego-Zerstörung. Sie wäre ein vegetabilisches Wesen geworden Creyn&Dionket drängten mich ich hätte es tun können ja Nichthandeln bei so kompliziertem Fall wäre Nichtverletzung Ethik. Aber nein! Ich war so sicher ich könne sie retten! Und ich habe sie gesund gemacht ...

Geistig gesund = altruistisch. Richtig?

Felice bleibt völlig egozentrisch. Entschlossen genau das zu tun was ihr gefällt. Sie hat mich zum Narren gemacht.

Elizababy unschuldig.

Ich habe im Milieu mit Kindern gearbeitet! Und Felice ist Kind. Wenn sie nur bei mir geblieben wäre mir erlaubt hätte sie zu unterrichten und sie zur Reife zu führen o Aiken sie wird jetzt vielleicht nie mehr erwachsen KindElementargeist los! Sie ist los ...

Verdammt. Verdammt! (Rückgratkälte Genitalienschrumpfung Herzrasen.) WahnsinnigeMonster könnten durch eigene Wahnvorstellungen manipuliert werden. GesundesMonster größer als Ich und EngelAbgrund zusammen!!

Und sie ist los ... los. Ich weiß nicht wo kann nicht finden. Ihr mentalerSchirm perfekt. Du mußt Remillard bitten um physische Suche mit seiner verstärkten Fernsicht. Feststeht: Felice wird Ausschau halten nach Cull. Von Amerie zurückgewiesen geht sie zu anderem Liebesobjekt. Brauche dir nicht zu sagen was passiert wenn sie ihn findet. Du mußt CullGeist mit allem abschirmen was du hast.

Cull hat Arbeit für Mich zu tun.

Nein nein verstecke ihn in tieferHöhle bringe ihn so schnell wie möglich ganz aus Europa weg! Gib Vorhaben auf Felicehöhle Betiks zu überfallen. Selbstmörderisch!

Muß den Speer haben Baby. Photonenkanone verschiebt bei Metakonzert Kräfteverhältnis zu Meinen Gunsten. Und nicht nur gegen Felice ...

Aiken du darfst den Feldzug NICHT fortsetzen jetzt wo sie los ist.

Es gibt kein Zurück mehr. Aufschieben würde nichts nützen. Vielleicht gelingt uns Beute zu schnappen bevor sie merkt was los ist. Ihre Fernsicht zweitklassig.

Tu's nicht um der Liebe Gottes willen tu's nicht!

Muß. (Loslos Felice ist los! Loslos Felice ist los!) Scheiße jetzt kriege ich es nicht mehr aus dem Kopf ...

Felice fähig dich + gesamte Streitmacht zu vernichten.

Ich werde siegen! (Panik. Versuchung aufzugeben. Widerstand. Entschluß!) Loslos Felice ist los! Loslos ... STELL DIES VERDAMMTE ENDLOSBAND AB ELIZABETH!

Wenn du gehst wirst du sterben ich werde den Tod von euch allen auf dem Gewissen haben ebenso wie Ameries Tod.

Dududu! Wie unangenehm für dich. Zur Hölle mit deinem Gewissen! Hör auf, mich VOLLZUBLUTEN! Stürze dich in Wiedergutmachung oder Buße oder so etwas!

Bitte ...

HAU AB!

Als er sie mit einer neuen Breitseite von Flüchen eindeckte, verstummten Elizabeths Gedanken. Sie hatte sich in das Asyl des Raums ohne Türen zurückgezogen.

»So ist's richtig - versteck dich!« brüllte er. »Und mir überläßt du es, die Scheiße wegzuschaufeln, du unfähiger guter Engel! Nun, wenn es sein muß, werde ich es tun!«

Er sandte einen sorgfältig gebündelten Ruf nach Nordamerika. Obwohl Felice keine mentale Aura emittierte, die ein Fernwahrnehmer entdecken konnte, besaß sie doch eine physische Masse, die nicht zu tarnen war. Es war nicht sicher, ob Abaddon das Mädchen fand, wenn er das südliche Spanien mit seinen verstärkten Ultrasinnen absuchte - aber sie konnten feststellen, wo sie nicht war. Nach einer Weile erhielt Aiken die Versicherung, Felice sei zur Zeit in einem Gebiet von 80000 Quadratkilometern um den Mulhacen nicht körperlich anwesend.

Diese Information genügte Aiken. Der Überfall würde stattfinden.

Die 75 Einheiten von Aikens Flotte, die jedes seetüchtige Fahrzeug des Vielfarbenen Landes einschlossen, ankerten um 0530 Uhr dicht vor der Mündung des Rio Genil. Die mehr als 2000 Menschen der Elite-Garde, die die Expedition unterstützen sollten, beeilten sich, eine Flottille von 180 pneumatischen Booten auszupacken, aufzublasen und in das Basislager zu bringen, wo die spanischen Truppen warteten. Jedes von Solarzellen angetriebene Boot konnte 20 Tanu-Ritter mit ihren Reittieren tragen, dazu ihre Essensrationen und eine spartanische Menge an Vorräten. Ein Fahrzeug war als Laser-Reparaturwerkstatt eingerichtet, ein zweites als Reserve, um keine Zeit bei der Überholung des Speers zu vergeuden.

Kurz vor 0800, als alles bereitstand, bestieg Aiken sein schwarzes Chaliko und levitierte vor den Reihen der wartenden Krieger auf eine beherrschende Höhe. Im Gegensatz zu ihnen trug er keine Glasrüstung, sondern seinen goldenen Anzug mit den vielen Taschen, den glitzernden Jett-Umhang und den breitrandigen Hut mit den schwarzen Federn, jetzt außerdem von dem königlichen Reif umwunden. Er grüßte die Ritter und Edelleute, die Erhabenen Persönlichkeiten der Hohen Tafel und Königin Mercy-Rosmar mit dem kleinen, goldplattierten Laserstab, den als Zeichen seines Amtes zu tragen er sich angewöhnt hatte.

»Kampfgefährten! Wir sind bereit, den Horst des Ungeheuers anzugreifen. Oben auf dem Mulhacén, in Felices Höhle liegt der heilige Speer Lugonns, der mir während der Großen Flut aus den Händen gerissen wurde. Der Speer ist das höchste Symbol unseres Tanu-Erbes. Er ist außerdem eine Waffe, die unsere äußerste Verteidigung sein kann - nicht nur gegen Felice, sondern auch gegen den Firvulag-Gegner oder jeden anderen Feind, der es wagt, uns herauszufordern. Dazu enthält die Höhle einen Schatz an goldenen Halsringen. Da die Anlage zur Herstellung von Ringen bei der Überflutung Muriahs zerstört wurde, ist es lebenswichtig für uns, diesen Vorrat sicherzustellen, damit wir in den Jahren, bevor uns natürliche Operante geboren werden, imstande sind, unsere Kinder zu metapsychischer Operanz zu erheben. Der heilige Speer und die Reifen stellen die Versicherung für das Überleben unserer Tanu-Rasse dar! Das ist der wahre Grund für unseren Feldzug.

Ich will das Risiko nicht verkleinern. Wir sind alle in Lebensgefahr. Felices Geist ist mächtiger als jeder andere im Vielfarbenen Land, mächtiger sogar als jeder, der im Galaktischen Milieu sechs Millionen Jahre in der Zukunft existieren wird. Aber wir können es mit ihr aufnehmen! Wir können uns zu einem echten Metakonzert vereinigen - und unter meiner Führung die Dämonin ein für alle Mal besiegen. Glaubt es mir!

Laßt mich euch sagen, was wir tun werden! Der Genil-Fluß ist auf etwa einhundertundfünfunddreißig Kilometern schiffbar, das sind neunzig Tanu-Meilen. Wir folgen ihm zum Mulhacén, wo er entspringt. Dort gibt es Stromschnellen, aber die besten Skipper des Pliozän werden die Boote steuern, deshalb habt keine Angst. Einigen von euch Psychokinetikern ist die Aufgabe zugeteilt worden, für zusätzlichen Antrieb zu sorgen, damit wir das Ende der schiffbaren Strecke um 1400 Uhr erreichen. Dann steigen wir in den Sattel. Bis dahin haben wir den Dschungel hinter uns und sind in offener Savanne. Wir reiten auf Teufel komm raus nochmals fünfundzwanzig oder dreißig Kilometer. Etwas mehr als eine Stunde, und wir sind am Fuß des Sierra-Nevada-Massivs, wo ein dichter Wald beginnt und wir uns schon im Schatten des Mulhacen befinden.

Den ganzen Weg stromaufwärts und durch die Savanne werdet ihr eine geistige Verbindung aufrechterhalten und einen psychoenergetischen Schutzschirm bilden, der uns vor dem Ungeheuer verbirgt. Am Fuß des Berges bleibt ihr zurück. Sucht euch einen gut getarnten Ort, von dem aus das Gebiet um Felices Höhle einwandfrei zu überblicken ist! Ich allein werde hinauffliegen. Ihr erweitert den Schirm, daß er mich deckt, wenn ich den Speer und die Ringe hole. Da ich imstande bin, mehr als vierhundert Tonnen zu heben, sollte es mir keine Schwierigkeiten machen, den Berg mit der Beute zu verlassen. Doch der Rückflug stellt die gefährlichste Phase des Unternehmens dar, weil ich den Großteil meiner Geisteskraft für die Levitation brauche. Unser offensives Metakonzert werde ich weiterhin kontrollieren - aber nicht mehr zu dem Potential des Psychostrahls beitragen. Wollt ihr überhaupt für uns beten, so betet dann ...

Sobald ich sicher am Fuß des Berges gelandet bin, wird der Schatz in handliche Pakete aufgeteilt und wir kehren in größter Eile zu den Flußbooten zurück. Dort lassen wir die Reittiere frei, damit die Boote leichter werden und wir auf der Rückfahrt zum Golf eine höhere Geschwindigkeit erzielen. Außerdem fahren wir dann mit dem Strom, statt ihm entgegen. Unterwegs reparieren unsere tüchtigen Techniker unter Pete Carvalho und Yuggoth McGillicuddy den Speer. Und wieder: Laßt uns beten! Ich werde ihnen meine königliche Unterstützung leihen, falls ich nicht damit beschäftigt bin, für unser Leben zu kämpfen.

Nachdem der heilige Speer repariert ist, haben wir nichts mehr zu befürchten! Abaddon hat studiert, was Felice bei Gibraltar getan hat, und ebenso hat er das Potential des Metakonzerts analysiert, zu dem wir uns zusammenschließen werden. Felices Kreativität hat eine Stärke, die er den sechshundertsten Grad nennt. Das ist sehr viel. Aber wenn wir Felice zusätzlich zu dem psychoenergetischen Strahl des Metakonzerts mit einer Photonenkanone beschießen, erreichen wir einen Wert, der dem sechshundertdreißigsten Grad entspricht -und das Ungeheuer stirbt, zu Staub zermalmt.

Nun geht es los! Und wir werden siegen! Ihr habt das Versprechen des Leuchtenden!«

Es war ihnen vorher gesagt worden, sie dürften nicht das leiseste Wort erwidern. Trotzdem summte der Äther vor Jubel. Die pneumatischen Boote legten ab und fuhren mit mehr als 20 Stundenkilometern den Genil hinauf. Gleichzeitig begannen die 3550 Kämpfer, ihre Gehirne in dem dreizackigen Metakonzert zu verbinden, das König Aiken-Lugonn in Kürze sowohl als Waffe wie auch als Schild dienen sollte.

Die drei menschlichen Operanten aus Nordamerika fingen einer nach dem anderen an, die geistigen Kräfte zu sortieren und zu verflechten. Owen Blanchard übernahm die Koerzierer, an deren Spitze Alberonn Gedankenfresser, Artigonn von Amalizan und Condateyr von Roniah standen. Cloud Remillard koordinierte die Psychokinetiker unter Bleyn dem Champion, Neyal von Sasaran, Diarmet von Geroniah und Kuhal Erderschütterer (letzterer nahm nur pro forma teil). Die vor allem wichtige kreative Gruppe wurde von Elaby Gathen in Zusammenarbeit mit Mercy, Aluteyn Handwerksmeister, Celadeyr, Lomnovel Gehirnausbrenner und Thufan Donnerkopf geführt. Den Mitgliedern der Hohen Tafel war die Verbesserung der Substrukturen in den drei einzelnen Ketten anvertraut. Sie verbanden die schwächeren Geister zu festen Einheiten, die - dank dem von Abaddon gelieferten neuen Programm - an Macht größer sein würden als die Summe ihrer Bestandteile.

Sobald dies erste Tanu-Metakonzert sich stabilisiert und ein bestimmtes dynamisches Potential erreicht hatte, schaltete sich Marc Remillard zu, glättete die rauhen Stellen und stimmte die operanten Geister ein, die unter seiner persönlichen Kontrolle standen: die überlebenden Rebellen auf Ocala, zusammen mit ihren davongelaufenen erwachsenen Kindern. Letztere biwakierten jetzt an der marokkanischen Küste, etwa 900 Kilometer südwestlich des Mulhacen, und sie gehorchten ihm, mochte es unter ihnen noch so gären. Dieser Kombination fügte Marc seine eigene überwältigende kreative Fähigkeit hinzu, verstärkt durch mechanische Geräte. Das Ganze wurde nun in offensive und defensive Kräfte geteilt, wobei die Kreatoren mehr für den Angriff und die Koerzierer mehr für die Verteidigung, diese von Marc selbst geleitet, verantwortlich waren. Seine Fernwahrnehmung behielt durch ein virtouses Manöver, das weder Aiken noch die Tanu durchschauen konnten, ihre unabhängige überwachende Funktion. Zwar war Aiken, das handelnde Organ des vereinten Geistes, fähig, allein nach dem Feind Ausschau zu halten. Aber sollte er abgelenkt werden oder Felice einen nicht vorhersehbaren Zug tun, würde das kalte fernsehende Auge in Nordamerika wachen und Alarm geben.

Ganz zuletzt wurde der Geist Cullukets des Inquisitors zugeschaltet. Er fand seinen Platz zwischen Marc und der Ausgangsöffnung. Seine Seelensubstanz wurde ausgewalzt und zu einem Zylinder von ungeheurer lichter Weite geformt. Er war völlig passiv (aber bei vollem Bewußtsein), ein lebendes Rohr, durch das Psychoenergien nur in einer Richtung strömen konnten: nach außen. Sollte Felice versuchen, mit ihren Kräften in den Geist einzudringen oder die Leistungsabgabe abzuwürgen, um einen Rückstau zu erzielen, würde die intelligente Sicherung bersten und Culluket sterben. (Und er dachte: Das wäre am leichtesten! Aber gleichzeitig hielt ihm die quälende Stimme des Vorherwissens vor: Erst wenn du deine Schuld voll bezahlt hast.)

Als der Geist endlich fertig war, präsentierte die gesichtslose Wesenheit namens Abaddon ihn Aiken Drum.

»Du brauchst nichts weiter mehr zu tun, als deinen Geist an seinen Platz als Lenker des Strahls und ausführendes Organ einzufügen. Wenn du dich der Aufgabe ohne jeden Zweifel gewachsen fühlst ...«

Das wartende mentale Gebäude schien vor Aikens amüsiertem Auge zu schimmern. Wie herrlich! Wie stark! Wie riesig! Sicher, das Programm stammte von Abaddon, ebenso das Wissen um den Aufbau. Aber es war Aiken Drum, der den Organismus jetzt kühn übernahm und trug - er allein hatte die Kontrolle.

Der Himmel, den er durch den Verteidigungsschirm sah, war fast purpurn. Die Sonnenscheibe leuchtete zinnoberrot mit einem weißglühenden Kern. An dem ersten Boot der Flotte, in dem er saß, rasten die Wände des Dschungels vorbei, so tiefgrün, daß sie fast schon schwarz wirkten. Der Genil selbst, noch von Nebel verhüllt, war ein Band aus geschmolzenem Gold, das sich endlos entrollte.

Wenn du dich der Aufgabe ohne jeden Zweifel gewachsen fühlst ...

Und ob er das tat!

Er füllte sich mit dem gottgleichen offensiven Potential, er dehnte sich damit aus, er genoß die gefügige ungeheuerliche Energie. Er war Mercy, er war Aluteyn, er war Alberonn und Bleyn. Er war Owen Blanchard, Großmeister-Koerzierer. Er war Cloud und Elaby, unreif und jung und operant. Er war mehr als 3000 Tanu-Geister, synchronisiert in einer noch nie dagewesenen Einheit. Er war 40 schurkische Veteranen der Metapsychischen Rebellion, und er war 28 ihrer erwachsenen Nachkommen. Er war Marc Remillard, Herausforderer einer Galaxis, in eine tiefgekühlte Rüstung eingeschlossen mit elektrisch geladenen Nadeln in seinem weißglühenden Gehirn.

Er war sie alle! Und er selbst! Er war König.

Sie war sicher, so sicher gewesen, er werde in Goriah sein, doch als sie über der Glasburg kreiste und seinen Namen rief, antwortete er nicht. Auch in der Stadt und den sie umgebenden Pflanzungen und Siedlungen war er nicht zu finden. Sie würde seine Aura erkennen, ganz gleich, wo er sich versteckte. Nur war er nicht da.

Verwirrt flog der schwarze Vogel südwärts, der Atlantik-Küste bis Rocilan folgend. Culluket war jedoch weder in der Bonbonstadt noch in Sasaron am Oberlauf der Garonne, dieses mächtigen Stroms, den die Tanu Baar nannten. Felice überprüfte Amalizan, die Zitadelle, die die wichtigsten Goldminen des Vielfarbenen Landes bewachte, und bewegte dann die unermüdlichen Schwingen weiter nach Sayzorask an der unteren Rhône und Darask in den provengalischen Sümpfen.

Geliebter! Cullucet!

Wieder und wieder rief Felice, aber anscheinend war der Geliebte in keiner der französischen Städte. Seine Aura, so eisig und hart, von der Farbe gefrorenen Blutes, mußte ihr unbedingt auffallen, jetzt, wo die Redigierung eine Schärfung ihrer Fernsinne bewirkt hatte. Wenn sie auf ein Dutzend Kilometer an den Inquisitor herankam, würde sie ihn erkennen.

In einem grünen Parkland westlich des großen Sees ruhte sie sich aus und brach ihr langes Fasten. Sie schlug eine neugeborene Antilope und verzehrte die Zunge. Erfrischt schwang sie sich wieder in die Luft und rief in übermütigem Spott nach Elizabeth, als sie die Schwarze Klippe überflog. Sie erwartete keine Antwort und erhielt auch keine.

Elizabeth wird mir eines Tages von neuem nützlich sein, dachte der Rabe. Aber um Cull zu finden, brauche ich ihre Hilfe wirklich nicht. Es wird mir mehr Spaß machen, ihn allein zu suchen!

Mit Sturmesgeschwindigkeit flog Felice südwärts, überquerte die blühenden Dschungel der Corbiere-Berge und einen Paß der östlichen Pyrenäen. Der Geliebte war nicht in Geroniah, auch nicht in Tarasiah. Also bog sie landeinwärts ab und erreichte bald jenseits der katalanischen Wildnis das obere Ende der großen iberischen Schlucht, wo Aluteyn Handwerksmeisters einsame Zitadelle Calamosk sich hoch über dem rauschenden Strom erhob. Culluket war nicht da. Tatsächlich war die Stadt beinahe verlassen.

Felice überlegte. Waren die anderen Orte, die sie besucht hatte, nicht auch merkwürdig leer von Lebens-Auren gewesen - besonders von Tanu -Leben? Wohin waren all die Fremden gegangen?

Die endlosen Ebenen des Südens verwandelten sich jetzt, zwei Monate nach Ende der Regenzeit, von Smaragdgrün in Zitronengelb. Nur die Senken und die Arroyos blieben frisch, und die Ufer großer Flüsse wie des Proto-Jucar, der durch Afaliah floß.

Culluket! Culluket!

Wieder war der Geliebte nicht da, und auch der Stadt-Lord Celadeyr und sein Kader von Kampfgefährten fehlten. Es wurde immer geheimnisvoller. Vielleicht war Aiken Drum auf einen Feldzug gegen die räubernden Firvulag der westlichen Alpen gegangen. Felice hatte die Städte an der oberen Rhône nicht durchsucht, sondern war von den Verborgenen Quellen gleich nach Goriah geflogen, weil sie annahm, dort habe sich ihre Beute unter dem Schutz Aiken Drums verkrochen. Aber wenn sich der König auf irgendeiner Strafexpedition befand ...

Es war schwer, sich zu entscheiden. Wollte sie ihre Suche methodisch fortsetzen, müßte sie eigentlich das Mittelmeer überqueren und die Jagd in dem düsteren Var-Mesk wiederaufnehmen, dann nach Bardelask und Roniah fliegen. Aber es ging schon auf den Abend zu, und das anfängliche Tempo hatte an ihrer Kraft gezehrt.

Sie dachte: Ich will nach Hause auf den Mulhacen fliegen und morgen von neuem anfangen.

Ihre Stimmung hob sich mit ihrem Rabenkörper, als sie sich von einem Aufwind emportragen ließ und dann in südwestlicher Richtung zu den Betischen Kordilleren davonschoß. Nach Hause zu ihrem Berg, ihrem Schatz, ihren lieben Tiergefährten.

Sie dachte: Ich könnte ihn dort drinnen halten, in goldenen Ketten. Eingeschlossen in Gold. Durchdrungen von Gold! Ja! Durch alle Muskeln ein kostbares Netzwerk aus leitendem Metall, und goldene externe Anschlüsse für jeden wichtigeren Nervenknoten. Das Gehirn selbst würde eine ganz besondere Anleitung brauchen, bei deren Bau er ihr helfen mußte. Welch köstliche Aussicht! Wenn er so ausgerüstet war, konnte sie auf ihm spielen wie auf einem herrlichen algetischen Instrument. Sie würde erst sein kaltes Blut mit einfachen Capriccios und Interventionen aufwärmen, dann zu gewaltigen Panharmonien, Dithyramben der Lust und der Qual übergehen.

Oh, Geliebter! Früher war es meine Freude, zu empfangen, und das war krank und wahnsinnig, nicht wahr? Doch jetzt bin ich gesund und bereit für die Freude des Gebens und der Kontemplation, die alle gesunden Geister schätzen - sogar solche, die ihr dunkles Rätsel gern mit Entrüstung und Abscheu zurückweisen möchten. Aber wir wissen es, nicht wahr, Geliebte, daß der Anblick des leidenden anderen nur unsere eigene Macht und Schmerzfreiheit bestätigt, unser Selbstwertgefühl besiegelt. Wir triumphieren, da wir verschont sind. Uns befriedigt der bezahlte, aber nicht von uns bezahlte Preis.

(Und hat sie nicht für mich gelitten, ist sie nicht für mich gestorben, Crucifixa etiam pro nobis, wie ihr törichter Gott für sie gestorben ist?)

Auch du wirst in Glorie leiden, Geliebter, aber nicht sterben. Ich liebe dich zu sehr, um dich jemals sterben zu lassen.

Aiken kam zu Felices Höhle als frischgeschlüpfte Spinne an einem Spinnwebfaden, eine von Hunderten, die die nachmittäglichen Thermalwinde die Nordflanke des Berges hinaufbliesen. Als sein glitzernder Faden sich in einer Tanne verfing, kletterte er auf einen Ast hinunter, ruhte sich dort aus und dachte aus Vorsicht nur Spinnengedanken für den Fall, daß Abaddon bei seiner früheren Suche das Ungeheuer doch übersehen hatte. Die kürzestmögliche ungebündelte Fernsicht benutzend, betrachtete das Spinnlein den Umkreis der Höhle. Felice versteckte sich weder zwischen den grüngerahmten Felsblöcken noch unten in der Schlucht oder irgendwo auf den oberen Hängen, wo die alpinen Blumen in rosa und weißen Büscheln wuchsen. Seine Tiefenvision, mit größerer Kraft eingesetzt, zeigte ihm, daß sie nicht innerhalb des Mulhacen verborgen war - zumindest nicht im Umkreis von rund einem Kilometer um die Höhle.

Die kleine Spinne stieg vom Baum hinab und verwandelte sich in einen Mann mit einem goldenen Anzug. Er senkte den metapsychischen Schild, bis dieser sich dicht um den Höhleneingang legte. Dann entnahm er der großen Tasche auf seinem Rücken ein Titiridion-Netz und breitete es auf dem Boden aus. Mit leuchtendem Gesicht betrat er die Höhle und drang in den Innenraum vor. Die schützende Felstafel schob er beiseite, als sei sie ein papierener Schirm.

Der von ihm ausgehende Glanz beleuchtete einen Haufen goldener Halsringe, höher als sein Kopf. Wie viele hatte der wahnsinnige Raubvogel gestohlen? Es schienen Tausende zu sein, jedes Halsband eine hohle Schale, gefüllt mit Komponenten aus Gomnols zerstörter Fabrik in Muriah. Jede Tanu-Stadt besaß noch kleine Vorräte der psychischen Verstärker, aber keiner konnte mit diesem Schatz Felices verglichen werden.

Aiken ließ die Halsringe aus der Höhle und auf das Netz fliegen, und dabei deckte er den Speer Lugonns und seinen Energiepack auf.

»Endlich!« murmelte er und ergriff die Waffe. Zuletzt hatte er sie getragen, als er im Duell der Schlachtenmeister gegen Nodonn kämpfte. Alle Ringe waren aus der inneren Kammer entfernt. Aiken verließ die Höhle wieder, den Speer über der Schulter, stellte sich vor die hochaufgehäuften Ringe und sah’ sie sich an.

Dann bewegte er die Hand, und das Netz schloß sich als Börse um das Gold. Er brauchte nur noch zu der wartenden Armee zurückzukehren, die Beute aufzuteilen und zu fliehen. Felice kam vielleicht nie dahinter, wer sie beraubt hatte ...

Aber dabei konnte er es nicht bewenden lassen.

Er sprang in die Luft, hob das riesige Bündel hoch und trug es entlang dem Grat, der den Mulhacén mit seinem Schwestergipfel Alcazaba verband, ein paar Kilometer weiter nach Norden. Er setzte die Ringe und den Speer dort ab, flog in der Blase defensiver Energie, die Abaddon aufrechterhielt, zurück und blieb schwebend in der Nachbarschaft der Höhle. Er sagte:

Löse den Schirm auf! Schalte den offensiven Modus um! Ich muß meine königliche Visitenkarte zurücklassen!

Die Sonne wurde heller für ihn, und die Luft erhielt ihren Glanz wieder. Sein Geist schien zu schwellen, wurde allmächtig, als die gesamte offensive Summe des Metakonzerts in sein kreatives Reservoir floß und ausgerichtet wurde. (Drossele die Energie, erhabenes Jungchen! Es hat keinen Sinn, den ganzen verdammten Berg einzuebnen, weißt du. Könnte ihre Aufmerksamkeit erregen, wo sie auch sein mag. Und das Energieniveau ist wirklich etwas gefährlich, wenn jemand zum ersten Mal damit umgeht. Deshalb steck ein bißchen zurück! Gib ihr den Finger, den heraldischen digitus impudicus, und dann feuere!)

Feuer!

Der psychische Bolzen flog, Donner rollte, und er lachte wie Jupiter. Ein großes Stück des Berges brach ab, zersplitterte und polterte hinunter in den geheimen Spalt, wo das Rabenmädchen gewohnt hatte. Der Großteil der Schallwellen wurde durch die Art des Terrains himmelwärts geleitet. Es gab ein bißchen Staub, keinen Rauch. Doch Felices Höhle war nicht mehr.

Aiken wankte in der Luft, verbrannt von dem Strahl, der seinen Körper passiert hatte. Schmerz schüttelte ihn. Abaddon sollte den Schild wiederherstellen! Er versuchte, sich zusammenzunehmen. Trotz der Drosselung hatte die Energie des Metakonzerts sein Gehirnplasma fast vaporisiert.

Marc Marc was tun das ist verkehrt Gott helfe mir!

Dummer Amateur! Du hast die falschen Kanäle (Bild) benutzt harmlos bei niedrigem Niveau lebensgefährlich bei hohem. Sogar Felice war klug genug, diesen kümmerlichen kreativenModus nicht anzuwenden ...

Jajaja. Nur bring es in Ordnung. Schmerz.

Überladung tötet dich ebenso wie Feedback oder Schuß alle Systeme! Ich habe dir zuviel zugetraut.

Um Gotteswillen hör auf Schulmeister zu spielen setz deinen eigenen verdammten Kindern die Narrenkappe auf zeig mir SOFORT wie Energie kanalisiert wird!

(Bild statt Erklärung.) Hast du es mitbekommen, Königliche Hoheit?

Uh. Wiederhole!

König Aiken-Lugonn nimm deine Beute und kehre zu den anderen zurück. Ich werde die Lektion beenden, während du unterwegs bist. Und ich hoffe zur Hölle, daß du schnell lernst!

Die regenbogenfarbenen Ritter rasten auf ihren Reittieren über die orangenfarbene Savanne. Die großen Klauen der Chalikos zerschlitzten die trockene Grasnarbe, entwurzelten Butterblumen und purpurne Skabiosen und blauen Augentrost. Der Lärm der Tanu-Armee verscheuchte Gazellen- und Hipparionherden. Säbelzahnkatzen fuhren aus ihrem Schlummer auf und brüllten erschrocken, und große Trappen verließen auf niedrigen Flugbahnen ihre bloßgelegten Nester zwischen den Büscheln. Die Sonne stand niedrig im Westen, und die Luft war kochend heiß. Staubfahnen erhoben sich auf der Spur des Rückzugs und schwankten wie hohe lohfarbene Gespenster über dem matten Schimmer des Schutzschirms.

Die Reiter lenkten ihre Tiere nicht. Ihre Gedanken waren völlig darauf konzentriert, die jeweilige Aufgabe in dem Metakonzert zu erfüllen, und obwohl ihre Augen sahen und ihre Ohren hörten und sie sich der Hitze und des Staubgeruchs und der zerfetzten Pflanzen bewußt waren, hatten sie keinen Willen, kein Bewußtsein einer unabhängigen Existenz. Jedes Gehirn funktionierte als eine Zelle des organischen Geistes, strahlte Psychoenergie zur Aufrechterhaltung des großen Schildes aus, hielt weitere Energie bereit für den offensiven Ausstoß, zu dem sie jeden Augenblick aufgerufen werden konnten.

König Aiken-Lugonn galoppierte an der Spitze der Horde, führte seine Leute zu der schiffbaren Strecke des Rio Genil zurück. Hinter seinem Sattel und hinter dem jedes anderen Reiters lag ein Sack voller goldener Reifen, die bei jedem Schritt der Chalikos klingelten. In den Armen hielt Aiken eine goldene Glaslanze. Von ihrem Schaft führte ein Kabel zu einem Energie-Modul, das an einem starken Brustharnisch hing. Der Anzeige auf dem Modul nach war die Ladung gleich Null, und die fünf farbigen Knöpfe auf dem Schaft waren ebenso wie die nadeldünne Öffnung von Salz verkrustet. Im Augenblick war der Speer Lugonns tot, nicht zu gebrauchen. Aber auf dem Fluß hielten sich Techniker mit Werkzeugen bereit, ihn zum Leben zu erwecken, und die kleine Gestalt des Königs glühte in der freudigen Erwartung, daß er die Waffe wieder benutzen würde. Diese Waffe war dazu bestimmt, Felice zu besiegen, dann die Firvulag zur Vernunft zu bringen. Und am Ende würde sie die Arbeit vollenden, die die Flut unterbrochen hatte: Sie würde Nodonn töten.

Immer noch in ihrer Raben-Verkleidung, den Geist vollkommen abgeschirmt, erreichte Felice schließlich den Mulhacén. Ungläubig betrachtete sie aus der Luft den ungeheuren Bergrutsch, die glitzernden Blöcke aus Glimmerschiefer, größer als Häuser, die vom Gesicht des Berges abgehauen und in ihre Wohnung geworfen worden waren. Alles war fort, die Bäume, die blühenden Büsche, der Wasserfall mit dem farngesäumten Teich zum Baden, die Feuergrube und die phantastisch gestalteten rustikalen Möbel auf der Terrasse, die moosigen Steine, wo die Felsdrosseln gesessen und ihr in der Abendstille vorgesungen hatten. Fort. Der kleine Arm des Flusses, in dem die fette Forelle schwamm, war unter Tonnen von Geröll begraben, ebenso der Wildpfad, der die Tierfreunde vor ihre Tür gebracht hatte. Das einzige Lebewesen, das übrig war, sie zu begrüßen, war Pseudaelurus, der Luchs. Der saß auf dem flachen Gipfel einer isolierten Klippe und badete sich in den letzten ersterbenden Sonnenstrahlen.

Das Rabenmädchen spiralte schreiend nach unten. Anfangs hielt sie es für eine Naturkatastrophe, doch dann sah sie einen staubigen goldenen Reif halb vom Schutt begraben, und es fiel ihr ein, das verbarrikadierte Innere ihrer Schatzkammer mit ihrem mächtigen tiefsehenden Auge zu erforschen. Da entdeckte sie, daß die Kammer geleert worden war.

»Culluket!« kreischte sie. Der Ruf hallte in der schwindelerregenden Schlucht wider, die der junge Genil eingesägt hatte. Der Luchs duckte sich, die Ohren zurückgelegt. »Culluket - du und Aiken Drum!« Der Luchs verschwand im steinigen Chaos. Der dunkel gefiederte Vogel ließ sich auf der leeren Klippe nieder und verwandelte sich.

Ein phantastisches Wesen stand auf dem Fels, gekleidet in glänzendes schwarzes Leder, die Hopliten-Rüstung aus Felices altem Beruf, entsprechend ihren Phantasien verändert. Jetzt waren die Kanten des Harnischs schärfer, die Umrisse grausamer. Die alten offenen Beinschienen und kurzen Handschuhe waren gewachsen, umschlossen alles Fleisch der Beine und Arme und waren mit gekrümmten Sporen und klauenartigen Auswüchsen besetzt. Der Helm hatte den Schnabel eines Raubvogels bekommen; ein nach hinten stehender Scheitelkamm hielt ihn im Gleichgewicht. Aus der T-förmigen Öffnung leuchteten zwei Lichtstrahlen, weiß wie Magnesiumfackeln. Das Wesen wandte den Kopf und suchte die Steppe nördlich des Berges ab, und die Augenstrahlen bohrten sich durch einen dazwischenliegenden Berggrat wie Laser durch einen Käsekeil. Felice betrachtete das Tal des unteren Genil durch rauchende Gucklöcher, lokalisierte endlich ihre Beute und raste ihr nach wie ein rächender Komet.

Die Boote schossen den Fluß hinunter. Aiken, der im ersten Reparatur-Fahrzeug saß, leitete mittels seiner Tiefenvision die Techniker an, den Schaft des Speers zu öffnen. Plötzlich kam Marcs Warnung:

Felice ist unterwegs.

»Macht den Speer fertig, um Gottes willen!« schrie Aiken den erschrockenen Technikern Carvalho und McGillicuddy zu. Dann levitierte er in einer zischenden Ozonwolke in das Boot an der Spitze des Zuges.

»Hab sie entdeckt!« rief er. Diesmal fokussierte er den Strahl fast ohne Zeitverlust. Er saugte die Energie an, und sie floß in ihn hinein. Er atmete aus, und der fürchterliche flammende Strahl fuhr brüllend auf den schattigen Fleck zu, der die Flottille verfolgte, dorniges Schwarz vor einem türkisfarbenen Abendhimmel.

Die Feuerkugel blähte sich auf, vernichtete fast 50 Quadratkilometer Dschungel unter ihr. Aiken entsetzte sich darüber, wie die monströse Energieflut losbrauste. Jedes Neuron in seinem Körper hatte sich in einen Lavabach verwandelt. Sein Gehirn kochte nicht nur, es pulsierte wie ein veränderlicher Stern, und jede Spitze brachte ihn an den Rand der Auflösung. Ein quietschender Klumpen Feigheit in seinem Innern sagte: Marc hatte recht! Du hast dich überladen - und nun bist du tot, Blödmann!

Aber der fast tödliche Schwindel ließ nach, und überrascht stellte Aiken fest, daß er immer noch im Bohrloch des organischen Geistes fest verankert war, und Abaddon bemerkte nicht verächtlich oder anklagend, sondern mit olympischer Anerkennung:

Ausgezeichnet - für ein bloßes Gehirn. Ich glaube, du hast sie erwischt.

»Wirklich?«

Ich finde nichts bei einer Masse-Energie-Abtastung des Hypozentrums.

»Jesus, hoffentlich hast du recht. Dieser Schuß hat mich fast ...«

GOTT NEIN SIE IST D-GESPRUNGEN! ... (unverständliches Bild) ... ÜBER DIR AIKEN SCHIESS NOCH EINMAL TRIFF SIEH

Abaddons Warnung krachte in Aikens schmerzendes Gehirn. Er sah Felice von neuem, vergrößert durch einen unheimlichen Atmosphärischen Effekt, und sie schwebte genau über ihm, scheinbar mehrere hundert Meter groß. Ihre Gestalt, jetzt die einer Menschenfrau, war in weißes Feuer gehüllt, das wie flüssige Seide wogte. Ihr monströses Gesicht war halbdurchsichtig. Ihr Geist war ebenso schwarz und flammend wie ihre Au-

Grafik10

 

gen. Aiken spürte, daß der Schutzschirm über der Flottille zu zerbröckeln begann. Im koerziblen Segment ging etwas schief. Eine lebenswichtige Komponente hatte versagt, und das Gebäude brach zusammen ...

Der Schirm wurde wieder fest. Marc hatte ihm ein geheimes Mittel injiziert und dabei seinen Mann Owen Blanchard umgangen, der nun tot war. Instinktiv erkannte Aiken, daß dieser improvisierte Stützmechanismus nur für die eine Nanosekunde halten würde, die er, der Vollstrecker, brauchte, um in den offensiven Modus zurückzuschalten. Er mußte auf Felice noch einmal mit der vollen Ladung des Metakonzerts schießen, und wenn es ihn umbrachte.

Es blieb nicht einmal Zeit zum Fokussieren. Er verlangte und erhielt das seelenzerreißende Volumen an Energie und schleuderte es aus kürzester Entfernung auf das Ungeheuer.

Ein unmenschlicher Schrei erschütterte das Firmament. Zwei im Widerstreit stehende psychische Entladungen stießen zusammen, explodierten, implodierten, hoben sich gegenseitig auf. Eine sich langsam ausbreitende psychokreative Detonation, die überwältigendes Licht ohne Geräusch oder Wärme war. Dahinter und daneben eine Struktur aus Tausenden von Vielfarbenen Funken, von denen einige jetzt aufflammten und erstarben. Ein feiner gewellter Riß im tiefsten Karmin zog sich über die halbe Welt. (Zwischen meinem Schmerz und seinem?) Schmerzbrücke, wissend und teilend, drohte schwarz zu werden, wurde gerettet, regeneriert, neu vereinigt zu tödlich weißer Flamme. Kerze brannte in Rubinglas, schrumpfte. Leises Gelächter. Hinschwindendes Geheul stürzte nieder in Verzweiflung.

»Abaddon?«

Ich höre ... König Aiken-Lugonn.

»Habe ich sie getroffen?«

Sie ist weg. Keine Bedrohung mehr ... für dich nicht und für mich nicht. Zusammenarbeit beendet, bis du an der Reihe bist, deinen Teil des Abkommens zu erfüllen. Solange keine Kommunikation. Lebwohl.

»Marc ... überladen. Sterben? Marc?«

»Marc ANTWORTE MIR!«

Erstaunlich, dachte er. Es war eine tödliche Überladung, und ich sollte tot sein, aber anscheinend bin ich es nicht! Mein Verstand ist ein schwaches Gewebe aus verkohlten Fäden, das tapfer im Vakuum glüht. Laßt mich heraus aus meinem Krug, und ich werde zu Asche zerfallen ...

»Unsinn, Aiken. Halt dich nur an mir fest! Ich bin beinahe fertig damit, dich wieder zusammenzukleben. Du bist ein zäher schottischer Junge und viel zu böse, um jung zu sterben.«

Elizabeth?

»Sei ruhig!«

Ich dachte, du könntest nicht auf weite Entfernung redigieren?

»Kann ich auch nicht. Ich bin hier. Hör auf zu kommunizieren, verdammt noch mal. Das ist eine sehr schwere Arbeit, und ich sitze fast eine Woche daran und bin müde.«

Eine Woche ...!

Er trieb davon. Rings um ihn wisperten Gedanken. Hunderte - Teufel, Tausende! Tanu. Goldtragende menschliche Operante. Seine Leute!

Elizabeth? Mein Metakonzert ist zerbrochen, nicht wahr?

»Es hat lange genug gehalten. Ruhig! Ah. Da und da. Und da!«

Lichter! Aktionen!

Er sah, fühlte, hörte, roch, schmeckte. Er saß auf einem gepolsterten Tisch, und das Laken rutschte von seinem splitternackten Körper. Er war ganz. Der Tisch stand in der Mitte einer kleinen Dekamol-Unterkunft,

die an allen vier Seiten der Lüftung wegen Maschendraht hatte. Draußen waren ein typischer spanischer Dschungel und die übliche Kakophonie aus Stimmen von Säugetieren, Vögeln, Amphibien und Insekten. Drinnen waren Elizabeth und Creyn und Dionket, beide in informellen Redakteursroben, und ein ledergesichtiger Tanu mit kurzem blondem Bart, einem Prinz-Eisenherz-Haarschnitt und Augen in kompromißlosem Koerzierer-Blau. Diese Persönlichkeit hielt ihm eine goldene Jockey-Unterhose hin.

»Gestatte mir ...«

Der schwache, desorientierte König ließ es zu, daß er in seinen Anzug mit den vielen Taschen gekleidet wurde. Alles andere hätte er lieber getragen. Er fragte: »Also ist Felice tot?«

»Ihr Körper fiel wie ein flammender Meteor in den Genil«, antwortete Dionket, und sein Geist projizierte das Bild. »Es gab eine merkwürdige sekundäre psychokreative Erschütterung, die eine zweihundert Meter hohe Klippe auf sie stürzen ließ. Einige deiner Leute wurden von dem Steinschlag getötet.«

»Ich - habe Leute sterben gefühlt.« Aiken starrte mit leeren Augen auf den Dschungel draußen. »Wer?«

Elizabeths redigierende Kraft hielt ihn. »Sechsundneunzig werden vermißt. Aluteyn Handwerksmeister. Artigonn von Amalizan. Der menschliche Operante Elaby Gathen. Culluket der Inquisitor. Und Mercy.«

»Mercy tot?« Er sah von Gesicht zu Gesicht. »Das glaube ich nicht!«

»Ihre Leiche ist nicht gefunden worden«, räumte Elizabeth ein, »aber der Steinschlag und die Springflut des Flußwassers waren fürchterlich. Der ganze Lauf des Genil wurde verändert. Man hat die Überreste des Handwerksmeisters und Elaby Gathens wie auch die Leichen einiger geringerer Adliger gefunden. Du weißt vielleicht schon, daß Owen Blanchard, der ältere Operante, an einem Gehirnschlag gestorben ist.«

»Und er hätte uns alle beinahe mitgenommen!« rief Aiken bitter aus. »Ich spürte ihn gerade in dem Augenblick zusammenbrechen, als Felice ihren Angriff begann. Wenn Marc nicht gewesen wäre ...« Er taumelte, ließ sich auf die Tischkante fallen und saß da, den Kopf in die Hände gestützt. »Was er geleistet hat! Gott, wenn ihr es nur wüßtet!« Er blickte auf, und in seinen Augen stand ein seltsames Licht. Seine verspannten Lippen verzogen sich zum Lächeln. »Es war eine Lehre. Eine schmerzliche.«

»Du wirst etwa einen Monat lang den größten Kater der westlichen Welt haben«, bemerkte Elizabeth. »Mach langsam! Laß deinen Geist voll ausheilen!«

Er nickte ungeduldig. »Wo, zum Teufel, sind wir?«

»Im Basislager an der Mündung des Genil. Deine Leute haben darauf gewartet, daß du das Bewußtsein zurückerlangst. Nur ganz wenige von ihnen sind schwer verletzt, abgesehen von denen, die der Bergrutsch voll erwischt hat, und einigen anderen, deren Gehirn ausbrannte, als der Schirm schwankte. Die Verwundeten erholen sich in Afaliah in der Haut.«

Aiken sah Elizabeth verlegen an. »Danke, daß du gekommen bist, Elizabeth. Ich meine - ich bin damals ziemlich grob gewesen, Baby. Entschuldige.«

»Ach, zum Teufel.« Sie lächelte.

Aiken wandte sich an den stämmigen bärtigen Tanu, dessen mentale Unterschrift so bekannt war wie das Dreizack-Abzeichen auf seiner azurblauen Tunika. »Ich nehme an, du hast die medizinische Abteilung von der Schwarzen Klippe eingeflogen.«

Die Andeutung eines Nickens.

»Vielen Dank, Minanonn. Ich wünschte, du würdest es in Betracht ziehen, dich uns anzuschließen. Es ist ein neues Regime im Vielfarbenen Land. Vieles ändert sich. Du könntest helfen.«

Der häretische Ex-Schlachtenmeister gestattete sich ein wintriges Lächeln. »Ich werde dich von den Pyrenäen aus beobachten. Besuche mich einmal! Ohne deine Armee.«

»Wird gemacht.« Aiken dankte Creyn und Dionket, setzte seinen Federhut sehr vorsichtig auf den hämmernden Kopf und zögerte, denn ein letzter wichtiger Punkt fiel ihm ein.

»Ihr wißt wohl nicht, was aus meinem Speer geworden ist?«

Elizabeth seufzte. »Er ist sicher auf deinem Flaggschiff, bei Tag und Nacht von Bleyn und Alberonn bewacht. Und er ist repariert worden.«

»Kaleidoskopisch!« Der König strahlte sie alle an. »In einer Weise bin ich froh, daß ich nicht dazu gekommen bin, ihn gegen Felice zu benutzen. Er ist eine heilige Waffe, wißt ihr. Zu gut für jemanden wie sie. Ich bin froh, daß wir sie mit Geisteskraft erledigt haben. Ein Jammer ist es um den alten Cull - aber auch das ist wahrscheinlich am besten so.«

Er winkte ihnen munter zu und ging ein bißchen unsicher zur Tür hinaus. Da und dort erklangen Jubelrufe, die anwuchsen, bis sie die Dschungelgeräusche übertönten. Und dann wurden Stimmen und Gedanken von dem Lied abgelöst. Es erschallte vom Lager bis zu den draußen im Golf von Guadalquivir ankernden Booten.

Der Rio Genil floß den Mulhacen hinab und machte einen weiten Bogen. Sein neues Bett wand sich um ein hoch mit Steingeröll bedecktes Gebiet. Die Leichen waren von dem Bergrutsch gut begraben worden, sicher vor umherstreifenden Schakalen und anderen Raubtieren.

Tief unter dem Hügel brannte ein weißes Flämmchen innerhalb eines Rubins und wartete in seinem dunklen Gefängnis auf neuen Brennstoff.


ENDE DES DRITTEN TEILS