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Cloud legte den Blumenstrauß auf den Erdhügel. Mit trockenen Augen stand sie da, sah all die kleinen Einzelheiten der Orchideen mit ihrer Tiefensicht, während sie gleichzeitig das größere Bild des Grabes selbst ausschloß. Die ungeheure Blütenfülle enthielt fünfundzwanzig oder dreißig Varietäten. Sie hatte sie in weniger als fünf Minuten gepflückt, ohne sich außer Sicht ihres Ankerplatzes im Rio Genil zu entfernen.
»Die Tanu nennen Spanien >Koneyn<«, sagte sie zusammenhanglos. »Das bedeutet >Blumenland<. Ich habe einen Geist einem anderen erzählen hören, daß es in keinem Gebiet Europas so viele verschiedene Arten gibt. Die blauen Orchideen gefallen mir am besten. Und die hellgrünen mit den samtschwarzen Rändern. Orchideen in Trauerkleidung. Arme Jill.«
»Wir haben unser Bestes getan. Steinbrenner hat uns gewarnt, es bestehe die Gefahr einer Meningitis.« Elaby konzentrierte sich auf die flache Steinplatte, die er gegen die Wurzeln einer großen Platane gelehnt hatte. Teile des Steins glühten schwach in der Mittagssonne, als er seine kreative Metafähigkeit einsetzte. Der stechende Geruch nach geschmolzenem Mineral überdeckte den zarten Duft der Orchideen, verflüchtigte sich dann mit der leichten Brise, die flußabwärts wehte. Befriedigt hob Elaby die Tafel mit seiner PK und setzte sie in die wartende Mulde auf der Spitze des Hügels.
JILLIAN MIRIAM MORGENTHALER
20. SEPTENBER P3 - 2. JUNI P27
»WO LIEGT DES SCHIFFES ZIEL,
DAS FERNE LAND?
WEIT, WEIT VORAUS,
MEHR IST UNS NICHT BEKANNT.«
»Wird die Tafel sechs Millionen Jahre überdauern?« fragte Cloud.
»Wir sind immer noch im Guadalquivir-Becken. Dieser Ort wird im Schlick begraben sein. Wer kann es sagen?«
Cloud wandte dem Grab den Rücken und ging lustlos zu dem auf den Strand gezogenen Dingi. »Im letzten Winter, als wir ganz damit beschäftigt waren, dies zu planen, fragte ich Alexis Manion, ob im pliozänischen Felsgestein je eine Spur von der Exil-Bevölkerung gefunden worden sei. Er sagte nein. Es ist schwer zu glauben, daß nichts überlebt hat.«
Sie kletterte in das kleine Boot. Elaby kam und schob es in das langsam fließende Wasser hinaus, das so braun war wie starker Tee. Der Fluß war mit den flachen Booten, die Aiken Drum mitbringen wollte, bis auf 50 Kilometer vor dem Mulhacen schiffbar.
Elaby meinte: »Wenn je ein Paläontologe das fossilierte Skelett eines Homo sapiens in einer pliozänischen Formation gefunden hätte, würde er den Mund darüber halten, um nicht aus seinem Knochenausgräber-Klub hinausgeworfen zu werden. Was ein fossiliertes Küstenschiff von den Bermudas betrifft ...«
»Dr. Manion sagt, nichts, was wir hier in dieser alten Welt tun, kann die Zukunft beeinflussen. Die Zukunft-sei bereits.«
»Ein tröstlicher Gedanke. Erinnere mich daran, wenn wir im Metakonzert mit Aiken Drum und seiner Horde die Spitze des Mulhacen wegpusten müssen.«
Das Schlauchboot erreichte die Strickleiter. Cloud machte die Fangleine fest und stieg hinauf. »Owen schläft noch«, bemerkte sie, nachdem sie kurz unter Deck sondiert hatte.
»Gut. Er hat sich völlig verausgabt, als er zusammen mit dir an Jill arbeitete. Dem Himmel sei Dank, daß er nicht darauf bestanden hat, für die Beerdigung mit an Land zu gehen.« Er kramte in dem tragbaren Kühlschrank und entnahm ihm einen Flakon mit Kokosnuß-Punsch und zwei Gamma-Hühnersalat-Sandwiches von ihrem dahinschwindenden Vorrat aus Ocala. »Der Beerdigungsschmaus. Entspann dich, Baby! Gönn dir eine Pause, bevor der Elfenkönig erscheint.«
Sie saßen auf Faltstühlen im Cockpit, vor der Sonne durch eine Plane geschützt, die zwischen Großmast und Pardune gespannt war. Cloud aß ihr Sandwich mit Begeisterung. »Zivilisiertes Essen! Gott, wie satt habe ich Fisch und gebratenes Wassergeflügel und diese faden Palmfrüchte! In Florida ist jetzt Frühstückszeit - stell dir das mal vor! Rührei mit Speck, Grütze und Honig. Orangensaft und gesüßten Eistee.«
»Herzloses Weib«, schimpfte Elaby. Er füllte ihren Becher noch einmal mit dem milchfarbenen Rumgetränk. »Tut es dir leid, daß du mitgekommen bist?«
Cloud schüttelte den Kopf. »Ich mußte mitkommen. Alle von uns. Sogar die Gruppe, die von Papa nach Afrika gescheucht worden ist, bedauert es nicht, von zu Hause geflohen zu sein. Auf jeden Fall sind wir dem Zeitportal ein bißchen nähergerückt. Wir haben Papa gezwungen, uns und unsere Wünsche ernstzunehmen.« Sie zögerte. »Er wird nach Europa kommen, weißt du.«
»Bist du sicher?«
»Ich kenne ihn besser als sonst jemand.«
»Wird er uns helfen oder uns aufhalten wollen?«
»Das hat er vielleicht noch gar nicht entschieden. Ich kann es nicht sagen.« Sie stellte die Überreste der Mahlzeit zur Seite. Eine Wolke von schwefelgelben Schmetterlingen flatterte über die Backbordreling und auf den Golf von Guadalquivir zu. Cloud hielt einen davon kurz mit ihrer PK fest, sah ihn zittern und mit den kleinen Knotenfühlern schlagen, ließ ihn wieder frei. Er flog den anderen nach. »Papa will uns nicht töten. Damit hatte ich recht. Er wird es nur dann tun, wenn wir ihn dazu zwingen. Wenn wir ihn und seine Leute absichtlich in Gefahr bringen, indem wir das Zeitportal öffnen - oder wenn wir versuchen, ihn zu töten.«
»Einige von uns hätten da keine Skrupel.«
»Ich weiß.« Ihr Gesicht blieb ruhig. »Hagen. Du.«
»Aber du nicht?« Der junge Mann ließ die Eiswürfel in seinem Becher kreisen und sah ihnen stirnrunzelnd zu. Als Cloud nicht antwortete, stellte er eine neue Frage. »Würdest du dich gegen uns übrige wenden, wenn uns keine andere Möglichkeit bliebe?«
»Ich möchte, daß wir alle frei werden«, entgegnete Cloud. »Könnten wir doch nur Zusammenarbeiten -beide Generationen -, statt an entgegengesetzten Polen zu stehen! Es wird schwierig genug sei, den Apparat zu konstruieren und inmitten dieses barbarischen Zirkus an dem richtigen Ort aufzubauen. Vielleicht ist es unmöglich.«
»Gib die Hoffnung nicht zu schnell auf, Baby! Wir haben etwas an Boden verloren - aber ebenso mögen wir etwas gewonnen haben. Mit der Geheimhaltung ist es vorbei, seit Marc unsere Absicht erriet, und die Drohungen deines hitzköpfigen Bruders haben in Marc kleine Zweifel an unserer Loyalität geweckt. Trotzdem ist dein Vater nicht die einzige Kanone in der Schlacht. Vergiß den König nicht. Wenn es hier im Vielfarbenen Land noch mehr bergab geht, könnte er weitere Horizonte suchen.«
Cloud war anderer Meinung. »Hier ist Aiken ein großer Fisch in einem kleinen Teich. Was wäre er im Milieu, verglichen mit dem vereinigten Geist? Außerdem scheint Papa ihn eingeschüchtert zu haben, als er ihn das Metakonzert lehrte.«
Elaby lachte leise vor sich hin. »Das glaub nur ja nicht! Er ist jung, erst etwa zweiundzwanzig. Und doch hat er es mit seinem eigenen nackten Gehirn geschafft, ein Establishment zu übernehmen, das das Pliozän vierzig Jahre lang beherrscht hat.«
»Aiken hat nur nach der Katastrophe die Scherben aufgesammelt. Er ist König über die Ruinen! Ein Halbgott in der Götterdämmerung.«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Ich sehe ihn als stark und sprungbereit. Und seine Begabung ist erstklassig, Baby - vergiß das nicht! Dein Vater mag diesmal einen Fisch am Haken haben, mit dem er nicht fertig wird.«
Cloud biß sich auf die Unterlippe und sah zu dem überwältigenden Blumenhaufen und der aufgerichteten Steintafel am Ufer hin. Schließlich sagte sie: »Glaubst du wirklich, Aiken wird fähig sein, diese massive Synergie zu lenken? Papa plant möglicherweise, ihm im kritischen Augenblick die Kontrolle abzunehmen.«
»Wenn Marc es nicht tut - wenn er es nicht tun kann -, mögen wir später eine Chance haben, Aiken auf unsere Seite zu ziehen. Ich wundere mich immer noch darüber, daß Marc eingewilligt hat, Aiken den Psycho-strahl fokussieren zu lassen. Das setzt Vertrauen in die Fähigkeiten des Goldjungen voraus ... oder er will ihn dadurch auf besonders listige Weise manipulieren.«
»Es ist kaum vorstellbar, daß irgendwer auf der Welt Papa gewachsen sein soll.« Der Ton von Clouds Gedanken verriet ihre Bestürzung.
»Er hat zu verdammt lange Gott gespielt«, erklärte Elaby bitter. »Wir haben vergessen, daß Marc menschlich ist. Daß er ein Verlierer ist. Er hat im Milieu alles verloren, und nun hat er uns verloren. Und offensichtlich fühlt er sich sowohl durch Felice als auch durch Aiken bedroht.«
»Papa ist immer noch ein Großmeister erster Klasse im Fernwahrnehmen, Koerzieren und Kreieren«, stellte Cloud gelassen fest. »Und hier im Pliozän stößt er vor allem deswegen auf Grenzen, weil es so wenige geeignete Gehirne gibt, mit denen er arbeiten kann. Vergiß nie, daß er einer von den beiden größten mentalen Koordinatoren der Galaxis war! Nur sein Bruder Jon war besser.«
»Erinnere mich, eine Kerze für St. Jack den Körperlosen anzuzünden.«
Cloud stand auf und sah nach achtern. Ihre Fernsicht wanderte nordwärts zu den kleinen Inseln vor der Mündung des Genil, wo die Truppen Celadeyrs und Aluteyns und der anderen spanischen Tanu seit zwei Tagen lagerten und die Ankunft der Flotte Aiken Drums erwarteten. Dann wandte sie sich westwärts, dem Atlantik zu. »Ich sehe Aiken immer noch nicht kommen«, meinte sie nervös. »Wie weit draußen sind sie jetzt, Elaby?«
»Ungefähr fünfzehn Stunden. Im Basislager am Genil werden sie im Morgengrauen eintreffen, wie Aiken es versprochen hat. Sie haben ihre Metafähigkeiten geschont und auf dem größten Teil des Weges von der Bretagne her die Winde von Mutter Natur benutzt. Erst heute morgen, als sie das Kap St. Vincent umrundeten, hat Aiken seine PK eingesetzt. Die Flotte muß jetzt sechsundzwanzig Knoten machen. Morgen werden wir alle wie geplant unterwegs zu den Befischen Kordilleren sein.«
»Und vielleicht werden wir alle sterben.« Cloud kam zu ihm, legte ihren Kopf auf seine Schulter und umarmte ihn so fest, daß sich ihre Finger wie Klauen in seine Rückenmuskeln gruben. »Liebling, ich weiß nicht, warum ... heute morgen die arme Jill, und vor uns diese dumme, gefährliche Sache, bei der wir gezwungenermaßen mit Aiken Drum Zusammenarbeiten müssen ... diese Gefühle ... das ist Wahnsinn, aber ...«
»Es ist normal«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Normal, in einem Augenblick, wo die Welt vor dem Ende zu stehen scheint, nach dem Leben zu greifen. Ein sehr häufiges Phänomen, wenn man den Büchern in der Bibliothek zu Hause auf Ocala glauben darf. Seuchen, Kriege, Erdbeben - alle Katastrophen entzünden die Fleischeslust. Der Fortpflanzungswille der Art.«
»Es ist lächerlich.«
Er küßte sie. »Nun, das ist Sex meistens. Na und?« Er führte sie an die Kajütentreppe. »Was meinst du, sollen wir ins Bett gehen und dann Klarschiff für den königlichen Besuch machen?«
Sie verschwanden. Die Brise erstarb, und die Dschungelgeschöpfe verstummten in der nachmittäglichen Hitze. Zwei Ramas tauchten kurz aus dem Unterholz auf, um den Blumenhügel zu inspizieren und die fremdartigen Einkerbungen auf der Steintafel zu betasten. Als ihre Neugier befriedigt war, verschmolzen sie wieder mit dem grünen Hintergrund.
In seiner engen Kabine auf dem großen Schoner, der das Tanu-Flaggschiff vorstellte, arbeitete Culluket an dem Küraß seiner Rubinrüstung, befestigte ein paar gelockerte Edelsteine des Emblems, ersetzte einen abgenutzten Gurt durch einen neuen und polierte dann das Ganze, daß das Glas mit seinem durchbohrten Totenkopf heller glänzte als eine Lache frischen Blutes.
Jedenfalls wirst du herrlich aussehen, wenn du stirbst, sagte er zu sich selbst. Nun bist du zum Schluß zu klug gewesen, Inquisitor! Solltest du nicht von deinem dämonischen Schätzchen verschlungen werden, wird dein überlistiges Hirn bestimmt in verbranntes Fleisch verwandelt, nachdem du zwischen Aiken Drum und dem Engel des Abgrunds als lebende Sicherung eingespannt gewesen bist. Du wirst für deinen König sterben, ein echter Märtyrer der Kriegsreligion deiner Vorfahren. Ein Held der Heerschar Nontusvels könnte kein glorreicheres Schicksal verlangen! Welch ein Jammer, daß du ein Verräter an deinem Blut und ein Atheist und so süchtig nach Leben bist, daß du dir jetzt jede Erniedrigung gefallen ließest, nur um verschont zu bleiben. Du würdest sogar sie um Gnade anflehen, wäre das nicht absolut sinnlos ...
»Culluket«, sagte Mercy.
Er schrak aus einem bitteren Tagtraum auf. Mercys Gestalt, gekleidet in ihre grün-silberne Parade-Rüstung, materialisierte aus der Unsichtbarkeit. Sie war durch seine geschlossene Kabinentür gekommen. Diese Verletzung der Tanu-Etikette war beinahe ebenso schlimm wie das Levitieren ohne Reittier.
»Große Königin, was ist?« Hastig räumte er die verstreuten Stücke der Rüstung zusammen, damit sie Platz zum Stehen fand.
Ihr Geist strahlte eine furchtsame Intensität aus und prallte mit solcher koerziblen Wucht gegen seine dichte Barriere, daß seine Sicht sich trübte. »Ich brauche dich. Du sollst mich zu Lord Celadeyr begleiten, jetzt, solange Aikens Geist mit diesem gräßlichen Abaddon verbunden ist. Es mag meine einzige Chance sein. Beeil dich, Mann! Leg deine Rüstung an! Es ist kein Höflichkeitsbesuch. Und ich werde das kleine Sigma-Feld brauchen, das Aiken dir als Schutz gegen Felice gegeben hat.«
Schnell wappnete er sich. Unsichtbar flogen sie beide nach Osten über den Golf von Guadalquivir in Richtung des deformierten alten Mondes, der sich spät über den andalusischen Dschungel erhob, und das Lager, wo der Lord von Afaliah und der Handwerksmeister und der übrige Koneyn-Adel die Ankunft der Flotte erwarteten. Der Rendezvous-Platz war sorgfältig verborgen, physisch wie mental. Die 3500 Chalikos, für die angreifende Truppe bestimmt, waren in einem Mangrovensumpf eingepfercht, der volle fünf Kilometer von den getarnten Zelten der Edelleute und ihrer Gefolgschaft entfernt war.
Mercy und Culluket schwebten dicht vor der Küste. Sie befahl: »Ruf deinen Bruder Kuhal im intimen Modus! Sag ihm, daß wir da sind!«
»Kuhal ist hier?« Culluket war verblüfft. »Man kann ihn doch nicht gezwungen haben ...«
»Tu, was ich dir sage!« fuhr sie ihn an. »Ich selbst habe gesehen, daß Celo ihn mitgebracht hat. Du wirst bald herausfinden, warum. Sag Kuhal, er soll Celo und Aluteyn Handwerksmeister in sein Zelt bitten.«
Culluket gehorchte. Er und Mercy flogen in das Lager und wurden in dem von mattem Lampenlicht erhellten Zelt des noch nicht wieder ganz genesenen Erderschütterers sichtbar. Kuhal lag, von Kissen gestützt, auf einem Ruhebett. Neben ihm standen die beiden Tanu-Helden und warteten schweigend auf Mercys Erklärung. Ihre feindliche Einstellung gegenüber dem Inquisitor war unverhüllt.
Sie sprach: »Nodonn lebt.«
»Glorreiche Göttin!« rief Kuhal aus, und Culluket setzte dem Geist des Leidenden eilends einen primitiven redigierenden Dämpfer auf.
»Schalte das Sigma-Feld ein!« kommandierte Mercy. »Es wird uns ausreichend schützen, solange Aiken und die anderen keinen Verdacht hegen und keine gezielten Anstrengungen machen, es zu durchdringen.«
Culluket nahm das Gerät aus seiner Säbeltasche, stellte es auf Kuhais Nachttisch und aktivierte es. Die Geräusche der Dschungelnacht verstummten wie abgeschnitten. Das Zelt und die darin Anwesenden waren innerhalb eines Kraftfeldes isoliert, das undurchdringlich für die meisten Arten von Energie und Materie war.
»Ich weiß von Nodonn seit Anfang Mai«, berichtete Mercy als Antwort auf unausgesprochene Fragen. »Er hat diese ganze Zeit auf Kersic im Koma gelegen, gepflegt von einer Geringen, die ihn im Innern einer Höhle hielt. Das ist der Grund, warum niemand von uns ihn entdeckte. Nicht einmal ich.«
»Wo ist er jetzt?« fragte Celadeyr tonlos. »In welcher Verfassung ist er?«
»Er ist in Var-Mesk versteckt, und Lord Moreyn sorgt für ihn. Lord Moreyn ...« - sie streifte den Lord von Afaliah und den Handwerksmeister mit einem scharfen Blick - »ist ein Einwanderer des Vielfarbenen Landes, genau wie ihr. Und den alten Traditionen treu. Wie ihr.«
»Jetzt warte mal!« protestierte Aluteyn. »Ich habe meinen Treueeid ...«
»Einem schmutzigen Usurpator geleistet!« unterbrach Kuhal ihn. »Unter Lebensgefahr und mit dem verzweifelten Gefühl der Unvermeidlichkeit, wie wir alle. Ein solcher Eid stinkt vor der Göttin! Er verlangt, gebrochen zu werden!«
»Beruhige dich, bevor du dir Schaden tust!« mahnte der Handwerksmeister. Er zog einen stabilen Schemel heran und ließ seinen schweren Körper vorsichtig darauf niedersinken. Die anderen setzten sich ebenfalls nahe an das Bett, und Mercy und Culluket nahmen ihre Helme ab. Aluteyn wandte sich an seine Königin. »Erzähl uns genau,-was Nodonn zugestoßen ist, Mädchen! Laß keine Einzelheit aus!«
Sie koordinierte die Daten in ihrem Geist und überspielte sie ihnen ohne weiteren Kommentar als den leuchtenden Hintergrund ihrer eigenen Freude.
Sie studierten das Material. Dann winkte Kuhal ihr, ergriff ihre silbern behandschuhte Hand und küßte sie. Seine Augen flössen zum ersten Mal seit seiner Rettung über.
»Du bist wahrlich eine von uns, Mercy-Rosmar«, sagte er, »und würdig, Königin zu sein.«
Der alte Celo reagierte nüchterner und praktischer. »Nodonn ist immer noch schwach wie ein Kätzchen. Nicht so schlimm dran wie du, Kuhal, aber nicht in der Verfassung, es mit Aiken aufzunehmen.« Er sah Mercy an. »Du hast so lange gewartet, es uns zu berichten ... und vielleicht hattest du wirklich keine andere Wahl. Aber was sollen wir deiner Meinung nach tun?«
»Gebt ihn auf«, sagte sie schlicht. »Überlaßt ihn Felice! Außer Kuhal können wir alle fliegen, und ihn kann Celo tragen. Brechen wir sofort im Schutz des Sigma-Feldes nach Var-Mesk auf! Wir nehmen den Weg über Aven und Kersic, wo wir uns in der Wildnis verstecken können, wenn wir müde werden, tief in schützenden Höhlen, sicher vor seinem goldenen Zorn! Aiken besitzt keine über große Entfernungen wirkenden psychoenergetischen Fähigkeiten. Und er wird uns nicht verfolgen, weil er dann seinen Feldzug aufgeben müßte.«
Aluteyn ächzte. »Mädchen, Mädchen! Deine Seligkeit über Nodonns Rückkehr hat dir den Verstand geraubt.«
»Wie könnten wir unsere Kameraden zurücklassen, dem Angriff Felices ausgesetzt?« wandte Celo sich an sie. »Würde Nodonn das wollen?«
»Die Flotte ist bald da«, stellte Kuhal traurig fest. »Unsere Leute können nicht mehr anders. Große Königin ... wenn du es uns nur früher mitgeteilt hättest!«
»Ich wagte es nicht, mit euch durch Fernsprache Kontakt aufzunehmen!« rief sie. »Ich bin in der Fernfokussierung immer noch zu ungeschickt. Nodonn war es, der den dünnen Gedankenstrahl zwischen uns festhielt. Und er warnte mich ...« Wie ein rotglühender Draht schlug ihr Zorn nach Culluket. »Du hast aufgepaßt und gelauscht! Und nun argwöhnt sogar Aiken etwas - vielleicht weiß er sogar, daß Nodonn lebt! Ich hatte Angst, mein Fernsprechen werde Nodonn verraten! Oder Culluket werde es tun!«
Der Inquisitor senkte den Kopf. »Meine frühere Loyalität gegenüber dem Usurpator ist seit seiner Allianz mit Abaddon erschüttert. Du kennst die Rolle, die diese beiden mir aufgezwungen haben ...«
Aluteyn stieß ein kurzes Lachen aus. »Und wir wissen auch, was deine Loyalität im Vergleich mit deiner eigenen kostbaren Haut wert ist! Armer Cull. Diesmal hast du dich zwischen zwei Stühle gesetzt.«
»Ich weiß, Culluket haßt Nodonn.« Mercys Gedanken waren eisig. »Dennoch sind sie Heerschar-Brüder. Und Tanu. Und jetzt hat Cull einen guten Grund, seinen Mantel abermals zu wenden! Ist das nicht so, redigierender Bruder?«
»Die Große Königin ist weise«, stellte Culluket ohne Emotion fest.
»Nun denn!« Das alte Wildfeuer brannte in ihren Augen. »Wenn es unmöglich ist, daß wir sofort zu Nodonn fliegen, wollen wir darüber nachdenken, wie wir Felice dazu benutzen können, Aiken zu töten! Sollen wir sie warnen, daß er ihre Schatzhöhle überfallen will?«
»Elizabeth hat Felice in dem Raum ohne Türen«, sagte Aluteyn. »Sie wird uns nicht einmal hören. Und wenn doch, können wir uns nicht darauf verlassen, daß sie uns verschont.«
Kuhais Gesicht war leichenblaß geworden. »Um der Liebe Tanas willen - gib den Gedanken auf, diesen weiblichen Elementargeist herbeizurufen, meine Königin! Cull kann dir sagen, wozu die fähig ist.«
»Sogar der würdige Abaddon hat Respekt vor Felice«, stimmte der Inquisitor zu. »Und darf ich vorschlagen, daß wir bei unsern Plänen nicht vergessen, welche unvergleichliche Macht Abaddon bei einem Metakonzert hat. Er kann uns aus jeder Entfernung mit einem psychoenergetischen Schuß erledigen - das ist eine Tatsache. Er kann uns von der anderen Seite der Welt nicht koerzieren, aber er besitzt überwältigende fernwahrnehmende Fähigkeiten.«
»Zum Teufel, warum hat er Aiken dann nicht über Nodonn informiert?« wunderte sich Celo.
Culluket zuckte die Achseln. »Ich habe von dieser mysteriösen Person nichts als Befehle erhalten. Für ihn bin ich weniger als eine Sache. Unsere kleinen politischen Händel scheinen Abaddon gleichgültig zu sein. Wohl ist er ein Manipulator, aber nur in großem Maßstab ...«
»Im Gegensatz zu dir, Bruder«, flocht Kuhal ein.
»... und es ist durchaus möglich, daß es ihn nicht interessiert, wer über das Vielfarbene Land herrscht. Er würde Nodonn ebenso bedenkenlos benutzen, wie er jetzt Aiken benutzt.«
»Der Bastard!« zischte Mercy. »Wer mag er sein?«
Die vier Tanu-Männer sahen sie erstaunt an. »Dann weißt du es nicht?« fragte der Handwerksmeister. »Oh, Mädchen. Kein Wunder, daß du so voll von wahnsinnigen Plänen warst.« Und er erzählte es ihr, beginnend mit den selbst erlebten Ereignissen vor siebenundzwanzig Jahren, als er und der alte Lord Koerzierer und Gomnol und der Lord von Roniah mit Marc Remillard und seiner Gruppe geflohener metapsychischer Rebellen zusammenstießen.
Mercy schien sich innerhalb ihrer silberglänzenden Rüstung in Marmor zu verwandeln. »Dann gibt es überhaupt keine Hoffnung, den Feldzug zu verhindern. Keine Hoffnung.« Sie wandte sich von ihnen ab. »Aber wenn Aiken den Speer bekommt, wird Nodonn im endgültigen Duell der Schlachtenmeister keinen Vorteil über ihn haben.«
»Nein.« Culluket lächelte ihren Rücken an. »Nodonn wird ehrlich gegen Aiken kämpfen müssen, wenn er König werden will. Und vielleicht verlieren.«
»Bruder - genug!« Kuhal richtete sich mühsam zum Sitzen auf. »Es ist unmöglich, der gegenwärtigen Gefahr auf ehrenhafte Weise zu entrinnen und den Feldzug zu vereiteln. Wir müssen mit Aiken Drum voll Zusammenarbeiten, und die gute Göttin allein weiß, wie diese Geschichte enden wird. Sie mag Felice als ihr Agens benutzen, um den Usurpator zu vernichten ... oder sie mag ihm Erfolg gewähren. Doch falls wir überleben, bleibt uns immer noch Zeit, uns um den wahren König zu scharen, wenn er uns in den Letzten Krieg führt!«
Kuhal sank zurück, das Gesicht verzerrt vor Schmerz. Culluket beugte sich über ihn und legte die Handflächen an die Schläfen seines Bruders. Kuhal entspannte sich und schlief auf der Stelle ein.
Mercy schaltete den kleinen Sigmafeld-Generator ab und gab ihn dem Inquisitor zurück.
»Das wär's dann«, bemerkte Celadeyr. »Aber der arme Kuhal hat recht. Wir müssen Aiken Drum und seinem nordamerikanischen bösen Genius bei dem Feldzug volle Unterstützung leisten. Ob es uns gefällt oder nicht.« Er und Aluteyn salutierten kurz vor Mercy, schoben die Türklappe des Zelts beiseite und traten in die laute Nacht hinaus.
Der rubingekleidete Inquisitor steckte das Gerät in seine Säbeltasche. Mercy stand dicht neben ihm. »Du wußtest längst über Nodonn Bescheid, nicht wahr, Tod? Meine Ankündigung war keine Überraschung für dich.«
»Ich bin der größte Redakteur der Heerschar. Ich hätte den Tod meines ältesten Bruders gespürt.«
»Und doch hast du Aiken nicht gewarnt.«
»Er wußte es. Ich zeigte ihm, wo der Beweis lag, in deinem Innern.«
»Du bist ein Intrigant!«
»Wie du, meine Königin. Aber ich glaube, mein Spiel erreicht endlich seinen Höhepunkt.«
Er lächelte auf sie nieder, bevor er seine Schönheit mit dem roten Glashelm verdeckte. Sie ließ ihre behandschuhte Hand leicht auf seinem gepanzerten Herzen ruhen, berührte sein heraldisches Erkennungszeichen, den durchbohrten Totenkopf. Bisher war ihr nie aufgefallen, daß die Augen des Schädels saphirblau waren wie die Cullukets und ein flammender Halo sein Haar andeutete.
»Bekommst du es endlich mit der Angst zu tun?« fragte sie mutwillig.
»Ja.«
»Ah! Nun, ich auch. Von neuem. Willst du meine Hand nehmen, Tod? Willst du mich trösten?«
Er nickte, schloß sein Visier und zog sie an sich. Die hohe rote Gestalt und die kleinere in Smaragdgrün und Silber verblaßten gemeinsam wie Nebelschwaden, verschwanden und ließen Kuhal Erderschütterer allein in seinem traumlosen Schlaf.
Der Morgennebel hing um die Koniferen bei den Verborgenen Quellen wie nachschleppende Schleier. Amerie, das Brot und den Wein tragend, ging allein zu der kleinen Blockhaus-Kapelle. Die Hähne hatten gekräht, und die Ziegen in ihren Hürden und die angepflockten Chalikos gaben leise Geräusche von sich. Aber die Dorfbewohner und ihre Gäste lagen nach der improvisierten Party des gestrigen Abends noch im Bett.
Amerie dachte: Heute morgen ist es nur für Dich und mich, Herr. Ich bin froh.
Sie zündete die beiden Altarkerzen an und traf die Vorbereitungen für die Messe. Dann trat sie in die winzige Sakristei, legte den Schleier ab und zog das scharlachrote Meßgewand für Pfingsten an. Den Introitus singend, kam sie in das Heiligtum.
Veni Creator Spiritus,
Mentes tuorum visita:
Imple superna gratia,
Quae tu creasti pectora.
Mit gesenktem Kopf sprach sie am Fuß des Altars die Gebete. Dann wandte sie sich dem dunklen Innern der Kapelle zu, um den ersten Segen zu erteilen.
»Dominus vobiscum.«
Und Felice antwortete: »Et cum spiritu tuo.«
Die Priesterin erstarrte mit erhobenen Händen. Ein Mädchen in einem langen weißen Gewand schritt durch den Mittelgang und blieb lächelnd vor den Altarstufen stehen.
»Ich bin wieder da«, sagte Felice. »Elizabeth hat an meinem Verstand gearbeitet und all den alten Müll ausgeräumt. Ich bin jetzt gesund, Amerie. Ist das nicht herrlich? Ich kann jetzt richtig lieben, ohne den Umweg über den Schmerz. Ich kann frei wählen, wen ich lieben will, und wie. Ich kann dir Freude geben, die wie meine eigene ist! Elizabeth sagte mir, ich solle wählen, weißt du, und da warst du, und da war Culluket. Du erinnerst dich doch an ihn? Früher, als ich noch wahnsinnig war, liebte ich ihn mehr als dich. Nun weiß ich es besser. Deshalb bin ich gekommen, um dich zu holen.«
»Felice ... mein Gelübde. Meine Wahl.«
»Ich bin es doch«, meinte das Mädchen vernünftig. »Nicht einfach irgendeine Frau - ich! Du liebst und begehrst mich ebenso wie ich dich. Also komm!«
»Du verstehst nicht. Meine Entsagung ist mein Geschenk für Gott. Ich opfere meinen Körper wie das Brot und den Wein bei der Messe. Ich habe ihn schon vor langer Zeit hingegeben ...«
»Du kannst ihn zurücknehmen.« Felice stand vor den aus halben Baumstämmen bestehenden Bänken, leuchtend im Licht der beiden Kerzen, schwankend, als bestehe sie aus einem zarten Stoff, der durch den schneller werdenden Atem der Priesterin bewegt wurde. Ihre Augen waren wie Brunnen. »Komm! Wir wollen zusammen fliegen! Ich bin jetzt ein weißer Gerfalke, und du sollst ein Kardinal sein!«
»Nein«, flüsterte Amerie. »Felice, ich kann nicht. Du verstehst immer noch nicht. Dies ist der Ort, an den ich gehöre, im Dienst dieser Leute, die mich brauchen. Ich bin ihre Priesterin und Ärztin. Sie sind gut zu mir, und ich liebe sie ...«
Das Mädchen in Weiß schnitt ihr das Wort ab. »Mich liebst du mehr.«
»Ja«, gestand Amerie. »Ich liebe dich und werde dich immer lieben. Aber das ändert nichts. Ich kann nichts für die Liebe, ich kann mich jedoch dafür entscheiden, sie nicht zu vollziehen. Und das tue ich.«
Langsam wandelte sich Felices Gesichtsausdruck. Sie war verwirrt, überrascht, dann verletzt, frustriert, schließlich wütend. »Du willst nicht?«
»Nein.«
»Das ist dein Gott! Er hat dich eingesperrt! Dich in diesem dummen Netz der Selbstverleugnung gefangen!«
»Ich verleugne mich nicht selbst. Du verstehst nicht.«
»Hör auf, mir das zu sagen! Und ob ich verstehe! Du wählst ihn und nicht mich! Du denkst immer noch, meine Liebe sei schmutzig und sündhaft!« Tränen ergossen sich aus den schwarzen Löchern ihrer Augen. »Ich bin also doch nicht gut. Ich sehe in deine Seele, sehe, daß du dich immer noch vor mir fürchtest. Du willst nicht mit mir gehen, und du würdest mich nie hier bei dir bleiben lassen. O nein! Ich bin nicht menschlich genug, um zu deiner kleinen Herde zu gehören, nicht wahr, gute Schäferin? Ich bin eine Göttin! Und du möchtest lieber deinen verdammten, alten, gemeinen, eifersüchtigen Gott haben.«
Amerie sank auf die Knie. »Du bist menschlich. Liebe Felice, du bist es. Nur so anders als wir übrigen! Geh zurück zu Elizabeth! Laß dich von ihr lehren, wie du in deiner Welt des Geistes leben mußt! Dahin gehörst du.«
»Nein«, weinte Felice. »Ich gehöre zu dir.«
»Deine Welt des Geistes ist mir verschlossen, Felice. Ich bin nur eine normale Frau. Ich kann nichts dagegen tun, daß ich vor Menschen wie dir Angst habe ... ebenso wie ich nichts dagegen tun kann, daß ich dich liebe. Felice, laß mich in Frieden. Geh zu deinen eigenen Leuten!«
»Ich will nicht!« schrie das Mädchen. »Ich will nicht ohne dich gehen! Wenn du nicht freiwillig mit mir kommst, zwinge ich dich!« Die Altarkerzen erloschen plötzlich. Nur das bleiche Nebellicht von den beiden kleinen Fenstern und die granatfarbene Ewige Lampe spendeten Helligkeit.
Felice faßte Amerie bei den Schultern. Psychoenergien flössen aus dem Gehirn des Mädchens, und Amerie krümmte sich unter dem Schock. »Du wirst tun, was ich dir sage!« gellte Felice, schrecklich in der Koerzierung. »Du wirst bei mir bleiben, solange ich dich haben will! Hörst du mich?«
Amerie wurde von Krämpfen geschüttelt, ihre Stimmbänder waren gelähmt. Sie spürte, wie sie hochgehoben wurde. Es roch nach brennendem Stoff, als ihr Meßgewand unter Felices Griff zu qualmen begann, und dann brannte das Fleisch der Priesterin, und ihr Herz blieb stehen.
Sursum corda.
»Wähle mich, Amerie!« Die, die sie hochhob, war jetzt von glühender Nacktheit. »Wähle mich - und ich lasse dein Herz von neuem schlagen! Sag nur, daß du mich liebst!«
Dignum et justum est.
Felice warf den Körper in dem roten Meßgewand zu Boden und ragte hoch über ihm auf. Hoc est enim corpus meum. »Wähle mich! Bitte, Amerie!« Per ipsum et cum ipso ... »Bitte!« In saecula ...
Ameries sterbende Augen leuchteten. Ihr Geist sprach zu Felice: Nein. Ich liebe dich. Diese Messe ist für dich.
Und dann entfloh der Geist und ließ das Mädchen zurück. Sie wütete und trauerte und verwandelte sich schließlich zurück in ihre alte Rabengestalt. So flog Felice fort nach Spanien, um ihre andere Liebe wählen zu lassen.