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»Wir sind verloren!« behauptete Tony Wayland. »Dieser verdammte Fluß kann nicht die Laar sein. Er fließt nach Norden, nicht nach Nordwesten.«

»Ich fürchte, Ihr habt recht, Milord.« Dougal spähte in die sich purpurn färbende Landschaft hinaus. Es war eine ganze Weile nach Sonnenuntergang. »Wir sollten zum Ufer steuern und das schöne Abenteuer morgen fortsetzen, nachdem wir uns ausgeschlafen haben. Vielleicht erscheint uns der mächtige Aslan im Traum und setzt unsere Füße auf den richtigen Weg nach dem fernen Cair Paravel.«

Er ergriff das Ruder und lenkte das Floß zum rechten Ufer hin. Sie landeten auf Schlamm in einem Wäldchen aus riesigen Liriodendren, von deren knorrige Äste Moosbärte hingen.

»Gebt acht auf Krokodile!« warnte Dougal und schulterte ihre Packen. »Wir müssen höheren Grund suchen.«

Sie verließen das Floß, mühten sich ein paar hundert Meter flußabwärts und fanden einen steilwandigen Hügel, der während der letzten Regenzeit offensichtlich eine kleine Insel gewesen war. Er trug ein paar Zimtbäume und Johannisbeerbüsche und hatte eine offene Grasfläche. »Das sieht gut aus«, meinte Tony. »Wenigstens müssen sich die Viecher anstrengen, um hinaufzuklettern, und da ist Treibholz für ein Feuer.«

Diesmal machte es verhältnismäßig wenig Mühe, das Lager aufzuschlagen. Nach einem frugalen Abendessen aus Binsenkolben und gebratenem Biber hockten sie zufrieden am Feuer.

»Unser Fluchtweg ist rauh gewesen, Milord.« Dougal kämmte seinen ingwerfarbenen Bart. Biberfleischbrösel fielen auf das goldene Löwen-Emblem seines ritterlichen Überrocks und sprangen von dem schmutzabweisenden Gewebe ab. »Bereut Ihr es, Euch von Vulkans Schmiede auf französisch empfohlen zu haben?«

»Sei kein Esel, Dougie! Wir finden den Weg nach Goriah schon. Noch einen Tag versuchen wir es auf diesem Fluß, und wenn er sich dann nicht westwärts wendet, marschieren wir über Land. Verdammt ... ich wünschte, ich wäre ein besserer Pfadfinder. Bei diesem Teil unserer Ausbildung in der Auberge habe ich mich schamlos gedrückt.«

»Fürwahr, es waren mühselige Übungen. Jedenfalls scheinen unsere Verfolger die Nase voll zu haben.«

»Hoffen wir's. Dieser große schwarze Lümmel Denny Johnson bringt es fertig, uns als Verräter zu hängen, wenn er uns erwischt.« Tony beschäftigte sich mit ihrem Kompaß, einer magnetisierten Nadel, die man in einem Wassergefäß auf etwas Häcksel treiben lassen mußte. »Das kann nicht stimmen« murmelte er. »Gib mir bitte mal dein großes Messer!«

Freundlich reichte Dougal ihm sein Bowie-Knife aus Weich eisen.

»Das ist besser. Weißt du, ich dachte, wir hätten es geschafft, als wir diesen Fluß erreichten. Es war ja genau so, wie es uns der Mann aus dem Pariser Becken in Fort Rostig erzählte: Der zweite größere Wasserlauf westlich der Mosel. Aber war der erste, den wir überquerten, auch wirklich ein größerer Wasserlauf? Und dieser hier tauchte früher auf, als ich erwartet hatte.« Tony stellte den Kompaß weg und starrte entmutigt ins Feuer. »Ich hätte mir sagen sollen, daß alles zu glatt ging.«

»Der Pfad ist glatt, der zur Gefahr führt«, bemerkte Dougal. Er reinigte seine Fingernägel mit dem Messer. »Ich folge Euch als Euer gehorsamer Diener, Milord -doch was soll aus uns werden, wenn dieser Aiken Drum uns das Asylrecht verweigert?«

»Wird er nicht. Er wird nach einem Metallurgen noch gieriger sein als die Geringen bei den Verborgenen Quellen. Ich bin ein Hauptgewinn, Dougie! Es wird zu einem Krieg zwischen Drum und den Firvulag kommen, weißt du, und Eisenwaffen könnten dabei entscheidend sein ...«

Aus dem Dschungel kam ein unirdisches Trompeten wie der gewaltig verstärkte und verzerrte Tusch von Blasinstrumenten.

»Stoßzahn-Elefanten?« mutmaßte Tony und rückte näher ans Feuer.

Dougals Augen funkelten unter buschigen roten Brauen. »Oder die bösen Wesenheiten dieser verzauberten Welt! Ich spüre sie rings um uns - die Dämonen und Hexen und Inkuben, Gespenster, Nachtmahre, Ifrits, Kobolde, Vampire und Werwölfe!«

Tony brach der kalte Schweiß aus. »Verdammt sollst du sein, Dougie! Das ist nur irgendein Tier, sage ich dir!«

Zu dem Trompeten kam ein Chor von brüllenden und rufenden Stimmen und ein unverständliches, böses Zwitschern.

»Ghouls und Oger!« intonierte der Ritter. »Böse Geister der Sümpfe, der Klüfte und der Fliegenpilze!«

Unter dem Rasseln seines Titan-Kettenhemdes stellte er sich auf die Füße, zog sein großes beidhändiges Schwert und warf sich im ersterbenden Feuerschein in eine noble Positur. »Strafft die Sehnen! Faßt euch ein Herz! Schraubt euren Mut bis zum Zerreißpunkt hoch, und wir werden nicht versagen!«

»Um Gottes willen, sei ruhig!« rief Tony aus.

Den Blick auf das Schwert gerichtet, deklamierte Dougal:

Aslan kommt bald,

Und Gerechtigkeit siegt,

Seine Stimme erschallt,

Aller Kummer verfliegt.

Er zeigt seine Zähne,

Der Winter zerrinnt,

Er schüttelt die Mähne,

Der Frühling beginnt.


Er grinste, steckte das Schwert in die Scheide, gähnte und sagte: »Das reicht. Schlaf in Frieden, alter Junge!« Er rollte sich zusammen, und zwei Minuten später schnarchte er.

Fluchend legte Tony mehr Holz aufs Feuer. Die Dschungelgeräusche wurden lauter.

Am Morgen war das Inselchen mit Tautropfen bedeckt, und der furchterregende nächtliche Lärm war von melodischem Vogelgesang abgelöst worden. Tony erwachte mit steifen Gliedern und geschwollenem Gesicht. Dougal war wie immer makellos.

»Sieht nach einem herrlichen Tag aus, Milord! Der stolze April in seiner Pracht hat allem den Geist der Jugend eingehaucht!«

Tony ächzte. Er ging, um sich hinter den Büschen zu erleichtern. Aus einem mit kristallenen Perlen besetzten Netz beobachtete ihn eine Spinne, größer als seine Hand. Irgendwo in dem nebelverhangenen Wald hinter den großen Tulpenbäumen wieherten wilde Chalikos. Wenigstens hoffte Tony, daß es wilde waren.

Sie machten das Floß wieder flott und fuhren weiter. Ihr Fluß vereinigte sich mit einem anderen, der von Osten kam. Die Landschaft wurde offener.

»Das kann einfach nicht die Laar sein«, sagte Tony. »Die Laar soll zweihundert Kilometer durch dichten Dschungel fließen, bis sie den Giftsumpf erreicht.«

»Irgendwas bewegt sich am linken Ufer«, bemerkte Dougal.

»Hölle und Teufel!« Tony sah durch sein Fernrohr. »Menschen auf Chalikos! Oder - nein, bei Christus, irgendwelche Fremden! Steuere nach rechts, Dougie! Schnell, Mann, bevor sie uns entdecken!«

Die Reiter, etwa ein Dutzend, durchquerten in einiger Entfernung eine blühende Steppe, offensichtlich darauf bedacht, sich einer großen Herde grasender Hipparions gegen den Wind zu nähern.

Das rechte Ufer des Flusses war dicht bewaldet. Das Floß fand Schutz hinter Weiden, und die beiden Männer kletterten an Land. Wieder benutzte Tony das Fernrohr und spie eine Obszönität aus. »Jetzt ist's passiert! Einer von der Jagdgesellschaft hält auf den Fluß zu. Er muß uns gesehen haben.«

»Ist es ein Tanu - oder ein Gespenst?«

Tony geriet in Verwirrung. »Falls er keinen illusorischen Körper trägt ...«

»Laß mal sehen!« befahl Dougal und griff nach dem kleinen Fernrohr. Er pfiff leise. »Verdammte Scheiße! Ich fürchte, diesmal sind es tatsächlich Heuler, keine verkleideten regulären Firvulag.«

Der Reiter am gegenüberliegenden Ufer schien sie durch den Schirm aus Zweigen anzustarren.

»Haben Heuler Fernsicht wie normale Kleine Leute?« fragte Tony.

»Darauf kannst du wetten«, erwiderte der Ritter. »Ja, er weiß, daß wir hier sind. Immerhin ist der Fluß an dieser Stelle reichlich tief dafür, ihn mit einem Chaliko zu durchschwimmen.«

Der fremde Beobachter wandte schließlich sein Reittier und trabte langsam zu seinen Gefährten zurück. Tonys Seufzer der Erleichterung kam aus tiefstem Herzen.

»Bei der Mähne Aslans«, schwor Dougal, »das war knapp.«

Tony war der Panik nahe. »Wir haben uns verirrt. Ich wußte es. Wir sind den falschen Fluß hinuntergefahren, und Gott allein weiß, welchen. Vielleicht ist es irgendein Nebenfluß des Nonol.« Seine Augen irrten von einer Seite zur anderen. »Wir werden umkehren müssen, stromaufwärts. Zu Fuß. Es wird die Hölle sein, uns durch den Dschungel zu hacken, es sei denn, wir finden einen Wildpfad ...«

Dougal sah wieder durch das Fernglas. »Irgendwas im Norden. Auf dem Plateau hinter der Biegung des Flusses.« Er fuhr zusammen. »Eine herrliche Zitadelle, dünkt mich! Aber nicht Cair Paravel.« Er senkte die Stimme zu einem ehrfürchtigen Flüstern. »El Dorado!«

»Oh, um Gottes willen!« rief Tony. »Gib mir das verwünschte Glas!« Er suchte den Horizont ab und geriet in Verzweiflung. Tatsächlich war da eine exotische Stadt. Aber welche? Für Burask lag sie auf der falschen Seite des Flusses - und sie wirkte nicht zerstört. Und andere Tanu-Siedlungen gab es so weit im Norden nicht. »Was das auch sein mag, für uns bedeutet es nichts Gutes. Wir machen uns auf die Socken!«

Sie packten ihre Vorräte zusammen und begannen, sich ihren Weg durch das Buschwerk des Ufers zu höhergelegenem Grund zu hacken. Nach einer Viertelstunde schweißtreibender Arbeit gerieten sie auf einen Wildpfad, der ungefähr parallel zum Fluß lief.

»Halt die Augen offen nach Tieren!« warnte Tony. Sie marschierten in flottem Tempo südwärts, Dougal sein nacktes Schwert und Tony seine Machete in der Hand. Die Sonne stieg höher. Die Insekten erschienen. Blutegel fielen von dem breitblättrigen Unterholz und hefteten sich an Tonys Fleisch. (Zu seinem Pech trug er ein kurzärmeliges Hemd. Er beneidete Dougal um seine Kettenrüstung.) Mittags machten sie zum Essen an einem Bach halt, und als sie ihre Packen wieder schulterten, entdeckten sie eine kleine Viper, die darunter Zuflucht gesucht hatte. Sie stieß nach Tony und verfehlte knapp seinen Arm. Douglas hieb sie mit seinem Schwert entzwei.

In der Mitte des Nachmittags, als Tony schätzte, sie hätten acht oder neun Kilometer zurückgelegt, verbreiterte sich der schmale Pfad plötzlich zu einem richtigen Dschungel-Boulevard. Genau in der Mitte lag ein Haufen Kotkugeln in der Größe von Fußbällen.

Die beiden Männer blieben abrupt stehen. Eine leichte Brise traf sie im Rücken. Die Andeutung eines Donnerns hing in der Luft, und der Boden unter ihren Füßen vibrierte leicht.

Tony beschattete die Augen und blickte nach oben. »Ich sehe keine Wolken. Andererseits ...«

»Da vorn«, sagte Dougal sehr leise.

Erstaunlicherweise war das Tier, das in kurzer Entfernung unbeweglich auf dem Weg stand, vor dem Muster aus harten Lichtern und Schatten beinahe unsichtbar. Der gewaltige dreieckige Kopf mit den abgespreizten Ohren, die wie zerlumpte Fächer waren, befand sich fast fünf Meter über dem Boden. Der Rüssel war hochgerollt, die geblähten Nüstern witterten nach ihnen. Dem Kiefer entwuchsen zwei nach unten gekrümmte Stoßzähne, zur Hälfte ihrer Gesamtlänge von zwei Metern in Haut gehüllt. Das Untier hatte lange Beine, eine dunkle Farbe und die Haltung beleidigter Majestät. Es mochte zwölf Tonnen wiegen.

Das Deinotherium studierte die beiden Menschen, klassifizierte sie als eingedrungenes Ungeziefer, stieß einen Schlachtruf aus, der wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts klang, und griff an.

Tony katapultierte sich vom Pfad nach links, Dougal verschwand nach rechts. Da Tony schrie, folgte der Elefant ihm. Dünne Bäume splitterten und brachen. Der Stoßzahn bewegte seinen großen Kopf, und die elfenbeinernen Haken entwurzelten größere Stämme. Er warf sie mit dem Rüssel beiseite. Tony sprang und rutschte und schrie weiter aus voller Lunge, während das Ungeheuer ihm unter wütendem Trompeten nachkrachte wie ein laufender Berg.

Tony stolperte zurück auf den breiten Weg und raste mit Höchstgeschwindigkeit davon. Der Stoßzahn brach durch die Bäume und polterte hinterher. Die Erde bebte. Tonys Beine stampften schneller, aber der Elefant holte auf, ohne sein Trompeten zu unterbrechen.

Tony bekam Seitenstechen. Er sah rot, und sein Herz drohte zu bersten. Dann fiel er über einen getrockneten Kothaufen und bereitete sich darauf vor, zu Tode getrampelt zu werden.

Von irgendwo vor ihm kam ein Zischen. Tony hörte und fühlte einen donnernden Aufschlag. Dann stieg Staub auf und hüllte ihn ein. Das Deinotherium verstummte, und ringsum schien der erschreckte Dschungel den Atem anzuhalten.

»Ist der nicht herrlich?« jubilierte eine quiekende Stimme. »Ist der nicht absolut umwerfend?«

Der Staub trieb davon. Tony schlug die Augen auf. Vor ihm stand ein Chaliko mit prächtiger Schabracke. Auf seinem Rücken hockte ein kleiner alter Mensch mit dem Gesicht eines lustigen Seidenäffchens. Er trug die klassische Reitkleidung des englischen Gentleman-Jägers, bemerkenswert nur darin, daß der Frack türkisfarben statt rot war. Unter einen Arm hatte er ein schweres Lähmgewehr des 22. Jahrhunderts geklemmt.

Tony glotzte. Er sah weitere Chalikos und gutgekleidete Reiter, offenbar Firvulag. Ein schöner Mann und eine Frau mit dem Aussehen des Tanu-Hochadels hatten ebenfalls futuristische Waffen.

Das Seidenäffchen hüpfte herab, faßte Tony unters Kinn und sagte: »Immer mit der Ruhe, Jungchen! Du bist jetzt in Sicherheit.«

Der treue Dougal tauchte aus dem Dschungel auf, das Schwert noch in der Hand. Tony taumelte auf die Füße. Der Elefantenjäger war zu seiner niedergestreckten Beute hinübergeschlendert und stellte einen Fuß auf den Rüssel.

»Fertig mit der Kamera, liebe Katy? Cheeeese!«

Die Tanu-Dame lächelte und winkte.

Der Verrückte Greggy schulterte seine Waffe und marschierte zurück. »Und jetzt machen wir uns besser auf den Weg. Wir werden euch zwei beide mit zu uns nach Hause nehmen, nach Nionel. Es würde euch nämlich gar nicht gut bekommen ...« - der kleine Mann zwinkerte - »wenn ihr beim Erwachen eures Freundes noch hier wäret.«