19:
Interview mit einem Archonten

Wenn in Filmen jemand nach einem traumatischen Erlebnis in einem Krankenhaus aufwachte, schlug derjenige die Augen auf und fand seine gesamte Familie und Verwandtschaft mit besorgten Mienen rings ums Bett versammelt vor. Aber das Leben war kein Film, und Mort erwachte allein.

In der Krankenstation.

Schon wieder.

Blinzelnd und orientierungslos schaute er sich um, hob den Arm und bemerkte einen Blutsauerstoffspiegelsensor an seinem Zeigefinger und eine in der Beuge seines Ellbogens festgeklebte Infusionsnadel. Neben dem Bett piepte konstant ein Herzüberwachungsgerät vor sich hin. Er hob den anderen Arm – der an keinerlei Elektronik oder Schläuche angeschlossen war – und tastete behutsam sein Gesicht ab. Seine Finger stießen auf Mull und Pflaster. Er konnte nicht durch die Nase atmen und es fühlte sich an, als habe er die schlimmsten pulsierenden Kopfschmerzen der Welt. Mort erinnerte sich an das Übelkeit erregende Knirschen, das er vernommen hatte, als sein Kopf mit dem Gesicht voran auf den Boden des Versammlungssaals geknallt war. Man brauchte nicht Sherlock Holmes zu sein, um zu folgern, dass etwas dabei gebrochen sein musste.

Einfach toll ... als sei ich nicht so schon hässlich genug!

Mort ertastete die Bedienelemente des Betts und richtete das Kopfteil auf. Er schaute zum Fenster, stellte fest, dass draußen noch Nacht herrschte, und musste ein Schaudern unterdrücken. Er hatte sich noch nie vor der Dunkelheit gefürchtet, aber jetzt ... jetzt ... Mort betätigte die Ruftaste und wartete darauf, dass eine Krankenschwester reagierte.

Statt über die Gegensprechanlage Verbindung mit ihm aufzunehmen, betrat eine Schwester der Nachtschicht den Raum. Es handelte sich um eine Frau, die Mort von seinem vorherigen Aufenthalt in der Krankenstation wiedererkannte: eine ausgebildete Krankenpflegerin namens Peggy Martin. »Wieder hier, was?«, meinte sie unbeschwert. »Anscheinend gefällt’s Ihnen bei uns. Allmählich glaube ich, Sie haben sich vielleicht in mich verliebt, Mr. Lesser.«

Mort lächelte höflich. »Können Sie mich hier rauslassen?«

Durch die gebrochene Nase klang seine Stimme merkwürdig. Nasal und irgendwie pelzig.

Schwester Martin legte die Stirn in Falten. »Oooooh nein! Sie bleiben schön über Nacht zur Beobachtung hier. Sie hatten mitten während der Orientierungsveranstaltung einen schweren Epilepsieanfall.«

»Aber ich fühl mich gut«, protestierte Mort. »Ich will nicht hierbleiben. Ich will nach Hause.«

Ihm wurde weinerlich zumute. Was verabreichten sie ihm bloß mit diesem Tropf?

Peggy tätschelte seinen Arm. »Ich weiß, mein Lieber, aber Doktor Whalen will wirklich, dass Sie über Nacht bleiben.« Sie versuchte, ihn abzulenken. »Möchten Sie etwas zu trinken? Oder wie wär’s mit etwas, das Ihnen beim Schlafen hilft?«

Mort seufzte. Abgesehen von der gebrochenen Nase fühlte er sich wirklich gut. Außerdem wusste er haargenau, was ihm widerfahren war. Als die Archonten im Versammlungssaal die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hatten, da fuhrwerkten sie mit ihren gedankenleserischen Fähigkeiten in seinem Gehirn herum – zweifellos ohne böse Absicht, nur, um einen klitzekleinen Blick in seine Birne zu werfen – und hatten dabei versehentlich einen Anfall ausgelöst. Da er sich inzwischen nicht mehr in ihrer Nähe befand und keines der Wesen telepathisch sein Oberstübchen durchwühlte, hatte er sich davon erholt. So einfach war das. Aber wie sollte er das Schwester Martin erklären? Sie dürfte ihn für plemplem halten. Oder glauben, er wolle die Archonten anschwärzen. Die Menschen in Neu-Jerusalem reagierten wirklich extrem empfindlich, wenn es um ihre fliegenden Retter ging. Wahrscheinlich baute man gerade irgendwo eine nette kleine Gummizelle für ihn.

»Nein, schon gut. Keine Pillen«, erwiderte Mort niedergeschlagen.

Allmählich wurde ihm alles klar.

Da niemand sonst in Neu-Jerusalem mit epileptischen Anfällen umkippte, musste er davon ausgehen, dass der neurologische Schaden, den er durch den irren Da Vinci erlitten hatte, irgendwie die Telepathie der Archonten beeinträchtigte. Und durch seinen demolierten visuellen Cortex nahm er sie so wahr, wie sie in Wirklichkeit aussehen. Ihr engelhaftes Erscheinungsbild musste so etwas wie ... eine telepathische Projektion sein.

Aber warum taten sie das?

Vermutlich, damit die Menschen ihre Hilfe annahmen, statt entsetzt davonzurennen, dachte er. Oder damit die Menschen sie nicht wie Wachteln vom Himmel schossen.

»Sind Sie sicher?«, hakte Schwester Martin nach.

Mort nickte abwesend.

Da Vinci hatte ihm mit einem Bolzenschussapparat in den Kopf geschossen und jenen Teil des Gehirns beschädigt, der visuelle Informationen verarbeitete. Durch das entstandene Trauma war er beispielsweise außerstande einen Apfel von einer Frisbeescheibe zu unterscheiden, aber sein Handicap ließ ihn auch immun gegen die telepathischen Trugbilder der Archonten werden.

Deshalb nahmen alle anderen Engel wahr, wenn sie die Archonten ansahen, während Mort sie als die ... Kreaturen erkannte, die sie waren. Hässliche Kreaturen mit Haifischzähnen. Was immer sie sein mochten.

Aufgeregt wollte Mort von Schwester Martin wissen: »Sagen Sie, Peggy, haben Sie meinen Freund Peter Bolin gesehen? Ich bin sicher, er ist mit mir hierhergekommen. Wissen Sie, wann er gegangen ist?«

»Ihr Freund?«, erwiderte Schwester Martin und überprüfte seinen Tropf. »Er war noch vor Kurzem hier. Ich glaube, er ist rüber in den Warteraum gegangen, um sich Kaffee zu holen. Bestimmt kommt er bald zurück.«

»Alles klar, danke. Sonst brauche ich nichts.«

»Na schön«, sagte die ausgebildete Pflegerin mit einem ermutigenden Lächeln. Abermals tätschelte sie seinen Arm. »Versuchen Sie einfach, sich ein wenig auszuruhen. Ich bin sicher, Doktor Whalen wird Sie bald entlassen. Er ist bloß besorgt wegen Ihres Anfalls.«

Mort nickte. Er konnte es kaum erwarten, mit Pete zu sprechen. Pete hörte ihm bestimmt zu. Pete hielt ihn nicht für verrückt. Vielleicht glaubte ihm Pete nicht. Vielleicht verstand er es nicht einmal, aber er hielt Mort zumindest nicht für wahnsinnig.

Allerdings ging es um mehr als das, nicht wahr?

Ja, musste sich Mort eingestehen.

Er hatte Angst.

Er brauchte Pete, weil er Angst hatte. Pete war derjenige mit den Eiern in der Hose. Pete bildete Morts Rückgrat.

Die Archonten waren nicht, was sie vorgaben zu sein. Sie verschleierten ihr wahres Erscheinungsbild. Mort konnte zwar nachvollziehen, weshalb sie es für nötig erachteten, aber er fragte sich, welche Geheimnisse sie sonst noch verbergen mochten. Und es warf zudem die Frage auf: Wenn sie keine Engel waren ... was waren sie dann?

Mort hörte, wie sich sein Freund näherte. Er erkannte Pete am Klack-klack-klack seiner Cowboystiefel. Mort lauschte, wie sein Kumpel anhielt, um bei den Damen an der Schwesternstation vorbeizuschauen. »Wie geht’s, wie steht’s?«, erkundigte sich Pete. Eine gedämpfte Unterhaltung, dann erneut das Klack-klack-klack, diesmal etwas schneller. Grinsend kam Pete durch die Tür. »Mort! Du bist aufgewacht!«

»Ja.«

Pete setzte sich auf den Stuhl neben dem Patientenbett. »Wie fühlst du dich?«

»Gut.«

»Mann, du hast mir echt ’ne Heidenangst eingejagt.«

»Ich weiß. Tut mir leid.«

»Der Arzt sagt, du hast einen schweren Epilieranfall gehabt. Er meint, die Ursache sei wahrscheinlich das Loch in deinem Hirn gewesen.«

»Epilepsieanfall«, berichtigte ihn Mort und lächelte, aber das Lächeln fühlte sich gezwungen an. Er überlegte, wie er seinen Verdacht Pete gegenüber beschreiben sollte, ohne dass sein Freund ausrastete.

»Epilieranfall ... Epilepsieanfall – ist doch Jacke wie Hose. Jedenfalls dachte ich, du kratzt ab.«

Bevor Mort eine Idee kam, wie er seinen paranoid klingenden Verdacht zur Sprache bringen sollte, klopfte jemand leise an die Tür. Mort und Pete schauten gleichzeitig zu dem Mann, der unmittelbar vor dem Eingang stand. Es handelte sich um Mr. Eckenberg, den Verwaltungsleiter von Neu-Jerusalem.

Morts Herz schlug einen kleinen Salto. Seine Gliedmaßen fühlten sich plötzlich kalt und kribbelig an.

»Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte der Mann höflich. »Ich habe mich gefragt, ob ich wohl mit Mr. Lesser sprechen könnte.«

Er trug immer noch denselben dreireihigen Anzug wie bei der Orientierungsveranstaltung. Aus nächster Nähe wirkte er ein wenig kleiner als im Versammlungssaal auf dem Podium. Außerdem war er ein bestechend gut aussehender Mann, ganz wie ein Fernsehstar, wenngleich er müde wirkte und dunkle Ringe unter den Augen sowie Fältchen um die Mundwinkel hatte. Und er schien angespannt zu sein. Die Stirn des Mannes wies leichte Runzeln auf, die Schultern hatte er ein wenig hochgezogen, als rechne er mit Schwierigkeiten.

Pete stand auf und streckte eine Hand aus. »Wie geht’s?«

Mr. Eckenberg schüttelte die Hand. »Gut. Ist ein langer Tag gewesen, aber es geht mir gut.«

»Peter Bolin. Mitglied von ›Hier regieren ...‹, äh, von Pionierregiment vier«, stellte sich Pete vor.

Mr. Eckenberg grinste. »Wollten Sie gerade ›Hier regieren wir‹ sagen?«

»Ja.«

»Ich war mit ›Hier regieren wir‹ unterwegs, als ich hier angekommen bin.«

»Ohne Scheiß?«

»Ja.«

Mr. Eckenbergs Lächeln verblasste, als er sich darauf besann, weswegen er hergekommen war. Er richtete einen ernsten Blick auf Mort und sagte: »Morton Lesser, der Anführer der Archonten möchte mit Ihnen sprechen. Yaldabaoth hat mich persönlich hergeschickt, um Sie in sein Büro einzuladen.«

»Ohne Scheiß?«, fragte Pete erneut und klang dabei beeindruckt.

Mort hingegen fühlte sich keineswegs beeindruckt. Eher verängstigt. Sein Puls auf dem Monitor beschleunigte jäh von 60 auf 120 Schläge pro Minute. Ein öliger Schweißfilm tauchte auf seiner Stirn auf. »Warum will er mich sehen?«, fragte Mort mit kläglicher Stimme.

Schulterzuckend lächelte Eckenberg. »Ich pflege seit mittlerweile mehreren Monaten Umgang mit diesen Kre... mit den Archonten, und ich habe immer noch keine Ahnung, wie sie ticken. Sie denken nicht so wie wir. Ich glaube, dass sich Yaldabaoth für Ihren Anfall bei der Orientierungsveranstaltung verantwortlich fühlt. Wahrscheinlich will er sich bei Ihnen entschuldigen.«

Mort nickte. Er fühlte sich wie betäubt. Wenn man erkannte, dass es keinen Ausweg gab, blieb einem nichts als blanke Angst. Dieselbe fatalistische Taubheit hatte ihn befallen, als er in dem Frito-Lay-Lieferwagen festgesessen und begriffen hatte, dass er darin sterben musste und es keine Möglichkeit gab, das zu verhindern. Natürlich hatte Pete ihn damals gerettet, aber Mort hatte nicht vor, seinen Freund in Gefahr zu bringen. Wenn Yaldabaoth ihn sehen wollte, musste er hingehen. Was konnte er sonst tun? Wenn er sich weigerte, gab er den Kreaturen dadurch bloß zu verstehen, dass er ihr Geheimnis kannte. Und wer vermochte schon zu sagen, was sie täten, wenn ihnen aufging, dass er Bescheid wusste?

»In Ordnung«, presste Mort atemlos hervor. »Soll ich gleich hingehen?«

Eckenberg nickte. »Er möchte Sie noch heute Nacht sehen. Doktor Whalen hat Ihre Entlassung bereits genehmigt.«

Mort drehte sich der Magen um. Das ging alles viel zu schnell. Er hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, Pete von dem Verdacht zu berichten, den er hegte.

Mit rasenden Gedanken versuchte Mort, den Ausgang dieser viel zu rasch nahenden Konfrontation zu prognostizieren. Schwester Martin kam mit verdrossener Miene herein. Mit flinken, ruckartigen Bewegungen befreite sie Mort von sämtlichen Anschlüssen an die Überwachungsgeräte. Sie löste die Pflaster von Morts Arm und entfernte die Infusionsnadel – was sie deutlich vorsichtiger tat. Abschließend klebte sie einen Wattebausch auf die winzige Wunde.

»Es ist sehr kalt draußen«, meldete sich Mr. Eckenberg zu Wort. »Ob Sie wohl so freundlich sind, Mr. Lesser ein paar warme Decken für die ... äh ... Fahrt hinüber zu geben?«

Schwester Martin schleuderte Eckenberg einen verächtlichen Blick entgegen und ging zum Wäscheschrank des Raums. Während sie einige dünne Krankenhausdecken daraus hervorholte, betrat ein Pfleger das Zimmer und ließ das Seitenteil von Morts Bett hinunter. Pete und der Pfleger halfen Mort in einen Rollstuhl, obwohl sich Mort absolut in der Lage fühlte, aus eigener Kraft über das Gelände zu laufen. Der Pfleger klappte die Fußrasten auf und verschwand wieder.

Eckenberg setzte dazu an, etwas zu Peggy zu sagen, aber die ausgebildete Krankenpflegerin drehte sich abrupt um und stapfte aus dem Raum.

Mit hochgezogenen Augenbrauen stieß Eckenberg einen leisen Pfiff aus.

»Ich komme auch mit«, verkündete Pete und legte die Hände auf die Griffe des Rollstuhls.

»Das musst du nicht«, sagte Mort.

»Das ist wirklich nicht nötig«, stieß Eckenberg gleichzeitig hervor.

»Ist mir egal. Ich komme mit«, entgegnete Pete und reckte trotzig das Kinn vor.

Eckenberg schaute von Mort zu Pete und seufzte. »Na schön.«

Mort ließ sich von Pete aus dem Zimmer schieben. Er wusste, dass es keinen Sinn machte, mit Peter Bolin zu streiten. Pete hätte selbst mit dem Teufel gerungen, um seinen Willen durchzusetzen. Außerdem: Falls die Archonten vorhatten, ihm etwas anzutun, konnte keiner der beiden Männer etwas tun, um es zu verhindern. Die seltsamen Wesen beherrschten das Fliegen. Sie konnten Gedanken lesen. Verdammt, wahrscheinlich konnten sie Mort mittels Telepathie ermorden, wenn sie wollten. Oder seinen Kopf explodieren lassen wie der Typ in dem alten Film Scanners – Ihre Gedanken können töten. Das hieß also, dass sie nicht beabsichtigten, ihn umzubringen. Dennoch fürchtete sich Mort. Er wusste nicht, was sie von ihm wollten, aber er vermutete, dass die ganze Sache unerfreulich endete. »Unerfreulich« wurde es für Mort so häufig, dass es genauso gut sein zweiter Vorname sein könnte.

Eckenberg pfiff die Titelmelodie der Andy Griffith Show vor sich hin, als sie den Flur durchquerten. An der Schwesternstation stand Doktor Whalen, die Fäuste mit finsterer Miene in die Hüften gestemmt. Eckenberg schien keine Notiz von den Dolchen zu nehmen, die aus den zornigen Augen des Krankenhauspersonals auf ihn abgefeuert wurden. Er lief mit unverbindlichem Gesichtsausdruck neben Morts Rollstuhl her und richtete den Blick stur nach vorn.

Eckenberg pfiff im Aufzug während der kurzen Fahrt hinunter zur Eingangshalle weiter. Trotz seiner Angst verspürte Mort den wirren Drang, mit dem Mann mitzupfeifen. Ich verliere allmählich den Verstand, ging ihm durch den Kopf.

Der Verwalter von Neu-Jerusalem ließ den Politiker in sich heraushängen, indem er einigen Leuten in der Eingangshalle grüßend zunickte, dann gelangten sie nach draußen in die schneidende Kälte. Als sie zu dritt das Gelände überquerten, pfiff Eckenberg die Melodie an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte.

Der Himmel präsentierte sich wolkenlos. Die Sterne wirkten sehr hell und nah. Der Dreiviertelmond strahlte wie eine silbrige Lampe am Firmament – so hell, dass Mort die schartigen, verschneiten Gipfel der Unicoi Mountains ausmachen konnte, die im überirdisch anmutenden Licht bläulich schimmerten.

»Mann, die Luft ist heute Nacht ganz schön frostig!«, entfuhr es Pete. Sein Atem zischte dabei dampfend zwischen den Lippen hervor.

In der stillen Dezembernacht klang seine Stimme viel zu laut.

Das Verwaltungsgebäude tauchte im Mondschein vor ihnen auf. Abgesehen vom oberen Stockwerk herrschte hinter allen Fenstern Dunkelheit. Eckenberg wies Pete an, Mort zu einem Nebeneingang zu schieben, und kramte seine Schlüssel hervor. Er ließ sie durch eine rote Metalltür mit einem Guckloch hinein und führte sie einen kurzen, finsteren Korridor entlang zu einem Aufzug.

Eckenberg fing wieder zu pfeifen an, aber diesmal sagte Pete scharf: »Hey, Mann! Könnten Sie damit wohl aufhören?«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Eckenberg.

Mort empfand die Stille während der kurzen Fahrt nach oben als wesentlich schlimmer.

Mit einem Klingeln öffneten sich die Türen des Aufzugs. Kaum waren sie aufgeglitten, erblickte Mort den Archonten. Mit den Händen hinter dem Rücken wartete er am Ende des Gangs.

Mort erkannte die Kreatur. Es handelte sich um das Wesen, das ihn vor Da Vinci gerettet hatte – um das Geschöpf, das sich Metatron nannte.

Es drehte sich um, als Pete seinen Freund aus dem Aufzug schob. Seine Augen, schwarz wie Pech, verengten sich eine Spur.

Es erkennt mich!, dachte Mort. Es erinnert sich aus DuChamp an mich! Einen Moment lang fühlte er sich dorthin zurückversetzt. Metatron trug ihn über das Dach des Gebäudes der DuChamp Freight Company, der heiße Wind blies ihnen in die Gesichter, rings um sie herum wirbelte Glutasche. Die Kreatur hatte den Blick über das Inferno wandern lassen und gemurmelt: »Schau, wie deine Stadt brennt, Morton Lesser. Hätte ich ein Herz, ich glaube, es wäre heute tausendfach gebrochen.« Das Gesicht des Wesens hatte sich nur Zentimeter von Morts entfernt befunden, und trotz seiner einsetzenden Bewusstlosigkeit und der Tatsache, dass man sein Gehirn durch das Loch in seinem Kopf sehen konnte, hatte er instinktiv gewusst, was für ein Geschöpf ihn in den Armen hielt. Er hatte es gewusst und sich davor gefürchtet wie ein Kaninchen vor einem Bluthund.

Am liebsten hätte Mort geschrien. Er wollte sich am Rahmen der Fahrstuhltüren festklammern. Er wollte aufspringen und wegrennen. Sich durch das nächstbeste Fenster auf den Asphalt werfen.

Aber er tat nichts von alldem.

Stattdessen ließ er sich von Pete aus dem Fahrstuhl rollen und über den dicken burgunderroten Teppich im Flur des dritten Stockwerks schieben.

»Guten Abend, Metatron«, begrüßte Eckenberg die Kreatur.

Metatron verbeugte sich elegant mit dem gesamten Oberkörper, eine altmodische Geste. Die großen, funkelnden schwarzen Augen richteten ihren Blick auf Mort und die roten Lippen strafften sich: ein schreckliches Grinsen, zu breit und mit zu vielen Zähnen. »Ich erinnere mich an dich«, murmelte das Wesen mit perfekt intonierter Stimme. Sie klang wirklich wunderschön. War auch diese honigsüße Stimme nur eine Illusion? »Du siehst gut aus, Morton Lesser.«

Morts Mund fühlte sich wie mit Watte ausgekleidet an, dennoch gelang es ihm zu krächzen: »Mehr oder weniger.«

Metatron lachte leise. »Richtig.«

Mort rechnete damit, dass die Kreatur in sein Gehirn eintauchte, doch das seltsame Kribbeln blieb aus und es setzten keine Schmerzen ein.

»Yaldabaoth möchte allein mit Mort sprechen«, verkündete Metatron. »Macht es Ihnen etwas aus, hier bei mir zu warten, Mr. Eckenberg? Mr. Bolin?« Freundlich schaute er von Pete zum Verwaltungsleiter.

»Ne, das ist schon in Ordnung«, murmelte Pete mit verschwommenem Blick.

»Ja, gut, gut«, stimmte auch Eckenberg zu.

Metatron legte die Hände auf die Griffe von Morts Rollstuhl und schwenkte ihn auf Yaldabaoths Büro zu. Die Türen bestanden aus glänzend lackiertem Kirschholz. Mort konnte seine Reflexion darin erkennen, nicht jedoch die von Metatron. Mort beobachtete, wie sich der Knauf von selbst drehte und die Tür geräuschlos nach innen aufschwang.

Metatron schob ihn vorwärts.

Mort hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Vielleicht kahle Steinwände, triefend und schleimig. Von der Decke baumelnde Haken und Ketten. Stattdessen erwies sich Yaldabaoths Büro als geschmackvoll, geradezu anheimelnd eingerichtet. Eine Fülle von Lampen und Wandleuchten spendete angenehmes Licht. Bücher säumten die Wände. Echte Bücher, keine Imitationen, mit denen reiche Leute die Regale ihrer Bibliothek füllten, damit man sie für klug und belesen hielt. Eine Kupferstatue von Atlas, der die Welt auf seinen muskulösen Schultern trug, stand auf der Ecke eines Mahagonischreibtischs. An der gegenüberliegenden Wand hing eine riesige Landkarte der Vereinigten Staaten mit Kreisen und unentzifferbaren Symbolen in roter Tinte darauf.

»Bitte lass uns allein«, sprach Yaldabaoth. Er saß auf einem Lederstuhl mit hoher Rückenlehne, von Mort abgewandt.

Metatron verneigte sich, zog sich zurück und schloss die Tür mit einem kaum hörbaren Klicken.

»Wie fühlst du dich, Mort?«, erkundigte sich Yaldabaoth. Er drehte sich dabei nicht um.

»Gut. Das werde ich andauernd gefragt. Es geht mir gut.«

Mort spürte, wie die Kreatur seinen Geist abtastete, was er als federleichtes Kribbeln registrierte.

»Bitte tu das nicht!«, stieß Mort rasch hervor, und sein Herz setzte einen Schlag aus.

»Entschuldigung. Hat man sich die Gewohnheit, die Gedanken anderer empfindungsfähiger Wesen zu belauschen, einmal angeeignet, ist es schwierig, sie wieder abzulegen. Die Versuchung ist immer groß.«

Mort spürte, wie sich die neugierigen Fühler aus seinem Kopf zurückzogen, und er entspannte sich ... ein wenig.

»Möchtest du eine Erfrischung? Ich habe Wasser. Oder lieber Kaffee?«

»Nein. Nein, danke.«

Mort wünschte, Yaldabaoth hätte sich umgedreht. Es missfiel ihm, mit der Rückenlehne des Stuhls der Kreatur zu reden. Dadurch ging seine Fantasie nur noch mehr mit ihm durch und seine Fantasie brauchte wahrlich keinen zusätzlichen Ansporn.

Sein Gastgeber schwieg fast eine volle Minute lang. Schließlich flüsterte Yaldabaoth leise: »Du siehst uns so, wie wir wirklich sind. Nackt, unseres Zaubers beraubt.«

Es klang nicht wie eine Frage. Allerdings auch nicht ganz wie eine Feststellung. Zweideutig hing die Äußerung zwischen ihnen.

»Ich denke schon«, erwiderte Mort genauso leise.

Da begann der Lederstuhl, sich zu drehen, und mit ihm der mächtige Archont, der Zentimeter für Zentimeter in Morts Sichtfeld geriet. Mort schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, aber er senkte den Blick nicht. Stattdessen ließ er die Züge der runzligen Kreatur auf sich wirken und bemühte sich nicht zusammenzuzucken. Weiße verdorrte Haut. Reflektierende schwarze Augen. Feuchte rote Lippen wie eine blutige Wunde, aus der scharfe weiße Zähne wie krumme Zaunlatten hervorlugten. Die Ohren fielen klein und spitz aus, wie Mort bemerkte. Komisch, die Ohren hatte er zuvor nie richtig bemerkt.

»Du weißt, was wir sind?«, erkundigte sich Yaldabaoth. Mort spürte, dass keine Gefahr damit einherging, die Frage zu beantworten. Die Kreatur wirkte lediglich neugierig.

»Vampire, richtig?«, fragte Mort.

Yaldabaoth lächelte. Sein Kinn senkte sich kurz, bevor es sich erneut hob. »Das ist die moderne Bezeichnung für meine Rasse. Euer ... menschliches Wort für unsere Art. Wir mögen es nicht besonders. Es ist so negativ besetzt.«

Dann tat Yaldabaoth etwas äußerst Überraschendes. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus einer der Schreibtischschubladen und steckte sich eine Kippe in den Mund. Und er zündete sie nicht mit einer kitschigen Demonstration magischer Kräfte an, sondern so, wie jeder andere – mit einem billigen Plastikfeuerzeug. Nachdem er eine Rauchwolke ausgeblasen hatte, zuckte er mit den Schultern. »Eine schlechte Angewohnheit, die ich von einem sterblichen Bekannten übernommen habe. Das war ... in den 1920ern, glaube ich. Wenn man erst mal vier-, fünfhundert Jahre alt ist, fängt man an, den Überblick über die Jahrzehnte zu verlieren.« Er sog tief an der Zigarette und blies erneut Rauch aus. »Du hast doch nichts dagegen, oder?«

Mort schüttelte den Kopf. »N-Nein.«

»Gut. Ich muss zugeben, du bereitest mir ein wenig Kopfzerbrechen, Mort.«

»Ich?«, fragte Mort ungläubig.

»Ja. Mein Volk hat eine instinktive Angst davor, von deiner Art gesehen zu werden. Damit meine ich, als das gesehen zu werden, was wir in Wirklichkeit sind. In unserer natürlichen Form. Aus historischer Sicht habt ihr Sterblichen den unkontrollierbaren Zwang demonstriert, angespitzte Holzpflöcke durch unsere Herzen zu rammen. Das ist ein eher unerfreulicher Wesenszug. Ausgesprochen rüde.«

Mort lachte. Er konnte nicht anders.

Yaldabaoth lächelte mit funkelnden Augen. »Ja, wir besitzen Sinn für Humor. Bei manchen von uns ist er ausgeprägter als bei anderen.«

»Und was hast du jetzt, da ich euer Geheimnis kenne, mit mir vor?«, wollte Mort wissen, der sich etwas selbstsicherer fühlte. »Willst du mich töten? Oder mich in einen von euch verwandeln?«

Yaldabaoths Augen weiteten sich. Auch sein Grinsen wurde breiter. »Du bist sehr scharfsinnig, Mort Lesser. Deshalb habe ich dich herbringen lassen. Ich muss erfahren, was du planst, mit diesem Wissen anzufangen. Ich kann deinen Geist nicht täuschen. Durch die Verletzung, die du erlitten hast, bist du immun gegen unsere telepathischen Fähigkeiten. Da ich dich nicht vergessen lassen kann, was du herausgefunden hast, muss ich dich fragen, was du in Hinblick auf uns zu unternehmen gedenkst. Unsere Beweggründe müssen offensichtlich für dich sein.«

»Ja. Ihr müsst unsere Rasse retten, weil ihr euch von uns ernährt. Wenn wir aussterben, sterbt ihr ebenfalls.«

»Richtig. Ich fürchte, wir sind nicht ganz so ... selbstlos, wie ich dein Volk glauben lasse.«

Mort zuckte mit den Schultern. »Ist immer noch besser als das Aussterben beider Arten.«

Abermals weiteten sich Yaldabaoths Augen. »Wieder richtig. Ich bin ein wenig verblüfft. Du bist so ein vernünftiges Geschöpf.«

Mort lächelte. »Was erwartest du denn, was ich unternehme? Einen Aufstand gegen euch anzetteln? Herausfinden, wo ihr eure Särge versteckt, und euch allen Holzpflöcke durch die Herzen rammen?«

Yaldabaoth lächelte verkniffen. »In der Vergangenheit ist das vorgekommen.«

Mort beugte sich vor. Nun war es an ihm, seinem Gegenüber eine Frage zu stellen. »Sag mir eins – und sei ehrlich«, forderte er Yaldabaoth auf. »Wenn du vorhast, mich zu töten, dann tötest du mich. Ich kann nichts tun, um dich davon abzuhalten. Ich möchte nur wissen, wie dein Volk uns sieht. Sind wir wie Rinder für euch? Ist dieser Ort, dieses Neu-Jerusalem ... so etwas wie eine Farm?«

Gekränkt schrak Yaldabaoth zurück. »Natürlich nicht! Morton – Mort ... wir lieben euch! Ich lüge nicht, wenn ich das sage. Ohne dein Volk müsste unsere Art vergehen und aussterben. Ich gehe sogar so weit, dass ich behaupte, deine Spezies, deine Rasse, jeder und jede Einzelne von euch sind uns heilig. Wir bemühen uns sehr, euch nicht zu verletzen. Wir können von euch trinken, ohne euch zu töten, und wenn wir fertig sind, beeinflussen wir euren Geist so, dass ihr gar nicht bemerkt, was geschehen ist. Bitte, du musst mir glauben. Der einzige Grund, warum wir unsere mentalen Fähigkeiten einsetzen, um unsere wahre Natur zu verbergen, ist, dass deine Art uns als so abstoßend empfindet. In der Vergangenheit hat dein Volk Kreuzzüge gegen uns geführt. Vor weniger als einem Jahrtausend habt ihr uns an den Rand der Ausrottung gedrängt.«

Mort lehnte sich zurück. »Na schön, ich glaube dir. Ich weiß nicht genau, warum – aber ich tue es. Ich verspreche, dass ich niemandem etwas erzähle. Ich werde euer Geheimnis bewahren. Das schwöre ich.«

Yaldabaoth schaute reumütig drein. Seufzend drückte er seine Zigarette aus. »Ich wünschte, es wäre so einfach«, sagte er.