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Die Merry Shanty

In seinem Leben vor den Zombies hatte Mort Lesser einen Comicladen geführt. Er hatte ihn PENG Comics genannt. Irgendein Schlauberger hatte ihn schließlich darauf hingewiesen, dass »Peng« ein Vogel aus der chinesischen Mythologie sei, und gefragt, was das denn mit Comics zu tun habe. Aber Mort maß der Bemerkung keine Bedeutung bei. Die jungen Leute, die in seinen Laden kamen, verstanden von chinesischer Mythologie in der Regel so viel wie eine Kuh vom Rückenschwimmen. Mort blieb bei PENG, denn wenn jemand in einem Comic eins verpasst bekam, weil er ein Mistkerl war, wurde das unweigerlich von einem großen PENG! in knalligen Lettern begleitet.

Die schnelle, schlichte Gerechtigkeit in den Comicuniversen hatte Mort schon immer gefallen. Im Universum der Superhelden gab es selten graue Zwischentöne. Gut und Böse grenzten sich immer klar voneinander ab und für die Schurken zahlten sich ihre Verbrechen nie aus. Für Mort kam das Lesen von Comics einer Zen-Meditation gleich. Die Geschichte und die Botschaft empfand er genauso wichtig wie die Farben der illustrierten Seiten. So einfach und direkt wie dieses eine Wort: PENG.

Er las die Hefte schon seit seiner Kindheit. Dem kleinen Mort hatten sie eine Flucht vor den Erniedrigungen ermöglicht, die es mit sich brachte, ein krankhaft fettleibiges Kind in einer Welt junger, fitter, schöner Kinder zu sein; und damit auch hässlicher, langsamer und schwächer als alle anderen zu sein. Eine Flucht davor, »Mort, die Tort’« genannt zu werden – einer von Dutzenden unheimlich intelligenten Spitznamen in der Grundschule. Und für den erwachsenen Mort blieb es eine Flucht. Eine Flucht vor der düsteren, langweiligen Realität, eine Flucht vor der Einsamkeit und vor seiner wachsenden Enttäuschung über die Banalität des Universums, in das er sein Leben gelenkt hatte. Wenn er Comics las, brach er aus der Gewöhnlichkeit aus. Die Welt wurde dann größer, strahlender, fantastischer und er schlüpfte in die Rolle eines Helden.

Sein Laden warf Gewinn ab, wenn auch nicht viel. Wie sein Pa zu sagen pflegte: Manchmal isst man Steak und manchmal trocken Brot. Wie vermutlich jeder Besitzer eines Kleinunternehmens bestätigt hätte, bestand der einzige echte Vorteil, den ein eigener Laden mit sich brachte, darin, sein eigener Boss zu sein. Mort wachte niemals morgens auf und überlegte, ob er zur Arbeit gehen oder doch lieber den Kopf ins Ofenrohr stecken sollte. Nie brüllte ihn jemand wegen eines Fehlers an oder schob ihm die Schuld für etwas in die Schuhe, das er gar nicht zu verantworten hatte.

Und das Beste von allem: Er brauchte nicht für jemanden zu schuften, der weniger intelligent und weniger qualifiziert als er selbst war. Mort hatte es immer gehasst, unter dem Neffen oder Schwiegersohn irgendeines Regionalleiters zu arbeiten. Diese Typen entpuppten sich unweigerlich als dämlich und stets darauf bedacht, jeden Mitarbeiter fertigzumachen, den sie auch nur annähernd als bedrohlich empfanden.

PENG Comics warf genug ab, um alle Rechnungen zu bezahlen. Der Laden deckte die Miete für seine schöne, wenn auch kleine Wohnung. Er verdiente genug, um ab und zu etwas für seine Actionfigurensammlung und für Unterhaltungselektronik zu verprassen. Mort besaß ein anständiges Auto, einen großen Fernseher, eine Xbox, eine Playstation und eine Wii. Und sein Kühlschrank war immer gut gefüllt.

Das Leben lief prächtig für ihn.

Na ja ... es war in Ordnung. Zumindest das.

Manchmal fühlte er sich einsam. Er ging nicht oft mit dem anderen Geschlecht aus. Frauen fanden ihn nicht wirklich interessant. Wahrscheinlich wäre er als reicher Mann oder Erbe irgendeines betuchten Verwandten mit seinem schlichten Aussehen und seiner molligen Statur durchgekommen, aber es gab keine familiären Bande zu irgendwelchen Millionären. Andere Männer gelangten durch Charme oder Beharrlichkeit zum Erfolg, doch Mort war ein bisschen steif und warf meistens zu schnell das Handtuch. Zumindest war das Junggesellenleben von Vorteil, seit das Armageddonvirus zuschlug. So brauchte er sich wenigstens nur um sich selbst zu kümmern.

Das erste Anzeichen dafür, dass etwas mit der Welt fürchterlich schiefging, hatte ein merkwürdiger Bericht in den Abendnachrichten geliefert. Kein großer Aufmacher zur stetig verkommenden Wirtschaft oder einem Senator, der Schnappschüsse seines Schniedels per E-Mail an eine bedauernswerte Kongressmitarbeiterin geschickt hatte, sondern eher eine jener merkwürdigen kleinen Storys, die für ein, zwei Tage ins Rampenlicht rückten, weil sie die Menschen dazu veranlassten, »Pfui!« zu sagen.

Die Geschichte der Merry Shanty.

Am 20. August des Jahres, in dem die Welt starb, hievten Fischer, die vor der Küste von New England auf einem Kahn namens Merry Shanty arbeiteten, mehrere ungekennzeichnete Fässer an Bord, als sie ihre Schleppnetze einholten. Drei rostige Behälter, übersät von Seepocken und Meeresalgen. Als die Fischer versuchten, die Netze zu entwirren, fiel eines der 200-Liter-Fässer aufs Deck und brach auf. Der Inhalt schwappte heraus und setzte die Seeleute einer hochgradig toxischen und unbekannten Gülle aus ätzenden Chemikalien und organischem Glibber aus.

Die Nachrichtensprecherin berichtete, es sei nicht ungewöhnlich, dass Fangschiffe illegal entsorgten Giftmüll einholten. Anscheinend hatte sich das in den letzten Jahren zu einem echten Problem entwickelt. Dieser Zwischenfall jedoch unterschied sich von allen übrigen dadurch, dass einer der Fischer nach dem Kontakt mit den Chemikalien innerhalb von Minuten starb. Drei weitere wurden mit schweren Verätzungen und Krampfanfällen in ein örtliches Krankenhaus eingeliefert, nachdem das Schiff in den Hafen zurückgekehrt war. Zwei der Männer befanden sich dem Bericht zufolge in kritischem Zustand. Die Umweltschutzbehörde untersuchte den Fall, hatte bisher aber noch keine offizielle Stellungnahme abgegeben.

Mort sah sich den Bericht auf seinem Breitbildfernseher in HD an, während er auf seinem Lehnsessel von La-Z-Boy saß, das Abendessen auf einem Holztablett vor sich. An jenem Abend genehmigte er sich eine Pizza von Tony’s und Fritten mit Käsesoße. Als der Bericht endete, rümpfte Mort die Nase und murmelte: »Pfui!« Dann fuhr die Nachrichtensprecherin mit dem neuesten Skandal um ein Prominentensexvideo fort – Mort merkte sich geistig vor: Später googeln! – und er verdrängte die Merry Shanty und deren unglückselige Crew.

Bis zum nächsten Tag.

Am nächsten Nachmittag kam Morts Teilzeitmitarbeiter, um dabei zu helfen, den allwöchentlichen Ansturm am Freitag nach der Schule zu bewältigen. Der Junge hieß Fred Moore.

Manchmal scherzten sie über ihre Namen. Mort und Fred. Es schien fast, als hätten ihre Eltern sie vorsätzlich zu einem Leben als Nerds verdammt. »Mort, die Tort’« und »Fred, das lebende Pamphlet«. »Warum konnten uns unsere Eltern nicht Max und Fallon taufen?«, hatte Mort einmal gefragt. »Oder vielleicht Mike und Frank.«

»Mir gefallen Ace und Bronson.«

»Das fängt aber nicht mit M und F an.«

»Ach ja, richtig«, hatte Fred kichernd zugestanden.

Fred war so spindeldürr, dass die Menschen bei seinem Anblick regelrecht zusammenzuckten. Außerdem war er ein Rotschopf, und zwar kein gewöhnlicher Allerweltsrotschopf, sondern einer in Großbuchstaben. Haare so orange wie ein Kürbis. Weiße, vor Sommersprossen strotzende Haut. Fred hatte so schillernd rote Haare, dass sogar der Komiker Carrot Top, selbst ein Rotschopf, zweifellos innegehalten und ihn verblüfft angestarrt hätte. Conan O’Brien wäre vermutlich so etwas wie »Mann, roter als jeder Kommunist!« herausgerutscht.

Fred war ein großer Fan von Green Lantern. Außerdem sammelte er die Vertigo-Reihe von DC. Hellblazer, Sandman, all das abgefahrene Zeug. Sie unterhielten sich gerade über seinen grauenhaften Geschmack bei Comics, als Fred auf die Besatzung der Merry Shanty zu sprechen kam.

»Hast du das von diesen Fischern gehört, die Fässer mit Giftmüll an Bord ihres Schiffs gehievt haben?«

Mort stand gegen die Ladentheke gelehnt da und mampfte Chips mit Cheese-and-Onion-Geschmack. Im Geschäft herrschte gerade eine vorübergehende Flaute, also nutzte er die Pause, um seine Energiereserven aufzutanken. »Ich hab gestern Abend was darüber in den Nachrichten gesehen«, antwortete er.

»Ne. Ich rede von heute Morgen. Im Internet.«

Mort runzelte die Stirn. »Ich bin heute noch nicht online gewesen. Hatte zu viel zu tun.«

Fred grinste schaurig. »Ich hab in einem Blog gelesen, dass einer der Typen in kritischem Zustand gegen vier Uhr morgens gestorben ist. Komplett abgenibbelt, verstehst du? Der Arzt hat ihn mit allem Drum und Dran für tot erklärt. Und dann, etwa 15 Minuten später, setzt er sich plötzlich auf und beißt einer der Krankenschwestern in den Arm. Der Typ ist total durchgeknallt. Hat versucht, ihr den Arm abzunagen, als habe er Tollwut oder so.«

Mort grinste. »Glaubst du wirklich alles, was du im Internet liest?«

»Nein.«

»Von welcher Website hast du das?«

»War bloß das Blog von irgendeinem Kerl. Der Typ arbeitet als Pfleger in dem Krankenhaus, in dem es passiert ist. Er hat geschrieben, es kam ihm vor, als sei der Mann ins Leben zurückgekehrt. Hat sich in einen Zombie verwandelt wie in dem Film Die Nacht der lebenden Toten. Sie mussten den Freak am Bett festzurren, dann hat ihn das Krankenhaus isoliert und die Seuchenschutzbehörde alarmiert.«

»Das klingt eigenartig. Schick mir den Link zur Website, wenn du heute Abend nach Hause kommst. Ich will das lesen.«

»Klar.«

Danach hatten sie zu tun und Mort vergaß die Geschichte wieder, aber später an jenem Abend, als er in Boxershorts – mit einer Socke und einer Flasche Gleitgel in Griffweite – vor dem Computer saß, traf die E-Mail von Fred ein, und Mort verschob die Suche nach dem Promisexvideo aus den gestrigen Nachrichten, um sich zuerst Freds Link zu dem Zombieblog vorzunehmen.

»Das ist seltsam«, murmelte er.

Als er auf den Link klickte, zeigte der Browser eine DNA-Fehlermeldung an. Die Website schien vom Netz genommen worden zu sein.

Wäre Mort Verschwörungstheoretiker gewesen, hätte ihn dieser Umstand vermutlich neugierig gemacht. So aber hakte er die Angelegenheit mit einem Achselzucken ab und begab sich auf die Suche nach dem Sexvideo. Es dauerte eine Weile, aber letztlich fand er es. Lächelnd ergriff er die Flasche mit der Lotion und spritzte sich ein wenig davon auf die linke Handfläche. Platsch! »Hallöchen, Schwester!« Er grinste.

Als er am nächsten Morgen in seinem Lehnsessel eine Schüssel Cookie Crisps mampfte, lief in den Lokalnachrichten eine neue Meldung zur Merry Shanty.

»Heute Morgen erreicht uns eine seltsame Meldung aus Gray Harbor, Massachusetts«, verkündete der Sprecher mit einem toten Waschbären als Toupet in ernstem Tonfall. »Die Seuchenschutzbehörde hat auf den Ausbruch eines mysteriösen Virus nach dem Zwischenfall auf dem Fangschiff Merry Shanty reagiert. Laut Gesundheitsbehörden leiden mehrere Krankenhausmitarbeiter, die mit den Fischern in Berührung gekommen sind, an grippeähnlichen Symptomen.

Die Merry Shanty geriet gestern in die Schlagzeilen, weil es an Bord zu einem Todesfall kam, nachdem mehrere bedauernswerte Schiffer drei 200-Liter-Fässer, gefüllt mit einer unbekannten ätzenden Substanz, aus dem Wasser gezogen hatten. Ein Mann starb, drei weitere wurden in ein Regionalkrankenhaus gebracht, nachdem sie dem Inhalt eines der aufgebrochenen Fässer ausgesetzt waren. Tragischerweise sind zwei dieser Männer in der vergangenen Nacht verstorben. Sie erlagen offenbar einem bislang noch nicht identifizierten viralen Organismus. Experten vom Seuchenschutz vermuten eine Verbindung zwischen dem Virus und dem Giftmüll, mit dem die Männer am Vortag in Berührung kamen. Die Behörde hat die Krankenhausmitarbeiter unter Quarantäne gestellt und ist derzeit dabei, Kontakt zu den übrigen Besatzungsmitgliedern der Merry Shanty aufzunehmen, um sie auf eine mögliche Infektion zu untersuchen.«

Mort starrte mit betretener, finsterer Miene auf den Fernseher. Milch tropfte von seinem Löffel. Gray Harbor lag nur 150 Kilometer entfernt in östlicher Richtung. Er hoffte, dass die Seuchenschutzbehörde den mysteriösen Ausbruch rasch eindämmte.

Bevor er zur Arbeit ging, überprüfte er Freds Link noch einmal, weil er neugierig auf den Zombieaspekt der Geschichte geworden war. Statt einen leeren DNA-Bildschirm angezeigt zu bekommen, musste er feststellen, dass sein Internetzugang überhaupt nicht mehr funktionierte. Er nahm den Router kurz vom Netz und schloss ihn wieder an, startete sogar den PC neu. Es half alles nichts. Er bekam keine Verbindung.

Kurzzeitige Ausfälle hatte es bei seinem Provider schon häufiger gegeben, also dachte er sich nicht allzu viel dabei. Vermutlich wurde an den Leitungen gearbeitet oder so. Er hakte die Sache gedanklich ab und ging zur Arbeit.

»Hast du dir das über den Zombie durchgelesen?«, erkundigte sich Fred später.

Fred war in den Laden gekommen, obwohl er samstags nicht arbeitete. Wie Mort hatte er nicht viele Freunde. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit Green-Lantern-Logo und eine geschmacklose, grün und orange karierte Golfhose.

»Ne, mein Internet ist ausgefallen«, antwortete Mort.

»Wirklich? Bei mir ist die Verbindung heute Morgen auch weggebrochen.«

»Das ist schräg.«

»Ja, wirklich schräg.«

»Und ... gibt’s was Neues?«, fragte Mort, während er den Preis von ein paar Päckchen Pokémon-Tauschkarten für einen patzigen, kleinen reichen Teenager in die Registrierkasse eintippte. »Das macht 12,84 Dollar, Kumpel ... danke.« Die Kasse bimmelte und spuckte eine Quittung aus.

»Oh. Bevor das Internet offline ging, hab ich noch mit einem Typen gechattet, der in Gray Harbor lebt. Der meinte, dass Militärlaster an seinem Haus vorbeigefahren sind.«

»Irgendwelche Zombies?«, hakte Mort nach.

Fred lachte. »Nein!«

»Wahrscheinlich sind sie bloß vorsichtig.«

»Wer? Die Zombies?«, fragte Fred stirnrunzelnd.

»Nein, die Seuchenschutzbehörde. Es weiß ja niemand, welcher Substanz diese Leute ausgesetzt waren.«

»Oh ... ja, wahrscheinlich.« Fred nickte.

Danach passte Fred kurz auf die Kasse auf, damit Mort auf die Toilette verschwinden konnte. Nachdem Mort seine Hinterlassenschaft in der Kloschüssel abgesetzt hatte, verabschiedete sich Fred. Er wollte zu Best Buy, um sich nach Internet-Routern umzusehen.

»Es liegt nicht an deinem Router. Wahrscheinlich werden bloß Wartungsarbeiten an den Leitungen durchgeführt oder so.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Fred. »Ich will trotzdem einen neuen.«

»Alles klar. Wir sehen uns, Kumpel.«

»Bis dann!«

Mort beendete den Arbeitstag, schloss den Laden ab und spazierte nach Hause.

Sein Block lag an jenem Abend ungewöhnlich still da. Es herrschte kaum Verkehr und auf den Bürgersteigen tummelten sich auffallend wenige Fußgänger. Da er die Nase in der neuesten Ausgabe der Avengers vergraben hatte, fiel es Mort nicht wirklich auf. Und selbst wenn, hätte es ihm kein übermäßiges Kopfzerbrechen bereitet. Sein Geschäft befand sich in einer der älteren Gegenden von DuChamp, wo sich an Samstagabenden generell nicht viele Menschen auf den Straßen herumtrieben. Die meisten fuhren ins Einkaufszentrum oder zu den Kinos in der Innenstadt.

Mort fühlte sich müde und hungrig. Der Laden war den ganzen Tag lang von Kundschaft frequentiert worden. Keine großen Umsätze, zumal sich inzwischen fast jeder illegale Comic-Scans aus dem Web besorgte, aber er musste diese Woche trotzdem nicht verhungern, und das fand er immer gut. Er wollte nur noch eine Kleinigkeit essen, sich ein angenehmes Bad gönnen und anschließend noch eine Weile lesen, bevor er ins Bett ging. Außerdem musste er noch den aktuellen Previews-Katalog durchblättern, um zu entscheiden, was er im kommenden Monat für den Laden bestellen sollte.

Bevor er sich für die Nacht fertig machte, überprüfte er noch einmal die Internetverbindung und stellte fest, dass er immer noch offline war. Auch im Fernsehen gab es an diesem Abend keine neuen Meldungen über die Merry Shanty und ihre Besatzung.

Mort legte sich schlafen und träumte von Zombies, die ihn durch seine alte High School jagten.

In seinem Traum suchte er unter dem Schreibtisch seines Englischlehrers Zuflucht, während eine Horde untoter Klassenkameraden durch die Korridore streifte und versuchte, ihn aufzuspüren. Er hörte, wie sie vor der Tür des Klassenzimmers stöhnten und schlurften. Mort hatte sich so weit unter Mr. Pommiers Schreibtisch gezwängt, wie es mit seinem fetten Hintern ging, und er wartete förmlich darauf, dass sie herausfanden, wo er sich versteckte. Dann würden sie in den Raum gestürzt kommen, die Finger zu Klauen verkrümmt, während ihr leises, gurgelndes Stöhnen allmählich in schrille Hungerschreie umschlug. Sogar im Traum war ihm bewusst, dass seine Arschritze hervorlugte, aber so unter den Tisch gepfercht konnte er nichts dagegen unternehmen. Ein würdevoller Tod schien ihm nicht vergönnt zu sein.

Mort war dankbar, als er aufwachte.

Seine Lider öffneten sich abrupt in der Dunkelheit und er erblickte die altvertraute Decke seines altvertrauten Schlafzimmers. Erleichtert lächelte er.

Sein Körper fühlte sich klamm vor Schweiß an. Er hasste Zombiealbträume, aber ihn hatte noch etwas anderes als der üble Traum geweckt. Nur was?

In der Finsternis grollten Motoren. Sein Bett bebte leicht. Das Wasserglas auf dem Nachttisch ratterte leise klirrend gegen die Lampe.

Zuerst dachte er, es handle sich um ein Erdbeben, dann jedoch erkannte er, dass die Schwingungen von schweren Fahrzeugen verursacht wurden. Das tiefe Rumoren stammte von der Straße.

Er schwang die Füße aus dem Bett, trat ans Fenster und spähte hinaus.

Große Militärfahrzeuge rollten unter seiner Wohnung vorbei. Eine ganze Kolonne. Die Laster, die vorbeirumpelten, sahen wie gepanzerte Truppentransporter aus. Grüne Tarnlackierung der Armee. Mit Planen verdeckte Ladeflächen. Er beobachtete, wie eine gesamte Flotte das Gebäude passierte. Dahinter folgten wendige Jeeps und andere kleinere Fahrzeuge. Die Männer in den Transportern konnte er nicht erkennen. Sie waren zu weit entfernt und es war zu dunkel. Der gesamte Konvoi steuerte in östliche Richtung.

Mort sah der Wagenkolonne, die nichts Gutes erahnen ließ, vom Schlafzimmerfenster aus nach, nur mit seinen Boxershorts bekleidet. In Ländern wie China oder Russland mochte so etwas ein vertrauter Anblick sein, aber in Amerika bekam man keine solchen Manöver von Militärfahrzeugen zu Gesicht. Nicht mitten in der Stadt. Und schon gar nicht in seiner Straße!

Beunruhigt schaltete er das Licht an und ging zum Computer.

Das Internet funktionierte immer noch nicht.

Verärgert schnappte er sich sein Handy und rief die Hotline seines Providers an. Wenigstens das Mobiltelefon funktionierte, allerdings erfuhr er vom automatisierten Kundendienst lediglich, dass sein Anbieter »derzeit technische Schwierigkeiten« habe. Man arbeite daran, »das Problem so schnell wie möglich zu beheben«. Danach entschuldigte sich die roboterartige Stimme für etwaige Unannehmlichkeiten, die durch den Dienstausfall entstehen könnten, und trennte die Verbindung.

Mort konnte lange nicht einschlafen, aber es war ein Sonntagmorgen, und an Sonntagen betreute Fred den Laden, damit Mort einen Tag hatte, an dem er die Wäsche erledigen und sich ausruhen konnte. Es spielte grundsätzlich keine Rolle, wenn er länger schlief.

Statt weiter krampfhaft zu versuchen, wieder einzuschlafen, schlenderte Mort ins Wohnzimmer, griff sich eine Dose Limonade aus dem Kühlschrank und setzte sich in den Lehnsessel, um ein wenig fernzusehen.

Erst viel später kam eine weitere Meldung über die Merry Shanty. Mort sah sie in den Abendnachrichten am Sonntag, als er gerade Handtücher faltete.

Die Seuchenschutzbehörde fahndete nach zwei Mitgliedern der Besatzung der Merry Shanty, berichtete der Sprecher der News at Nine von WMBS. Die Männer schienen untergetaucht zu sein, nachdem ihnen jemand gesteckt hatte, dass sie von den Behörden gesucht wurden. Offenbar waren alle anderen Besatzungsmitglieder gestorben und der Seuchenschutz wollte die unglückseligen Überlebenden unter Quarantäne stellen, bis man wusste, um was für einen Erreger es sich handelte.

»Die örtliche Polizei und Beamte der Seuchenschutzbehörde suchen nach Alan Twitty, 28, und Mark Lebowski, 29, beide aus Yarmouth Port in Massachusetts«, informierte Brock Bronson, der sonnengebräunte, blonde Nachrichtensprecher. »Wer Informationen über den Aufenthaltsort dieser beiden Personen hat, wird gebeten, umgehend die Hotline der Seuchenschutzbehörde anzurufen. Es ist ein vordringliches Anliegen, diese Männer so bald wie möglich aufzuspüren und auf eine mögliche Ansteckung hin zu untersuchen.

Falls Sie in Kontakt mit einem der Gesuchten waren, melden Sie sich bitte bei der Behörde, um sich behandeln zu lassen«, mahnte der Sprecher mit grimmiger Miene, bevor er sich dem Wetter zuwandte. Unten auf dem Bildschirm wurde in großen roten Ziffern eine gebührenfreie Telefonnummer eingeblendet.

Obwohl Mort rund 150 Kilometer entfernt von Gray Harbor lebte, spürte er, wie ein kleiner Wurm der Angst durch seinen Bauch kroch. Unwillkürlich musste er an die Militärfahrzeuge denken, die in der Nacht an seinem Haus vorbeigefahren waren, und an seinen Albtraum. Plötzlich erfasste ihn ein heftiges Gefühl des Irrealen. Er kam sich vor wie eine Figur in einem Film von George Romero.

Hör auf, so paranoid zu sein, tadelte sich Mort. Wahrscheinlich ist es bloß die Schweinegrippe oder etwas Ähnliches.

Weniger als eine Woche später bekam Mort seinen ersten echten Zombie zu Gesicht.