12:
Da
Vinci kommt
Ich hatte recht, dachte Mort, als das Straßenpflaster unter seinem Körper vibrierte. Er beobachtete, wie eine Säule aus heißem Dampf in den Himmel stieg. Sie nahm bereits jene albtraumhafte Pilzform an.
Der Reaktor ist wirklich explodiert!
Ein Teil von Mort zeigte sich überrascht, doch für den weitaus größeren Teil seines Intellekts galt das nicht. Nein. Ihn wunderte das kein Stück. Er wusste, dass in Atomkraftwerke zahlreiche Sicherheitsvorrichtungen eingebaut wurden. Mehrschichtige Hüllen aus Beton und Stahl beherbergten die Reaktoren – alles darauf ausgelegt, zu verhindern, dass Radioaktivität aus dem Kern austrat und in die Umgebung gelangte. Die Schutzhülle des Kernkraftwerks von DuChamp sollte angeblich stark genug sein, um einem Raketenangriff standzuhalten, doch Mort glaubte fest an Murphys Gesetz:
Wenn etwas schiefgehen kann, geht es auch schief.
Murphys Gesetz war der Grund dafür, warum der Atommeiler auf der Nordseite der Stadt radioaktive Wolken aus Dampf und Asche in die Atmosphäre spuckte wie ein tödlicher, von Menschenhand geschaffener Vulkan. Und Murphy trug auch die Schuld daran, dass Mort mit einer Schussverletzung im Bein auf dem Straßenpflaster lag und in einem Gewerbegebiet verblutete, von dem er noch nie gehört hatte, obwohl er schon sein ganzes Leben in DuChamp wohnte.
Und dabei waren sie der Flucht so nah gewesen!
Murphys Gesetz.
Mort hatte Scharen von Zombies überlebt und unwahrscheinliche Freundschaften mit einer kleinen, aber schier unverwüstlichen Gruppe von Mitüberlebenden geschlossen. Er hatte sogar eine kluge, sexy Frau kennengelernt, die ihn attraktiv fand, die ihm den Vorzug gegenüber seinem wesentlich besser aussehenden Gefährten gegeben hatte. Sie hatte ihn sogar flachgelegt! Ohne Wenn und Aber. Und nun drohte er wie ein Hund auf der Straße zu krepieren, weil seine Gruppe über einen Psychopathen mit Scharfschützengewehr gestolpert war.
Tja, scheiß auf Murphy! Murphy war für’n Arsch.
Dao Ming heulte immer noch um ihre Schwester. Arme Dongmei. Die Kugel des Scharfschützen war auf der rechten Seite in den Kopf des Teenagermädchens eingeschlagen. Ein Großteil ihres Gehirns hatte sich dabei über Petes Gesicht und Brust verteilt. Dabei sehnte sie sich ursprünglich nur danach, ein Abenteuer zu erleben und eventuell noch Morts Kumpel Pete zu verführen. Dazu hätte es ihr allerdings gelingen müssen, ihn ausreichend zu zermürben oder betrunken genug zu machen, damit er vergaß, dass sie erst 15 war. Nun lebte sie nicht mehr und Morts Mädchen, ihre ältere Schwester, schrie und kreischte vor lauter Ungläubigkeit und Wut und Schmerz über den Verlust auf dem Rücksitz des Mercedes-Benz.
Die Kugel hätte jeden von ihnen treffen können. Mort bezweifelte, dass der Schütze absichtlich auf das Kind gezielt hatte. Höchstwahrscheinlich hatte der Mann – oder die Frau – lediglich das Auto ins Visier genommen und versucht, einen Reifen oder den Kühler kaputt zu schießen. Dongmei hatte sich bloß zur falschen Zeit am falschen Ort befunden.
Morts aktuelle Notlage ließ sich schon eher erklären. Nachdem der Heckenschütze Dongmei getötet hatte, verlor Dao Ming die Kontrolle über den Mercedes, und das Fahrzeug endete im Straßengraben. Mort war mit dem Gewehr hinausgesprungen. Seine Wut hatte seine angeborene Vorsicht außer Kraft gesetzt. Er hatte vorgehabt, den Schützen abzuknallen, bevor der Mörder weitere seiner Gefährten verletzen konnte. Als er Bewegung in einem der Gebäude bemerkte, legte er ohne nachzudenken auf ihren Angreifer an – nur hatte der zuerst gefeuert.
So viel dazu, ein Held zu sein! Von Superman prallten Kugeln einfach ab. Von Mort Lesser ... weniger.
Und nach der Menge an Blut zu urteilen, die aus dem Loch in seiner Hose pulsierte, hatte das Geschoss zusätzlich eine Arterie durchschlagen.
Mort versuchte, einen Finger in das Loch zu stopfen. Er wusste, dass er die Blutung irgendwie stillen musste.
Es erwies sich als keine seiner besseren Ideen. Es tat so weh, als habe ihm jemand einen rot glühenden Schürhaken ins Bein gerammt. Zähneknirschend zog er den Finger zurück. Vor seinen Augen tänzelten schwarze Punkte.
»Halt durch, Mort!«, brüllte Pete vom Rücksitz des Mercedes. Morts Freund versuchte, sich von Dao Ming und Dongmei zu lösen. Er sah fast komisch aus – das Weiß seiner Augen zeichnete sich rund und hell in seinem von Blut und Hirnmasse verschmierten Gesicht ab. Pete fühlte sich an Sissy Spacek in der alten Carrie-Verfilmung von Stephen King erinnert, nachdem die Rowdys ihrer High School beim Abschlussball einen Eimer voller Schweineblut über ihr ausgekippt hatten.
Die Welt wurde trüb und verschwommen. Mort stemmte sich auf den Handflächen hoch und wollte zurückbrüllen: Macht euch keine Gedanken um mich. Haut einfach ab. Er öffnete den Mund, um es zu rufen, aber seine Lippen und seine Zunge erwiesen sich als zu träge, um ihre Arbeit zu verrichten. Stattdessen brachten sie nur eine Art Grunzlaut hervor.
Pete plumpste aus dem Fond und landete auf den Knien. Dao Ming weinte immer noch und wiegte ihre tote Schwester in den Armen.
»Halt durch, Kumpel! Lass mich nicht im Stich!«, sprudelte Pete hervor und kroch auf Händen und Knien in Morts Richtung. Dabei umklammerte er etwas mit der Faust.
Mort schüttelte den Kopf. Verstand Pete die Situation denn nicht? Der Heckenschütze hätte Mort erledigen können, doch das hatte er nicht getan. Stattdessen ließ er Mort als Köder am Leben, um die anderen aus dem Auto zu locken.
Mühsam konzentrierte er sich, schleppte sich weg von jenem dunklen, behaglichen Ort, auf den seine Gedanken zudrifteten. Er schluckte und endlich gelang es ihm, Teile seines Munds zum Funktionieren zu bringen. »Is’ zu spät, Pete«, presste er matt hervor.
»Hör auf mit dem Scheiß, Schwabbel! Du wirst wieder. Halt einfach durch.«
Was Pete in der Faust hielt, war ein Gurt von Petes abgewetztem Rucksack. Pete wickelte ihn um Morts Oberschenkel, brachte den Druckverband hoch über der Schussverletzung an. Mort schrie auf, als Pete fest zuzog und mühsam einen Knoten in das steife Material band.
Mort packte Pete mit einer blutigen Faust am Hemd und zeigte nach Norden.
»Es ist explodiert«, zischte Mort.
Petes Augen weiteten sich noch mehr. »Oh Scheiße.«
Im Mercedes hatte Pete das Beben bei der Detonation des Kraftwerks offenbar nicht gespürt. Die Stoßdämpfer des Fahrzeugs mussten die Schwingungen absorbiert haben. Und durch Dao Mings Brüllen und Weinen in unmittelbarer Nähe seiner Ohren hatte er den widerhallenden Trommelwirbel bei der Explosion des Reaktors ebenfalls nicht gehört. Durch die Entfernung zum Kraftwerk dürfte es lediglich wie Donnergrollen geklungen haben.
»Strahlung«, stieß Mort keuchend hervor. »Du und Dao Ming, ihr müsst verschwinden ... sofort!«
»Leck mich am Arsch, das glaub ich einfach nicht«, murmelte Pete, während er zu der Wolke am Himmel starrte, die zunehmend dichter wurde. Mort sah Pete an der ausdruckslosen Miene an, dass sein Freund keine Ahnung hatte, was er als Nächstes tun sollte. Für seinen schlichten Verstand gab es zu viele Variablen, zu viele Probleme zum Verarbeiten. Strahlungswolke. Mort angeschossen. Auto im Arsch. Mädchen tot. Zombies. Heckenschütze. Mort konnte regelrecht die Überlastungsmeldung hinter den Augen seines Freundes aufblitzen sehen.
»Lauf, Pete. Nimm Dao Ming mit. Flieht nach Westen. So schnell ihr könnt«, forderte Mort ihn auf.
»Nein!«, entgegnete Pete. »Ich lass dich nicht allein.«
»Keine Bewegung!«, rief hinter ihnen eine harsche, raue Stimme.
Ihr Angreifer!
Der Heckenschütze – oder einer der Heckenschützen, es konnte durchaus mehr als einen geben, dachte Mort bei sich – trat hinter dem Pförtnerhäuschen auf dem Parkplatz hervor. Es handelte sich um einen großen, breiten und kräftig gebauten Mann mit glänzendem, kahlem Schädel und graustoppeligem Kinn. Sein fassförmiger Körper strotzte vor Muskeln. Der Umfang seiner Arme entsprach dem von Morts Beinen, und das wollte etwas heißen! Er hatte ein Hochleistungsgewehr an der Schulter angesetzt und starrte durch das Visier auf Pete, die Oberlippe von den Zähnen zurückgezogen.
»Nimm die Hände hoch«, befahl der Bewaffnete Pete. »Verschränk die Finger hinter dem Kopf!«
Er war vollständig in Schwarz gekleidet. Schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans. Dazu trug er militärisch anmutende Schnürstiefel.
»Du da!«, rief er und schwenkte den Lauf des Gewehrs von Pete zum Mercedes. »Raus aus dem Auto, Miststück! Sofort, verdammt noch mal!«
Dao Ming verfluchte den Bewaffneten auf Chinesisch oder Japanisch. Mort wusste nicht, um welche Sprache es sich handelte. Wahrscheinlich um eine Mischung aus beidem.
»Steig aus oder ich puste deinem Lover den Schädel weg«, drohte der imposante Fremde in herrischem Tonfall.
Dao Ming gehorchte und kletterte auf wackligen Beinen aus dem Auto. Sie war über und über mit dem Blut ihrer Schwester beschmiert, ihr Gesicht geschwollen, die Augen gerötet und wund geheult. Abermals verfluchte sie den Schützen und spuckte in seine Richtung.
»Spar dir das, Schwester«, meinte der Bewaffnete mit einem Lächeln. Er legte den Kopf schief. Lauschte einen Moment lang. Als Dao Ming neben Mort auf die Knie sank und sanft ihre Hände auf ihn legte, sagte der Heckenschütze beiläufig: »Klingt, als habe all der Radau Aufmerksamkeit erregt.«
Seine drei Gefangenen lauschten ebenfalls. Auch sie hörten es. Zombies. Etliche. Auf der Jagd. Das Geheul erhob sich von mehreren Stellen innerhalb des weitläufigen Gewerbeparks. Und es wurde lauter, kam mit jeder verstreichenden Sekunde näher.
»Auf die Beine«, befahl der Unbekannte und gestikulierte mit dem Gewehr. »Wir müssen rein, bevor sie uns finden.« Er lächelte verkniffen, als Pete und Dao Ming sich nicht rührten. »Ich oder die Zombies, Leute. Sucht’s euch aus.«
Widerwillig erhoben sich Dao Ming und Pete. Sie hakten die Hände unter Morts Arme, um ihm ebenfalls auf die Beine zu helfen.
»Lasst ihn zurück!«, forderte der Bewaffnete sie auf. »Er wird die Stinker beschäftigen, während wir in Deckung gehen.«
»Fick dich!«, schleuderte Pete ihm entgegen. »Ich lass ihn nicht für die Toten zurück. Er ist mein Kumpel.«
Ihr Häscher lachte. »Dann nehmt ihn halt mit«, gab er nach. »Je mehr, desto lustiger.«
Pete und Dao Ming hievten Mort hoch.
Er zischte unter den höllischen Schmerzen.
»Geht! Lasst mich hier!«, presste er keuchend hervor.
»Wir lassen dich nicht zurück«, beharrte Dao Ming schluchzend. »Bitte, Liebling, versuch aufzustehen.«
»Ich kann nicht«, entgegnete Mort stöhnend. Die Schmerzen glichen einem dunklen Strudel, in den seine Seele gesogen wurde. Er konnte fühlen, wie seine Gedanken um jenen gierigen Wirbel kreisten wie ein zerbrechliches Papierboot, wie sie schneller und schneller rotierten. Jede Sekunde drohte das Boot in Dunkelheit zu versinken, und das hätte das Ende für ihn besiegelt. Kein Mort mehr.
Er kämpfte gegen den schrecklichen Sog an, biss die Zähne zusammen und stemmte die Beine nach unten. Blut platschte auf das Straßenpflaster unter ihm. Seine Hose war völlig durchgeweicht. Dao Ming und Pete hatten Mühe, ihn zu stützen, also versuchte er, ein wenig mehr von seinem Gewicht zu übernehmen. Zumindest vertrieben die Schmerzen die Benommenheit. Durch zusammengebissene Zähne zischend setzte sich Mort humpelnd in Bewegung. Über sein Bein lief so viel Blut hinunter, dass aus seinem Schuh bei jedem Schritt ein Schmatzen ertönte.
»Scheiße, bist du schwer«, klagte Pete grunzend. »Genauso gut könnte man einen Elch schleppen.«
Mort prustete ein abgehacktes Lachen hervor.
Dao Ming schwieg. Obwohl sie Mort beim Weiterkommen half, hatte sie sich in ihre eigenen Seelenqualen zurückgezogen. Mit zu Boden gerichtetem Blick schniefte sie, trauerte nach wie vor um ihre Schwester.
Der Mann mit dem Gewehr winkte sie ungeduldig an sich vorbei. Er scheuchte sie in Richtung des großen Gebäudes am Ende der Straße. Das musste die Zentrale der DuChamp Freight Company sein. »Legt gefälligst einen Zahn zu«, herrschte er sie an und folgte ihnen. Er lauschte auf die herannahenden Zombies. Das Geheul wurde immer lauter. »Da. Durch diese Türen.« Er deutete mit dem Gewehr in die entsprechende Richtung. »Beeilung. Wenn die Zombies uns bemerken, müssen wir uns mit einer ganzen Horde von ihnen rumschlagen.«
Für Mort kam jeder schleppende Schritt blanken Höllenqualen gleich. Er fühlte, wie sein Bewusstsein abwechselnd erlosch und kurzzeitig wieder aufflackerte. Mort, Pete und Dao Ming betraten das Gebäude des Transportunternehmens durch große Schwingtüren aus Glas. Vor ihnen erstreckte sich ein langer, gefliester Korridor mit Büros auf beiden Seiten. Ihre neue Bekanntschaft zwang sie mit vorgehaltener Waffe, den Flur hinabzugehen, um eine Ecke zu biegen, einem weiteren Flur zu folgen und anschließend eine Treppe hochzusteigen. Die Treppe gab Mort schließlich den Rest. Auf halbem Weg die Stufen hinauf verlor er endgültig das Bewusstsein.
Das war’s für mich, dachte Mort, als die Welt um ihn herum ganz still und langsam wurde. Er gewann den Eindruck, von warmer grauer Asche begraben zu werden. Ich hoffe, sie schaffen es ohne mich. Der Gedanke kam ihm ohne Angst oder Bedauern.
Zeit verging. Wie viel Zeit, wusste Mort nicht genau. Wenn sich seine Wahrnehmung regte und er aus dem dunklen Tümpel der Bewusstlosigkeit aufzutauchen begann, gab es Anzeichen für das Verstreichen von Zeit – eine ungewisse Zählung der Schläge seines Herzens, während er im Koma lag, das Voranschreiten der Abläufe in seinem Körper. Sein Magen verlangte knurrend nach Nahrung. Seine Blase brannte unter dem Drang sich zu entleeren.
Vor einigen Jahren hatte sich Mort die Gallenblase entfernen lassen – die ungesunde Nebenwirkung einer lebenslangen Liebesbeziehung mit ungesundem Essen. Als er zu sich kam, fühlte es sich an wie das Erwachen damals aus der Narkose nach der Operation. Im einen Moment war er nichts und niemand und nirgendwo, im nächsten wach, aber orientierungslos. Alles mutete unwirklich an, als stecke er in einem seiner Träume fest. Er konnte sich nicht wirklich erinnern, wo er sich befand, wer er war oder wie es ihn an den unbekannten Ort verschlagen hatte, an dem er sich plötzlich wiederfand.
»Mort! Hey, Kumpel! Du bist wach!«
Eine vertraute Stimme. Pete! Irgendwo zu seiner Rechten.
Mort drehte den Kopf und sah seinen Freund. Seinen Kumpel. Seinen Bruder. Pete lächelte. Seine Zähne wirkten zu weiß. Immer noch verkrustete Blut sein Gesicht, mittlerweile getrocknet und braun wie abblätternder Lack.
»Pete«, flüsterte Mort mit brüchiger Stimme.
Pete zuckte ungelenk mit den Schultern und Mort erkannte, dass man seinen Freund an einen Stuhl gefesselt hatte. Graue Klebebandstreifen fixierten seine Brust, seine Handgelenke und sogar seine Fußgelenke.
Während sein Bewusstsein zunehmend zurückkehrte, hielt er nach Dao Ming Ausschau. Sie döste auf einem anderen Stuhl in der Ecke des Raums, auf ähnliche Weise gefesselt. Die Wange ruhte auf ihrer Schulter, das seidige schwarze Haar hing ihr ins Gesicht.
Mort versuchte sich aufzurichten und stellte fest, dass auch ihn etwas zurückhielt. Er zerrte an den Fesseln, konnte sie jedoch nicht zerreißen. Die Anstrengung bewirkte wenig mehr, als seinen Kopf zum Pochen zu bringen. Dafür fühlte sich die Wunde in seinem Oberschenkel taub an. Petes Druckverband hatte die Blutung zwar gestoppt, aber auch die Blutzufuhr gekappt. Sein rechtes Bein war eingeschlafen.
Mort betrachtete den Raum, in dem man sie festhielt. Nach den Metallregalen und Aktenschränken zu urteilen, handelte es sich um eine Art Materiallager. Auf verchromten Ablagen stapelte sich ordentlich sortiertes Versandmaterial: Rollen mit Luftpolsterfolie, Kartons voller Klebeband und gepolsterter Kuverts, Etiketten, Filzstifte. Der Raum maß etwa sechs mal sechs Meter. Fenster gab es nicht, nur eine Tür. Auf einem Schreibtisch in einer Ecke zischte eine Coleman-Laterne mit weißem, glanzlosem Schimmer.
»Wo ... wo ist der Killer?«, fragte Mort krächzend.
Pete zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er hat mich gezwungen, dich mit Klebeband an den Stuhl zu fesseln, dann hat er Dao Ming gezwungen, dasselbe bei mir zu tun, zuletzt hat er sie gefesselt und ist verschwunden. Ich schätze, das ist etwa eine Stunde her.«
»Wie viele sind es?«, wollte Mort wissen.
Pete schüttelte den Kopf. »Ich hab nur den einen Kerl gesehen.«
Mort hatte befürchtet, ihnen sei von einer Gruppe Überlebender aufgelauert worden. Das hier klang deutlich aussichtsreicher. Wenn es sich wirklich nur um diesen einen Kerl handelte, standen ihre Chancen auf Flucht besser.
»Wie geht es Dao Ming?«
Pete schaute zu ihrer schlafenden Gefährtin. Er setzte eine gequälte Miene auf und richtete den Blick wieder auf Mort. Pete brachte es nicht übers Herz, es auszusprechen, doch sein Gesichtsausdruck verriet genug. Dongmeis Ermordung hatte den Geist ihrer Schwester gebrochen. Dao Ming hatte aufgegeben. Deshalb schlief sie, obwohl sie eigentlich kämpfen sollte – versuchen sollte, sich einen Plan einfallen zu lassen, mit dem sie ihre Freiheit zurückerlangen konnten.
»Wir müssen herausfinden, was dieser Kerl will«, meinte Mort. Sie hörten Schritte, die sich durch den Gang näherten, und Mort verstummte. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Der Heckenschütze kam herein. Er schob einen Metallwagen vor sich her.
»Die Stadt brennt«, verkündete ihr Häscher vergnügt. »Ein wunderschöner Anblick. Die Skyline ist ganz orange und rot. Sieht aus, als ob der Himmel blutet.« Er richtete den Blick auf Mort, und seine Augen leuchteten. »Du lebst noch! Und du bist wach! Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, du stirbst, während ich meine Vorbereitungen treffe.«
Dao Ming wachte auf. Sie erblickte den Mörder ihrer Schwester und setzte sich fluchend gegen ihre Fesseln zur Wehr. Mort erkannte, dass er sich geirrt hatte. Sie hatte keineswegs aufgegeben, sondern sich lediglich ausgeruht, bis ihr Feind zurückkehrte.
Der Mörder zog die Augenbrauen hoch. Sein Bauch spannte sich in kaum unterdrückter Belustigung. »Ich bin beeindruckt. Wer hätte gedacht, dass ein so hübsches kleines Ding so viele garstige Schimpfwörter kennt?«
Dao Mings Wangen zitterten. »Ich werde dich umbringen!«, kreischte sie. Dabei hievte sie den Körper hoch und brachte den Stuhl dazu, über den Boden zu hopsen und zu schaben. »Wenn ich freikomme ...«
»Halt die Klappe«, erwiderte der Mörder beiläufig, trat Dao Ming gegen die Brust und stieß sie samt Stuhl auf den Rücken.
Dao Ming schnappte wie ein gestrandeter Fisch nach Atem. Der Hieb hatte ihr die Luft aus der Lunge gepresst. Japsend starrte sie an die Decke. Ihr Haar verteilte sich wie ein glänzender schwarzer Heiligenschein auf dem Boden um ihren Kopf herum.
»Aufhören!«, rief Mort. »Hör mal, Mann – bitte –, tu ihr nicht weh! Was willst du? Vielleicht können wir uns irgendwie einigen. Wir wissen ja nicht mal, warum du uns festhältst. Wir haben nichts, das irgendetwas wert ist. Wir probieren nur, aus der Stadt wegzukommen.«
Ihr Häscher sah Mort mit schlecht gespieltem Mitgefühl an. »Dafür ist es wahrscheinlich bereits zu spät«, erwiderte er ohne Groll. Er schwenkte den Wagen behutsam herum. Eines der Räder quietschte. Es handelte sich um einen großen Wagen aus Edelstahl, wie man ihn in der Gastronomie verwendete. »Ich bin sicher, wir bekommen in diesem Augenblick Gammastrahlen und Neutronen ab. Die Explosion vorhin war das Kernkraftwerk. Die ganze Stadt steht in Flammen.« Er ergriff vom Rollwagen ein merkwürdig aussehendes Instrument, ein phallusförmiges, schmierig-blaues Ding mit Pistolengriff. Allein der Anblick des Gegenstands ließ Morts Herz für einen Schlag aussetzen.
Der kahle Mann streichelte den Lauf des Werkzeugs. Er legte die Hand um den Schaft und ließ sie langsam daran entlanggleiten. »Niemand kommt aus dieser Welt lebend raus«, meinte er mit einem verträumten Grinsen. »Das hat mein Vater immer gesagt. Eine Binsenweisheit, aber das bedeutet nicht, dass wir vorher nicht noch ein bisschen Spaß haben können!«
Der kräftige Mann streichelte sich mit dem knolligen Ende der Waffe über die Wange und die Lippen, dann löste er sich jäh aus der Fantasiewelt, in die er sich einen Moment lang zurückgezogen hatte. Er durchquerte den Raum und kam auf Mort zu. Trotz der beeindruckenden Masse seines Körpers bewegte er sich anmutig wie eine Katze. Die Muskeln seiner dicken Arme spannten sich und zuckten, als er den schwanzartigen Lauf ... seiner Waffe ... oder seines Werkzeugs streichelte, was immer es sein mochte. Mort fiel auf, dass der Mann eine Erektion hatte. Das Glied des Mörders presste gegen den Schritt seiner Jeans, verlief nach oben und nach links, sah dabei äußerst groß und äußerst hart aus. Der Anblick des Steifen und der intensive Ausdruck in den Augen des Mannes ließen jede Hoffnung auf Flucht dahinschmelzen, die Mort gehegt hatte. Sie hatten es nicht mit einem Räuber zu tun ... sondern mit einem Wahnsinnigen!
Der Irre setzte sich rittlings wie eine Geliebte auf Morts Oberschenkel und flüsterte ihm ins Ohr: »Mein Name ist Richard Rourke, aber die Leute, für die ich gearbeitet habe, hatten einen Spitznamen für mich. Sie nannten mich Da Vinci. Oh, du hast noch nie von mir gehört. Das hat niemand. Ich war sehr, sehr gut in meinem Job. Weißt du, ich hab mein Geld damit verdient, Menschen zu töten. Aber jetzt ist die Welt am Ende, deshalb tue ich es nur noch zum Zeitvertreib.«
Mort versuchte, sich von der schrecklichen, unerwünschten Nähe, vom Gewicht des Mannes auf seinem Schoß, der Hitze des Atems auf seiner Haut wegzuwinden, aber der Wahnsinnige – Da Vinci – drehte Morts Gesicht mit dem kalten Stahllauf der Waffe zurück.
»Dein Name ist Mort«, murmelte der Mörder und sah Mort stechend in die Augen. »Ich hab gehört, wie dich deine Freunde so genannt haben. Ich finde, Namen sind wichtig. Geradezu magisch. So viel in so wenigen Buchstaben zusammengefasst. Das ganze Leben. Die gesamte Identität. Die Erinnerungen. Eine Silbe. Ein Atemzug. Eine Lippenbewegung. Ein Zungenschlag am Gaumen. Mort, Mort, Mort ...«
»Geh runter von ihm, du fette Schwuchtel!«, rief Pete drohend. »Lass ihn zufrieden!«
Da Vinci warf Pete einen verärgerten, finsteren Blick zu. »Entspann dich, Schönling. Du kommst schon noch dran.« Er richtete die Aufmerksamkeit erneut auf Mort. Seine grauen Augen wirkten seelenlos, aber sie leuchteten wie die einer Schlange. Obwohl aus den Zügen des Mannes durchaus Emotionen sprachen, erreichten sie seine Augen nicht. Sein Blick erinnerte an kalte, trostlose, schneebedeckte Weiten. An verborgene, von Eis verkrustete Wälder. An Orte, wo es leichtfiel, eine Leiche zu verstecken. Vielleicht sogar viele Leichen.
»Normalerweise lasse ich mir gern Zeit und lerne die Menschen, die ich töte, besser kennen. Manchmal werden wir sogar Freunde. Nur so, wie die Stadt gerade brennt, fürchte ich, uns bleibt dafür keine Zeit. Wirklich schade. Die letzten Wochen bin ich so einsam gewesen. Ich hatte nur die Toten zum Spielen und mit denen macht es überhaupt keinen Spaß.«
Mort spürte, dass die Worte des Mannes ein tieferes, dunkleres Empfinden verschleierten. Eine Sehnsucht. Er brauchte etwas von Mort – aber was? Wenn es Mort gelang, das herauszufinden, konnten sie vielleicht ihre Freiheit zurückgewinnen.
Der Mann beugte sich näher heran. Seine Lippen streiften Morts Ohr. »Meine Mutter war Christin. Sie hat meinen Vater und mich jede Woche in die Kirche geschleift, zweimal am Sonntag und einmal am Samstagabend«, flüsterte er. »Wir haben die Kirche gehasst, ich und mein alter Herr. All die Heuchler in ihren schicken Sonntagsgewändern, die so taten, als ob sie an eine höhere Macht glaubten. Schon als Kind wusste ich, dass es nur gespielt ist. Sie kamen lediglich hin, um sich zu präsentieren. Das hat auch mein Vater gesagt, und ich wusste, dass es stimmt. Ich konnte es in ihren Gesichtern lesen, daran, wie sie einen gemustert haben, als ob sie sich fragten, wie lecker man sein mochte. Wenn wir nach der Kirche nach Hause gekommen sind, hat sich mein Vater umgezogen und seine Arbeitskleidung angelegt, während meine Mutter für uns gekocht hat. Nach dem Essen nahm er mich mit in den Wald. An jedem Kirchtag sind wir in den Wald gegangen, um Holz zu hacken. Wir waren sehr, sehr arm. Weißt du, was wir noch im Wald gemacht haben?«
Mort schüttelte den Kopf, halb hypnotisiert von der seidigen Stimme des Mannes.
Da Vinci leckte sich über die Lippen. Er kam noch näher und hielt den Lauf der Waffe an Morts Schädel. »Mein Vater hat mich gejagt. Er hat mich gejagt und wenn er mich gefangen hat, dann hat er mich vergewaltigt. Jeden Sonntag. Jedes Mal, wenn wir losgegangen sind, um Holz zu hacken. Quasi unser geheimes Spiel. Nein, Ritual ist wohl ein besseres Wort, um es zu beschreiben. Der Wald war unser Tempel, Mort. Der Tempel des einzigen wahren Gottes. Die Menschheit wird von ihrer animalischen Natur beherrscht. Nicht von einem unsichtbaren Männchen, das in den Wolken schwebt. Man kann es fühlen ... hier drin ... hier unten ... Wenn man fickt. Wenn man tötet. Es zerrt so beharrlich wie die Schwerkraft an einem. Trotzdem geben die Menschen vor, mehr als Tiere zu sein. Sie tun so, als seien sie rein und brav und zahm, kleiden ihre vulgäre Nacktheit in feine Gewänder, reden von Liebe, von Frieden und von Vergebung, aber es ist eine Lüge oder eine List. Mein Vater hat mir die Wahrheit gezeigt. Wir sind alle bloß Tiere, die in der Wildnis rammeln und töten und scheißen.«
Morts Kopf pochte. Der metallische Lauf der Waffe fühlte sich sehr kalt und glatt an seiner Schläfe an.
»Es tut mir leid, was dir passiert ist«, sagte Mort.
Der Mörder wich zurück und wirkte einen Moment lang wütend. Vielleicht sogar ein wenig verwirrt. Er näherte die Lippen wieder Morts Ohr. »Du bemitleidest mich? Spar dir dein Mitgefühl. Ich bemitleide dich. Und weißt du auch, warum? Hm? Ich bemitleide dich, weil du die Wahrheit erst jetzt erfahren hast, am Ende deines Lebens. Weißt du, mein Vater nahm mir das Versprechen ab, nie jemandem davon zu erzählen. ›Du darfst nie darüber reden, Richie, darfst es nie jemandem erzählen. Wenn jemand ahnt, dass du die Wahrheit kennst, wird man dich einschläfern wie einen tollwütigen Hund.‹ Und ich habe es ihm versprochen.«
»Aber du hast es mir erzählt«, stellte Mort fest.
»Ich weiß«, erwiderte der Irre verlegen.
»Oh Gott.«
Da Vinci drückte den Abzug.
Morts Körper versteifte sich, als ein dünner, etwa 15 Zentimeter langer Stahlbolzen aus dem Lauf von Da Vincis phallusartiger Waffe schoss. Mit einem Knall und einer kleinen Wolke beißenden blauen Rauchs durchschlug der Bolzen Morts Schädelknochen und stieß ins Gehirn, bevor er sich in den Lauf zurückzog.
Es geschah in weniger als einer Sekunde.
Da Vinci warf den Kopf zurück, als Mort zwischen seinen kraftvollen Oberschenkeln zuckte. Er klemmte Mort zwischen seinen Beinen fest, die Pobacken angespannt, die Lider fest zugepresst. Blut und Hirnflüssigkeit tropften von seinem Gesicht.
»Mort! Nein! Mort!«, schrie Pete entsetzt. »Du Scheißkerl! Du hast meinen besten Freund umgebracht!«
Da Vinci blieb rittlings auf Morts Oberschenkeln sitzen, bis dessen Körper schließlich zu zucken aufhörte. Sein Gesichtsausdruck wirkte durch die Intensität seiner Erleichterung geradezu selig. Seine Rücken- und Schultermuskeln entspannten sich. Langsam atmete er aus. Er öffnete die Augen, stand auf und wandte sich Pete zu. Am Schritt seiner Hose prangte ein breiter nasser Kreis.
Der Hinterwäldlerfreund des Dicken sollte der Nächste werden, beschloss Rourke, danach wollte er sich die Frau vornehmen. Das Beste hob man sich immer bis zum Schluss auf. Oh ja, in dieser Nacht bekam er seinen Spaß! Wie Nero, der Geige spielte, während Rom brannte. Er konnte die ganze Nacht lang Geige spielen!
Der Hinterwäldler weinte um seinen toten Freund. Seine unverhohlenen Emotionen wirkten verlockend. Da Vinci wollte die Tränen von seinem Gesicht ablecken. Seinen Schmerz schmecken. Ihn essen. Ihn in sich haben.
»Lass mich aus diesem verfickten Stuhl, damit ich dich umbringen kann«, zischte das Landei, dem Tränen über die Wangen liefen.
Da Vinci kicherte.
Mit einem Klirren ließ er den Bolzenschussapparat auf den Rollwagen fallen. Den Lauf der Waffe benetzten Blutstropfen und klebrige Tupfen Hirnmasse. Später würde er ihn penibel und liebevoll reinigen müssen, aber vorerst wandte er sich den anderen Instrumenten auf dem Tisch zu. Sein Blick heftete sich auf einen besonders grausam wirkenden Gegenstand, und sein Schwanz richtete sich erneut auf. Keine große Überraschung. Es lag lange zurück, seit er zuletzt Lover gehabt hatte. Er hatte ziemlichen Aufholbedarf.
Behutsam ergriff Da Vinci das Instrument. Es handelte sich um einen außerordentlich feinen Gegenstand, eine seiner schönsten Schöpfungen. Im Licht der Laterne schimmerte es wie Gold, aber es war ach so scharf! Am Ansatz befanden sich zwei Bänder, in die er seine Erektion einführen konnte, und unmittelbar unter der gekrümmten Klinge prangten nach hinten gerichtete Widerhaken. Hinein stieß das Instrument so weich wie ein heißes Messer in Butter, aber wenn man es herauszog ...
Ja, das passte ganz hervorragend!
Der Mörder hob die Hand an die Stirn. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Es fühlte sich an, als stochere jemand mit rot glühenden Nadeln in seinem Gehirn herum.
Der Hinterwäldler versteifte auf dem Stuhl seinen Körper, der Mund verzog sich voll Unbehagen. »Was um alles in der Welt ...«
Hinter Da Vinci rührte sich Mort. Er hatte ein Loch im Kopf und Blut floss als dünnes Rinnsal über Wange und Hals hinab, aber aus irgendeinem erstaunlichen Grund lebte er noch!
Blinzelnd sah sich Mort um, die Augen trüb vor Schmerzen und Verwirrung. Er sabberte. Urin hatte sich auf dem Boden zu seinen Füßen in einer Lache gesammelt. »Was? Wo bin ich?«, stieß er gurgelnd hervor.
Er war nicht tot! Aus irgendeinem Grund war er nicht tot! Da Vinci vergaß das merkwürdige Stechen in seinem Kopf. Stattdessen starrte er Mort entgeistert an. Der Dicke lebte noch ... und er wusste Bescheid! Er kannte Da Vincis Geheimnis! Das Geheimnis, von dem er seinem Vater geschworen hatte, es nie einer Menschenseele anzuvertrauen!
Rourke schnappte sich ein Messer vom Rollwagen und drehte sich Mort zu, bereit, dem widerstandsfähigen Burschen endgültig den Garaus zu machen. Die heißen Nadeln bohrten sich nach wie vor in sein Gehirn, wichtiger jedoch schien ihm, den Empfänger seiner Beichte zu töten. Niemand durfte das Geheimnis kennen und weiterleben!
Die Tür des Lagerraums flog aus den Angeln.
Sie explodierte mit solcher Wucht nach innen, dass sie quer durch den Raum schoss, von der gegenüberliegenden Wand abprallte und Mort sowie den Mörder nur knapp verfehlte. Dann knallte sie auf den Boden und schlitterte zerknüllt wie ein Strafzettel wegen Falschparkens gegen einen Aktenschrank.
Rourke und Pete glotzten den Mann an, der den Raum betrat. Mort geiferte nur weiter vor sich hin.
»Da seid ihr ja!«, sagte der Fremde in mildem Tonfall.
Er war groß, schlank und vollkommen schwarz gekleidet. Er hatte fahle Haut und dunkle Augen. Lange schwarze Haare wallten von einem hohen, spitzen Ansatz aus nach hinten.
Pete presste die Lider zusammen und schlug sie wieder auf. Der Anblick des Neuankömmlings verursachte bei ihm Kopfschmerzen. Der fahle Mann schien zu schimmern, als er in den Raum schritt. Er flackerte, als sei er eher ein Trugbild als eine reale Gestalt.
»Entschuldigung. Wir hatten etwas Mühe, euch zu finden«, erklärte der Blasse. »Liegt wohl an der Strahlung. Einen Moment lang fürchtete ich schon, wir müssten euch eurem Schicksal überlassen.«
Zwei weitere Gestalten folgten ihm in den Raum: ein Mann und eine Frau. Wie der Anführer erwiesen sich auch die beiden anderen als hochgewachsen und fahl. Sie trugen gepanzerte schwarze Lederkleidung und hatten große dunkle Augen und schmale kantige Gesichter. Die Hand der Frau ruhte auf dem Knauf eines überaus mächtigen Schwerts. Der zweite Mann rollte eine Peitsche ein.
Da Vinci bewegte sich mit gesenktem Kopf und zu Schlitzen verengten Augen auf den Rollwagen zu. Er hatte einen neugierigen, fast verträumten Ausdruck im Gesicht, aber er sprach kein Wort. Ohne den Blick von den Neuankömmlingen abzuwenden, ließ er die Finger über die Instrumente auf dem Rollwagen wandern. Sie glitten über mehrere filigranere Gegenstände, bis sie sich um den Griff eines großen, eigenartigen Hackbeils schlossen. Mit einem Aufschrei riss Da Vinci das Beil hoch über den Kopf und stürmte damit quer durch den Raum auf die Fremden zu.
»Oh nein, das lässt du schön bleiben«, sagte der Anführer mit sanfter Stimme. Er streckte die Finger aus wie jemand, der sich darauf vorbereitet, Klavier zu spielen, und Da Vinci erstarrte mit einem verdutzten Grunzen mitten im Angriff. Der Neuankömmling schielte in seine Richtung und murmelte: »Schon besser. Und nun werfen wir mal einen Blick hinein. Was bekommen wir da wohl zu sehen ...«
Da Vinci verzog das Gesicht. Die Schmerzen entlockten ihm einen kläglichen Laut. »Aufhören! Das tut weh!«
»Meine Güte, bist du verdorben«, sagte der Blasse leise und schien mit sich selbst zu reden. »So eine kranke Einstellung. Du bist ein sehr, sehr böser Junge, nicht wahr, Richard? Ich fürchte, dich können wir nicht mitnehmen.«
Er schaute über die Schulter zu seinen Gefährten. »HaMerkavah, Gabriel, dürfte ich euch wohl damit behelligen, den da zu beseitigen? Ich fürchte, er ist viel zu gefährlich, um ihn nach Neu-Jerusalem mitzunehmen.«
Pete beobachtete voll stummer Verblüffung, wie die zwei bleichen Eindringlinge Da Vincis Arme ergriffen und ihn aus dem Raum führten. Pete rechnete damit, dass sich der Mörder wehrte, aber der kräftige Mann leistete keinerlei Widerstand. Zahm wie ein Lämmchen ließ er sich von den seltsamen Wesen hinausgeleiten.
Mort versuchte, dem Geschehen zu folgen, allerdings hatte er Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben. Sein Kopf fühlte sich wie eine zerquetschte Tomate an. Warme Flüssigkeit rann seinen Hals und seine Brust hinab. Dao Ming lag auf dem Rücken am Boden und verfolgte mühsam, was vor sich ging. »Was ist? Wer ist da?«, fragte sie. »Was läuft hier, Leute?« Trotz des mitleiderregenden Zustands ihrer Gruppe mutete ihr Interesse beinahe komisch an.
Da Vinci erhob schließlich Protest, als ihn die beiden blassen Wesen durch den Eingang und hinaus in den Gang führten, aber in seiner Stimme lag keinerlei Kraft. Vielmehr klang er wie ein verschlafenes Kind, das zurück ins Bett begleitet wurde. Wenig später, als sie außer Sichtweite verschwunden waren, ertönten die Geräusche eines kurzen Handgemenges, gefolgt von einem Aufschrei und feuchten Schmatzlauten.
»Mein Name ist Metatron«, stellte sich der bleiche Anführer vor und näherte sich Mort mit mitfühlender Miene. »Wir sind gekommen, um euch zu retten.«
Mort schlürfte den eigenen Sabber zurück in den Mund und versuchte zu sprechen. »Was bist du?«, krächzte er.
»Was denkst du denn, das ich bin?«, konterte Metatron.
Mort blickte ihm eindringlich in die Augen. Sie glichen Juwelen mit breit geränderten, tiefen Pupillen. Sein Gehirn kribbelte ein wenig, doch durch seine Gedanken fegte kein Glanz, der ihn blendete und ihm etwas anderes als Wirklichkeit vorgaukelte. Die Kreatur, die vor ihm stand, war ausgemergelt wie ein Insasse eines Konzentrationslagers. Die kreidige Haut spannte sich straff über die Knochen. Hinter roten Lippen verbargen sich Reihen scharfer, haiähnlicher Zähne. Blaue Venen schlängelten sich unter der Haut wie Garnfäden. Mort öffnete den Mund, um das Geschöpf zu benennen, doch er stellte fest, dass er sich nicht an das Wort erinnern konnte. Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf, wodurch seine Gedanken erst flackerten und dann kurz erloschen.
Metatron schob den Kopf dicht an ihn heran. Seine Nasenflügel blähten sich. Mit einem befriedigenden Lächeln auf den Lippen stand er da. »Du bist ein wenig mitgenommen, mein Freund, aber mach dir keine Sorgen. Wir werden dich im Nu gesund pflegen. Du und deine Gefährten, ihr seid so kostbar für uns. Mehr, als ihr ahnen könnt. So ungemein ... kostbar.«
Mittlerweile waren die anderen mit geröteten Gesichtern und zufriedenen Mienen in den Raum zurückgekehrt. Von Da Vinci fehlte jede Spur.
Das Wesen namens Metatron wandte sich Da Vincis Rollwagen zu und nahm eine Klinge in die Hand. Mit halb geschlossenen Augen überprüfte er die scharfe Schneide des Instruments, dann kappte die Gestalt damit die Klebebänder, die Mort an seinen Sitz fesselten.
Metatron hob Mort ungeachtet seiner Masse auf die Arme und trug ihn aus dem Raum, als wiege er nicht mehr als ein Kind.
Mort wehrte sich nicht.
Die anderen halfen Pete und Dao Ming auf die Beine. Morts Freunde machten einen wackeligen und verwirrten Eindruck, aber aus irgendeinem Grund wusste Mort, dass sie sich in der Obhut dieser ausgemergelten Gestalten in Sicherheit befanden. Obwohl er sich nicht an die Bezeichnung für die Neuankömmlinge erinnerte, obwohl ihm nicht einmal einfiel, wie das Wort aussah, wusste er, dass derjenige, der ihn trug, die Wahrheit sprach. Wir sind kostbar für sie, dachte Mort. Natürlich sind wir das. Versteht sich von selbst.
Draußen brannte die Stadt. Eine gewaltige schwarze Rauchwolke mit einem Bauch, so rot wie ein Rubin, hing über der Skyline. Heiße orangefarben schimmernde Ascheflocken rieselten rings um sie herab. Mort weitete vor Verwunderung die Augen, als sich das Wesen namens Metatron mit ihm in die Luft erhob. Es fühlte sich an, als hätten sie plötzlich Auftrieb erhalten wie Bläschen in einem Swimmingpool, befreit vom Sog der Schwerkraft.
Er flog wie eine Figur aus einem seiner Superhelden-Comics!
DuChamp schrumpfte unter ihnen zusammen. Die Stadt sah aus, als habe man sie mit Feuer zusammengeflickt. Der Wind peitschte hin und her, kühlte Morts Haut, fegte tosend an seinen Ohren vorbei. Sie flogen durch eine Rauchwolke, deren beißender Gestank sie kurz umhüllte, dann blieb sie hinter ihnen zurück. Ihr Aufstieg verlangsamte sich. Regungslos, schwerelos schwebten sie am Himmel wie zwei umhertreibende Geister. Langsam drehte sich Metatron in der Luft nach Westen. Mit dem Mond über der Schulter und der Stadt unter ihnen flogen sie davon.