18:
Orientierung

Die Pioniermannschaften hatten ihre eigenen Baracken, aber in jener Nacht schlief Pete bei Mort, damit sie trinken und in Erinnerungen schwelgen konnten. Was sie auch taten. Ausgiebig. Irgendwann nach Mitternacht verkündete Mort, dass er ein wenig schlafen musste, weil er sich am nächsten Morgen ziemlich früh zur Arbeit melden sollte. »Ja, ich bin auch ganz schön erledigt«, gestand Pete. »Hast du Bettzeug für die obere Pritsche?« Das hatte Mort, und nachdem das zweite Bett bezogen war, zog sich Pete bis auf die Unterwäsche aus und kletterte hinauf. Mort döste zum beruhigenden Lärm von Peter Bolins Schnarchen ein, das abwechselnd wie ein stotternder, durch hohes Gras geschobener Rasenmäher und wie ein Tattergreis klang, der in einer Schüssel mit verdicktem Haferbrei ertrank.

Pete schnarchte immer noch, als Mort am nächsten Morgen aufwachte.

Mort schwang die Beine aus dem Bett und stieß dabei einige leere Bierdosen um. Er schaute auf die Uhr, um zu sehen, wie viel Zeit er hatte, um sich vorzubereiten, aber es war noch früh. Kein Grund zur Eile.

Er ergriff seinen Stock und stand vorsichtig auf, belastete sein schlimmes Bein zuerst nur testweise, um nicht zu viel Gewicht darauf zu verlagern. Sein Kopf pochte, während er durch das Zimmer hinkte, Bierdosen aufhob und sie im Abfalleimer versteckte. Er war nicht sicher, was passierte, wenn man ihn trotz Verbots beim Trinken erwischte, aber er verspürte wenig Lust, es herauszufinden. Bob und Tina waren zu nett zu ihm gewesen, um sie auf diese Weise in Verlegenheit zu bringen.

Wie viele von diesen Dingern hab ich eigentlich getrunken?, fragte er sich, als er die Dosen unter einigen dreckigen Papptellern und zerknüllten Verpackungen versteckte. So, wie sich sein Kopf anfühlte – als hocke ein unsichtbarer Kobold auf seiner Schulter und ramme ihm unablässig eine Mistgabel hinein –, konnte die Antwort nur lauten: zu viele. Mort konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so einen heftigen Kater gehabt hatte oder ob er am Morgen nach einem Saufgelage überhaupt je von derartigen Kopfschmerzen heimgesucht worden war. Jedenfalls fühlten sich die Adern in seinen Schläfen an, als ob sie jeden Moment platzten.

Er schlurfte zur Toilette, um die Blase zu entleeren. Die Beweise für die Maßlosigkeit der vergangenen Nacht sprudelten gefühlte fünf Minuten lang aus ihm heraus. Aber ganz gleich, welche Schmerzen sie im großen Gehirn verursachten, er empfand es als Wohltat, sie durch das kleine Gehirn abfließen zu lassen. Er seufzte, als sich der Füllstandspegel von voll nach leer verschob. Mort verzichtete darauf, zu spülen, weil er fürchtete, dadurch seinen Kumpel aufzuwecken. Rasch zog er sich für seinen zweiten Arbeitstag an.

Pete lag auf dem Rücken und hatte die Decken zum Fußende seiner Pritsche gestrampelt. Mit seinen zerzausten blonden Haaren und dem entspannten Gesichtsausdruck wirkte Morts Freund fast wie ein Kind. Mal abgesehen von der gewaltigen Morgenlatte, dachte Mort mit einem leisen Kichern. Peter schnarchte geräuschvoll weiter, als sich Mort seinen Stock griff und zur Tür humpelte. Mit einem entspannten Lächeln sah er sich noch einmal zu seinem schlafenden Kumpel um und trat hinaus in den Gemeinschaftsbereich. So leise wie möglich zog er die Tür hinter sich zu.

Bob Hawthorne, Tinas Verlobter, erwartete ihn bereits. An jenem Morgen bemannte er den Empfangsschalter mit einem Klemmbrett in der Hand. Bob winkte Mort zu sich, sobald er aus seinem Zimmer kam. »Hey, Mort! Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«

Mort hinkte zum Schalter hinüber. »Klar. Worum geht’s?«

Bob wirkte müde. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Züge abgehärmt und blass. »Tina soll sich heute zu ihrem Bluttest melden, aber sie hat sich wohl eine Grippe oder so eingefangen. Du bist, genau wie sie, nicht immun. Könntest du der Krankenschwester wohl sagen, dass sie vorbeikommt, sobald es ihr besser geht?«

Mort hatte vor, seinen Test nach der heutigen Schicht zu absolvieren. Schließlich musste er die Untersuchung wie alle anderen nicht immunen Bewohner mindestens einmal pro Woche über sich ergehen lassen. Er nickte. »Macht mir nichts aus. Bist du sicher, dass mit ihr alles in Ordnung ist?«

»Ja, ja, sie wird schon wieder. Hat bloß Durchfall und muss brechen. Kein Zombievirus.« Er wischte sich den Mund ab. »Wahrscheinlich steht bloß die Geburt kurz bevor. Sie hat gestern Abend unser Zimmer umgeräumt. Nestbau, schätze ich mal.«

Mort nickte. Er erzählte Bob nicht, dass Tina auch sein Zimmer dekoriert hatte. Insgeheim hoffte er nur, dass sie sich dabei nicht überanstrengt hatte. »Ich sag dort Bescheid. Ich hoffe, es geht ihr bald besser.«

»Ja, ich auch«, erwiderte Bob. Damit stand er vom Schalter auf und steuerte auf sein Zimmer zu. Nach einigen Schritten zögerte er und drehte sich noch einmal zu Mort um. »Danke, Kumpel. Ich ... ich weiß das wirklich zu schätzen.«

»Kein Problem.«

Mort dachte über seine neuen Freunde Tina und Bob nach, als er zur Kantine auf dem blauen Areal ging. An diesem Morgen empfand er die Beziehung der beiden als überaus romantisch, fast so wie die Geschichte von der Schönen und dem Biest, umgemünzt auf das wahre Leben. Bob war nicht bloß mit Hässlichkeit geschlagen, sondern damit plakatiert wie eine Litfaßsäule. Doch Tina sah über sein äußeres Erscheinungsbild komplett hinweg. Sie wirkte nie peinlich berührt, wenn sie mit ihm zusammen war, und Mort hatte sie noch nie bei einem verstohlenen Blick auf einen anderen Mann ertappt. Und Bob ... nun, Bob schien ihr bedingungslos ergeben zu sein.

Dann musste er an Dao Ming denken, die in der Kälte gezittert hatte, während ihr neuer Gefährte rauchte. Er erinnerte sich daran zurück, wie sie zu dem Mann aufgeschaut, wie sie gelacht und seinen Arm gestreichelt hatte. Mort wusste nicht, was mehr schmerzte: sein Bein, sein Kopf oder sein Herz.

Der Schnee reflektierte das Sonnenlicht so gleißend, dass seine Augen tränten.

Wahrscheinlich war es eine schlechte Idee gewesen, in der letzten Nacht so viel zu trinken, vor allem in Anbetracht der ganzen schmerzstillenden Medikamente in seinem Körper. Und nicht zuletzt deswegen, weil man ihm erst vor knapp zwei Monaten mit einem Bolzenschussapparat in den Kopf geschossen hatte, aber Dao Ming mit einem anderen Mann zu sehen und zu erkennen, dass sie Mort so rasch abgehakt hatte, ohne auch nur »Leb wohl«, »Bis dann« oder »War nett mit dir« gesagt zu haben ... das traf ihn tiefer, als er vermutet hätte. Viele Jahre der Enttäuschung schienen ihn doch nicht immun gegen solches Herzensleid zu machen. Sogar Pete hatte ihn vergangene Nacht aufgefordert, sich zurückzuhalten, als Mort seine dritte Bierdose aufriss.

»Sachte, Kumpel«, hatte er gesagt und Mort mit einer Mischung aus Mitgefühl und Bestürzung angesehen. »Sonst musst du bloß wieder kotzen.«

»Wir brauchen noch einen Sechserpack, Pete«, hatte Mort rülpsend erwidert. »Wie soll ein Mann seinen Kummer mit nur drei Bieren ertränken?«

Dabei hatte es Mort gewusst. Irgendwie. Irgendwo tief in seinem Innersten. Deshalb hatte er auch gezögert, Dao Ming ausfindig zu machen, als man ihn aus der Krankenstation entließ. Genauso mühelos wie Pete ihn aufspüren konnte, hätte er herausfinden können, wo sie wohnte und zu welcher Arbeit sie eingeteilt worden war. Aber er hatte es vor sich hergeschoben. Es war eine Sache, etwas zu vermuten, eine völlig andere hingegen, es unter die Nase gerieben zu bekommen. Ersteres schmerzte entschieden weniger.

»Hör Mal, Mort, wir alle müssen uns früher oder später mal mit so was auseinandersetzen«, hatte Pete vergangene Nacht zu ihm gemeint. »Ihr habt doch nur einmal gefickt, oder?«

Ja, sag ruhig »ficken«. Es ist einfacher, wenn es bloß ein Fick war.

»Dao Ming ist nicht die erste Schnecke, die den Schwanz eines Kerls als Trostlutscher benutzt hat«, fuhr Pete mit dem Versuch fort, ihn aufzumuntern. »Es ist schon irgendwie mies, jemanden auf diese Art abzuservieren, aber es gibt Schlimmeres, als rauszufinden, dass man ’ne Schlampe als Freundin hat.«

Ja, war Mort durch den Kopf gegangen. Zum Beispiel herauszufinden, dass die Freundin nicht die Braut von Frankensteins Monster sein will.

»Ist nun mal so, dass Schlampen einfach Schlampen sind«, sagte Pete verächtlich. »Glückwunsch – du hast eine asiatische Schnalle genagelt. Wo die hergekommen ist, gibt’s noch jede Menge, vor allem so wie du jetzt aussiehst. Weiber stehen auf Kerle mit Narben, Mann. Davon werden sie ganz feucht im Schritt.«

Noch vor wenigen Stunden hatten Petes Worte ihn getröstet, und sie trösteten ihn an diesem Morgen erneut, als er zum blauen Areal marschierte und die Schuhe über den krustigen Schnee knirschten.

Jeden Dienstagmorgen gab es in der Kantine des blauen Areals Pfannkuchen und als Mort eintraf, glich der Ort einem Tollhaus, aber er war dankbar für das Chaos. Es lenkte ihn von seinem gequälten Herzen ab. Jedes Mal, wenn er einen Moment zum Nachdenken hatte, spielte ihm sein Gehirn kleine gedankliche Filmchen von Dao Ming unter einem anderen Kerl vor, wie sie keuchte und stöhnte und ihm den Rücken zerkratzte, während er sie von einem Orgasmus zum nächsten bumste. Mort wurde davon schlecht, und er zitterte vor hilfloser Wut, aber er konnte diese Bilder nicht abstellen. Er wusste nicht, wie. Noch nie zuvor war er so besessen von einer Frau gewesen.

»Alles in Ordnung, Mort?«, erkundigte sich Burt. »Du siehst mir irgendwie grün um die Kiemen aus.«

»Alles bestens. Bin heute nur ein bisschen durch den Wind.«

»Übertreib’s bloß nicht. Du bist nicht umsonst für leichten Dienst eingeteilt. Ist nicht nötig, sich zu überanstrengen. Ich bin dir dankbar, dass du gestern länger geblieben bist, um auszuhelfen, aber heute gehst du pünktlich heim und ruhst dich aus.«

»Ja, Sir.«

Mr. Maguire klopfte ihm auf den Rücken und schlenderte davon. Kurz danach verfluchte er einen der Köche. Der Mann hatte eine Schüssel mit Pfannkuchenteig fallen gelassen.

Mort beendete seine Schicht und hinkte zur Krankenstation. Er fürchtete, dort lange warten zu müssen, aber der Warteraum war überraschend leer. Die meisten Einwohner von Neu-Jerusalem waren immun gegen das Zombievirus. Während er darauf wartete, dass man ihm Blut abzapfte, kamen mehrere der Schwestern vorbei, die ihn im Zuge seines Aufenthalts betreut hatten, um Hallo zu sagen. Sogar Schwester Ratched trabte an, um ihn zu umarmen. »Wir vermissen Sie, Glatze«, sagte sie barsch. »Jetzt habe ich niemanden mehr, den ich aufziehen kann.« All das half dabei, Mort von seinem Selbstmitleid abzulenken. Wenigstens irgendjemanden kümmerte es, ob er lebte oder starb!

Nachdem Schwester Ratched gegangen war, rief die Rezeptionistin seinen Namen auf. Er wurde in einen der Untersuchungsräume begleitet, wo ihm eine Schwester aus der dicken Vene in seinem Arm eine – wie er fand – gewaltige Menge Blut abzapfte.

»Lassen Sie auch noch was für mich übrig«, scherzte Mort nur halb, als die Schwester ein weiteres Röhrchen an die Nadel in seinem Arm anschloss.

»Tut mir leid, ich weiß«, erwiderte die Frau, als Morts Blut in das Röhrchen floss. »Wir brauchen viel Blut, um ein eindeutiges Ergebnis zu bekommen. Wir arbeiten hier mit sehr schlichter Ausrüstung.« Sie steckte das volle Röhrchen in eine Halterung und schloss ein weiteres an. »Das letzte, versprochen. Und wie geht es Ihnen so?«

»Ziemlich gut«, antwortete Mort. »Richtig toll sogar. Ich komm klar.«

Er teilte der Krankenschwester mit, dass Tina Laramie krank sei und zu ihrem Bluttest kommen wolle, sobald es ihr besser ging. Die Schwester zog eine Augenbraue hoch. Ihre Lippen bildeten eine schmale, verkniffene Linie. »Na schön, ich merke sie für morgen vor, aber diese Tests sind nicht freiwillig, Mr. Lesser. Sie sind äußerst wichtig für die Sicherheit unserer Gemeinde. Sollte sich jemand infizieren, könnte sich das Virus sehr schnell auf alle nicht immunen Überlebenden ausbreiten. Sagen Sie ihr, dass sie morgen herkommen muss, um sich testen zu lassen. Bei dieser Sache können wir es uns nicht leisten, die Zügel schleifen zu lassen. Vor allem, wenn man bedenkt, in welchem Monat sie mittlerweile ist.«

»Ja, Ma’am«, gab Mort etwas zerknirscht zurück.

Die Krankenschwester zog die Nadel aus seinem Arm und entfernte das Gummiband, das sie um den Bizeps festgezogen hatte. Dann klebte sie ihm einen Wattebausch in die Armbeuge und sagte: »Danke, Mr. Lesser. Es dauert 24 Stunden, bis das Ergebnis vorliegt. Wir melden uns morgen bei Ihnen, falls Ihr Test positiv ausfällt.«

Ein erbaulicher Gedanke.

»Wie viele Menschen infizieren sich eigentlich noch?«, fragte Mort und beugte den Arm.

»Nicht viele«, erwiderte die Schwester ausweichend und untersuchte das letzte Blutröhrchen.

»Einer oder zwei pro Woche?«

Sie steckte das Röhrchen zu den anderen und schälte sich die Latexhandschuhe von den Fingern. »Also ... nein, so viele nicht. Man muss gebissen werden, damit sich das Virus richtig festsetzt. In den Speicheldrüsen scheint es in konzentrierter Form aufzutreten ... und es ist auch in anderen Körperflüssigkeiten in gefährlichem Ausmaß vorhanden. Blut, Fäkalien, Urin. Äh ... Samen und Scheidensekrete. Wir versuchen zwar, es zu studieren, nur sind die Möglichkeiten hier stark begrenzt. Auch dabei helfen uns die Archonten. Wie die meisten nicht menschlichen Spezies sind sie vollkommen immun dagegen, aber ich glaube, sie machen sich Sorgen, dass es mutieren könnte. Stellen Sie sich mal die Folgen vor, wenn die Archonten plötzlich anfällig für das Zombievirus sind? Ich denke, dann ist es für uns alle endgültig vorbei.«

Mort kicherte. »Danke! Jetzt werde ich bestimmt besser schlafen.«

Auch die Krankenschwester kicherte. »Sie haben ja gefragt ...«

Pete schnarchte immer noch, als Mort zurückkehrte. Mit einem Ruck setzte er sich auf, als Mort die Tür hinter sich schloss. »Hey! Was ist los?«, stieß er hervor und sah sich verwirrt blinzelnd um.

»Alles in Ordnung. Ich bin’s nur«, beruhigte ihn Mort, schälte sich aus seiner Jacke und warf sie über die Rückenlehne des Stuhls.

Schaudernd rieb sich Pete die nackten Arme. »Ich hab von Wölfen geträumt.«

»Von Wölfen?«

Pete sprang von der oberen Pritsche hinunter und ging zur Toilette, um zu pinkeln. Während er die Blase leerte, erzählte er Mort von den Zombiewölfen, die seinem Pionierteam in der Nähe der Ortschaft Cooper’s Hollow aufgelauert hatten.

»So was Furchterregendes hab ich davor noch nie gesehen«, gestand Pete. »Und ich hab schon einige Scheiße gesehen, das kann ich dir flüstern. So wie du ja auch. Zombiemenschen sind schlimm genug, nur diese Biester ...« Eine Gänsehaut überzog seine nackten Arme.

»Ich glaube, alle Menschen haben instinktiv Angst vor Wölfen«, meinte Mort.

Pete nickte. »Also ... was hast du heute vor?«

Mort setzte sich auf seine Pritsche. »Keine Ahnung. Ich dachte mir, abends gehe ich zu der Orientierungsveranstaltung. Ich hatte noch keine Gelegenheit, an einer teilzunehmen.«

»Cool. Ich bin ein paar Tage, nachdem uns die Archonten hergebracht hatten, bei einer gewesen. Ist ganz interessant. Wenn du willst, begleite ich dich.«

»Hört sich gut an.«

»Also haben wir ein Date.«

»Ja.«

Pete kicherte. »Ehrlich ... wir müssen uns ein paar Weiber suchen, bevor wir noch schwul aufeinander werden. Jetzt, wo du dünn bist und so heiß aussiehst, bekomm ich allmählich Fantasien darüber, dich auf deiner Pritsche zu vergewaltigen.«

Mort lachte. »Tut mir leid. Aber meine Körperöffnungen sind ausschließlich Ausgänge.«

Pete grinste breit. »Dein Mund sagt Nein, aber dein Arschloch sagt Ja!«

Mort erwiderte: »Mein Arschloch sagt ...« Und damit ließ er einen gewaltigen Furz fahren. Pffffffffffffrrrrrrrrt!

»Oh Mann, das ist echt krank!«, rief Pete lachend und fächelte sich mit der Hand vor der Nase herum. »Mach wenigstens die verfluchte Tür auf, Alter! Ich krieg keine Luft!«

Mort prustete.

Pete sammelte seine Klamotten ein und zog sich an. »Hör mal, Bruder, ich muss mich bei meiner Truppe melden und Bescheid geben, dass ich nicht unerlaubt abwesend bin.« Er steckte die Beine in seine Jeans und setzte sich hin, um in die Stiefel zu schlüpfen.

»Kannst du dafür Schwierigkeiten bekommen?«, fragte Mort mit besorgt gerunzelter Stirn.

»Quatsch! Ist bloß so ’ne Redensart. Bei den Pionieren ist man auf strikt freiwilliger Basis. Ich will bloß nicht, dass sich jemand fragt, wo ich stecke. Ich komme später zurück, dann gehen wir zusammen zur Orientierung.«

»Alles klar.«

Pete verabschiedete sich mit einem Salut. Müde und verkatert streckte sich Mort auf seiner Pritsche aus. Trotz der Kopfschmerzen hatte ihn Pete aufgeheitert, aber schon bald kehrten seine Gedanken zu Dao Ming zurück, und seine Stimmung verfinsterte sich rasch wieder.

Mort rollte sich auf die Seite, drehte sich der Wand zu. Er wollte nicht an Dao Ming denken, an die Nacht, in der sie sich beim Schlafen in den Armen gehalten hatten, an ihre Wange auf seiner Brust, an ihren Liebesakt, an ihr befriedigtes, unbeschwertes Bettgeflüster danach, aber anscheinend hatte sein Verstand eigene Vorstellungen. Er spulte ihre intimen Augenblicke immer und immer wieder ab, eine Filmschleife bittersüßen Vergnügens, die ihm vor Verlustempfinden schier den Atem raubte. Mort döste mit Gedanken an Dao Ming ein, aber der Schlaf verschaffte ihm keine Erlösung. Stattdessen träumte er auch noch von ihr und der Traum fühlte sich so echt an, dass sein Herz schmerzte, als er erwachte. Seine Finger tasteten nach der Phantomhaut, die sich noch vor wenigen Augenblicken an ihn geschmiegt hatte.

Pete schaltete das Licht ein, als er geräuschvoll hereingepoltert kam. »Aufwachen, Narbengesicht! Ich bin aufgehalten worden«, rief er. »Uns bleibt nicht viel Zeit, um’s rechtzeitig zum Versammlungssaal zu schaffen.«

Mort erschrak dermaßen, dass er fast von der Pritsche fiel. »Wo sind meine Schuhe?«, fragte er und suchte verschlafen blinzelnd den Boden ab.

»An deinen Füßen, Trottel«, antwortete Pete.

Mort blickte hinab. »Oh. Das ist gut.«

»Komm, gib mir die Hand«, forderte Pete ihn auf und zog Mort aus dem Bett. »Hier ist dein Stock.«

Mort kniff angesichts des böigen Dezemberwinds die Augen zusammen, als sie die dunkle Anlage in Richtung Versammlungssaal durchquerten. Es schneite wieder, der Himmel war bedeckt und sternenlos. Vor dem Versammlungssaal lungerten mehrere Leute herum, vorwiegend Raucher – winterfeste Seelen, die bereit waren, die Kälte für ihre Nikotinsucht hinzunehmen –, aber keine Warteschlange. Sie gingen direkt hinein.

Mort verblüffte, wie viele Menschen sie drinnen antrafen. Es mussten mindestens hundert sein. Sie wuselten die Gänge auf und ab, tratschten, lachten, setzten sich, standen auf. Die meisten von ihnen wirkten vergnügt und aufgeregt. Ihre Stimmen vermengten sich zu einem gedämpften Tosen, ließen den Versammlungssaal brummen wie einen Bienenstock.

Mort ließ den Blick über die Gesichter rings um ihn wandern und hoffte – fürchtete –, Dao Ming in der Menge zu erblicken. Er war ziemlich sicher, sie trotz seiner geistigen Blessuren sofort zu erkennen, falls er sie sah. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, tauchte ihr Bild hinter seinen Lidern auf. Zumindest das hatte Da Vinci ihm nicht gestohlen – obwohl Mort die endgültige Überzeugung fehlte, das als Segen zu betrachten. Ebenso wenig vermochte er zu sagen, ob er sich erleichtert oder enttäuscht fühlte, als er sie nirgends entdeckte.

»Komm. Hocken wir uns hin, bevor die guten Plätze alle weg sind«, schlug Pete vor und stupste Mort vorwärts.

Der Versammlungssaal erwies sich als überraschend groß und, weiter von den Türen entfernt, als ziemlich warm. Auf der Bühne vor einer Reihe von Klappstühlen aus Metall stand ein Podium. Pete sichtete einige leere Plätze in der Mitte und begann sich durch die Menge zu schieben. Dabei rief er: »Platz da! Behinderter! Lasst uns durch!« Ein paar Männer stießen Pete zurück und eine Frau nannte ihn einen Trottel, aber die meisten Leute warfen einen flüchtigen Blick auf Mort und wichen bereitwillig zur Seite. Mort und Pete zogen ihre Jacken aus und setzten sich.

Der Lärm der Menge schwoll an, wurde zu etwas Greifbarem, das dicht unter dem Kuppeldach zu summen schien wie ein Insektenschwarm. Mort legte den Kopf in den Nacken und erblickte einen Balkon, der über das Erdgeschoss ragte. Auch dort oben saßen Menschen, allerdings nicht viele. Hauptsächlich Teenager.

»Wow, hier sind ja eine Menge Leute«, stellte Mort fest.

»Was?«, fragte Pete laut nach.

»Ich sagte: ›Wow ...‹«

»Was?«

»Vergiss es.«

Mehrmals mussten sie aufstehen, damit sich andere an ihnen vorbeizwängen konnten. Nach einigen Minuten erklommen Männer und Frauen in formeller Aufmachung die Bühne und kreisten ziellos um die Metallklappstühle, plapperten dabei, schüttelten sich gegenseitig die Hände, lachten. Es sah aus, als spielten sie eine sehr entspannte Version von Reise nach Jerusalem, nur ohne Musik. Bei einer der Frauen auf der Bühne handelte es sich um die mollige Blondine aus der Verwaltung, die anderen jedoch kannte Mort nicht. Schließlich löste sich ein älterer Herr in dreireihigem Anzug von der Gruppe und betrat das Podium. Die anderen setzten sich und schauten ihn erwartungsvoll an.

»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, begann er und klopfte mit einem Finger auf das Mikrofon. »Entschuldigung. Darf ich alle ersuchen, sich hinzusetzen? Wir möchten mit der Orientierungsveranstaltung beginnen.«

Pete erhob sich von seinem Stuhl und brüllte: »Alle hinhocken und Klappe halten!«

Vereinzeltes Gelächter ertönte und mehrfach wurde gerufen: »Setz dich selber hin und halt die Klappe!« Aber letztlich eilten alle zu ihren Plätzen. Das Tosen der Unterhaltungen ließ um mehrere Lautstärkestufen nach.

Pete setzte sich wieder und grinste Mort an.

Mort grinste kopfschüttelnd zurück.

»Danke sehr«, sagte der Mann in dem dreireihigen Anzug. Eine schrille Rückkoppelung des Mikrofons ließ alle Anwesenden zusammenzucken. Das Raunen der Menge wich einem Gemurmel – wenngleich es natürlich wie immer den einen oder anderen gab, der sich ein Hüsteln nicht verkneifen konnte.

Der Mann auf dem Podium lächelte wohlwollend. Mort fand, dass er aussah wie der Typ aus der alten Fernsehserie Hawaii Five-0, allerdings mit dem gewellten silbrigen Haar eines TV-Predigers. »Guten Abend, meine Damen und Herren. Für diejenigen unter Ihnen, die gerade erst eingetroffen sind: Mein Name ist Charles Eckenberg. Vor der Epidemie habe ich als ordnungsgemäß gewählter Vertreter des großartigen Bundesstaats South Carolina im Senat der Vereinigten Staaten gedient. Republikaner.«

Es gab etwas Applaus, einige Buhrufe und ein bisschen Gelächter über die Buhrufe.

»Ich fungiere seit Gründung dieser Gemeinde als deren Verwaltungsleiter und das wird so bleiben, bis die Krise vorbei ist und wir unsere Gesellschaft wiederaufbauen können. Ich weiß, dass sich einige von Ihnen Wahlen wünschen. Sie können mir glauben, ich wäre nur allzu erleichtert, könnte ich meine Verantwortung jemand anderem übertragen, aber vorläufig verfügen wir schlichtweg nicht über die Ressourcen, um Wahlen abzuhalten. In dieser Anlage treffen so schnell Überlebende ein, wie wir sie gerade registrieren und unterbringen können – Überlebende wie Sie selbst, von denen viele dringend medizinischer und psychologischer Behandlung bedürfen. Wir alle, ich selbst mit eingeschlossen, haben ein erschütterndes Martyrium durchgemacht. Wir haben überlebt, aber unser Kampf ist noch längst nicht vorbei.«

Verwaltungschef Eckenberg räusperte sich, dann fuhr er fort: »Gestatten Sie mir zunächst, Sie in Neu-Jerusalem herzlich willkommen zu heißen. Mir ist bewusst, dass diese Anlage einen etwas bedrückenden Eindruck macht, trotzdem hoffen wir, dass Sie diesen Ort mit der Zeit als Ihre Heimat betrachten werden. Die Zäune, die Wachtürme, das bewaffnete Wachpersonal – all das ist zu Ihrem Schutz da. Bitte haben Sie nicht das Gefühl, hier gegen Ihren Willen festgehalten zu werden. Es steht Ihnen jederzeit frei, die Anlage zu verlassen, sollte jemand unter Ihnen den Wunsch hegen, etwas so Törichtes zu tun, aber wir hoffen sehr, dass Sie bleiben. Ich brauche wohl nicht speziell darauf einzugehen, wie wichtig jeder und jede Einzelne von Ihnen für den Fortbestand unserer Spezies ist.

Nun ... was genau ist dieser Ort, dieses Neu-Jerusalem? Soweit wir wissen, wurde diese Anlage von der Regierung der Vereinigten Staaten für den Fall einer landesweiten Notsituation errichtet. Als ursprünglicher Zweck war die Internierung feindlicher Kämpfer aus dem Inland vorgesehen. Ich glaube, manche Menschen, vorwiegend Verschwörungstheoretiker, haben solche Einrichtungen vor der Epidemie als Konzentrationslager der Katastrophenschutzbehörde FEMA bezeichnet. Der neue Name dieser Anlage jedoch wurde von den Archonten ausgewählt. Nicht von uns. Ich bin sicher, Sie sind alle neugierig, mehr über diese seltsamen und wunderbaren Geschöpfe zu erfahren, aber bitte haben Sie noch etwas Geduld ...«

Fasziniert lauschte Mort, wie der Verwalter ausführlich über die Anlage referierte, über die Gesellschaft, die sich darin gebildet hatte, und über die Regeln und Vorschriften, die von allen eingehalten werden mussten, um das Überleben ihrer Rasse zu gewährleisten. Eckenberg hielt allen vor Augen, dass der Fortbestand der Menschheit ungeachtet der Hilfe der Archonten keineswegs garantiert sei. An vielen Orten wütete die Epidemie nach wie vor. Es gab Kriege und Gerüchte über Kriege. Nukleare Zwischenfälle hatten sich ereignet. Erst unlängst hatte man den Kontakt zu einer Zuflucht im Mittleren Westen namens Eden verloren und man vermutete, dass es dort zu Kampfhandlungen mit militanten Überlebenden gekommen sein könnte. Man hatte seit mehreren Tagen nichts mehr aus dem Lager gehört und wartete derzeit auf Neuigkeiten von jenen Archonten, die den Sektor betreuten.

Eckenberg verriet, dass die Archonten aktuell sieben bekannte Lager des Verteidigungsministeriums benutzten, um Überlebende in Nordamerika unterzubringen, Eden nicht mitgezählt, und sie standen alle in Funkkontakt miteinander. Insgesamt hatten etwa 17.000 Menschen in den Vereinigten Staaten die Zombieseuche überlebt, es bestand also Hoffnung. Und da die Archonten so engagiert halfen, meinte Eckenberg, bestehe noch mehr Hoffnung.

»Ich denke, bevor ich das Podium an Mrs. Walters übergebe, wäre es für unser aller Moral gut, wenn wir uns erheben und gemeinsam den Fahneneid sprechen«, verkündete Mr. Eckenberg dramatisch. Sein Vorschlag wurde mit begeistertem Applaus quittiert.

Der Teenager aus dem Registrierungsbüro trat mit der Flagge der Vereinigten Staaten von der Seite der Bühne vor, und der Beifall schwoll an. Die Frau, die neben Mort saß, brach gar in Tränen aus. Mort spürte auf den eigenen Wangen Feuchtigkeit und sah, dass sich auch Pete die Augen rieb.

Wie alle anderen erhob sich Mort. Er legte die Hand aufs Herz und sprach die vertrauten Worte. Seine Stimme ging im Chor der anderen Überlebenden unter, die den Fahneneid auf ein Land schworen, das vorübergehend tot sein mochte, aber wie die Horden der Zombies, die versucht hatten, es zu verschlingen, von den Toten auferstehen konnte – nein, musste!

Als Mort die Worte sprach, setzte ein stechender Schmerz in seinem Schädel ein. Er zuckte zusammen und schaute instinktiv zur linken Seite der Bühne. Dort stand hinter den Vorhängen neben einem Notausgang einer der Archonten.

Die Kreatur starrte ihn an.

Das Wesen bot einen grässlichen Anblick. Knochenbleiche Haut, die sich straff über die kantigen Züge des Kopfs spannte. Große, schimmernde schwarze Augen. Rote Lippen rings um haifischartige Zahnreihen. Wie konnte jemand diese Kreaturen als wunderschön empfinden? Waren die anderen Überlebenden allesamt verrückt oder hatte nur er Wahnvorstellungen – eine Manifestation der Schäden, die der psychotische Da Vinci in seinem Gehirn angerichtet hatte?

Morts Zunge wurde gefühllos, sein Mund mit einem Mal staubtrocken. Er umklammerte seinen Kopf, als die Schmerzen sich verstärkten.

Pete stupste ihn an.

Mort löste den Blick von dem Archonten und sah, dass die Lippen seines Freundes die Frage bildeten: »Was hast du?«

Mit rasendem Herzen nickte Mort in Richtung des Archonten.

Pete beugte sich vor, um hinzusehen, dann drehte er sich achselzuckend Mort zu. »Was?«

Mort schaute erneut zu dem Archonten, der mit gerunzelter Stirn in seine Richtung zu blicken schien. Mort verspürte einen neuerlichen Anflug von Schmerzen, diesmal noch heftiger. Er schrie auf und ließ sich schwerfällig auf seinen Sitz plumpsen, was jedoch niemand bemerkte, weil mittlerweile der Fahneneid abgeleistet war und alle Versammelten wieder Platz nahmen.

Pete beugte sich zu ihm. »Was ist los, Mort? Du bist kreidebleich.«

Mort schüttelte den Kopf. Die Schmerzen flauten allmählich ab. Das Gefühl, dass sich schmutzige Glassplitter in das zarte graue Gewebe seines Gehirns bohrten, schrumpfte zu einem stumpfen Pochen hinter dem rechten Auge zusammen. Er spähte zu dem Archonten und stellte erleichtert fest, dass die Kreatur das Interesse an ihm verloren hatte. Mittlerweile galt ihre Aufmerksamkeit allein der Bühne.

Als Mrs. Walters das Podium erklomm und sich an die Versammelten wandte, nahm Mort den Saal eingehender in Augenschein. Er sichtete einen zweiten Archonten, der in den Schatten auf der gegenüberliegenden Seite des Raums stand. Die Kreatur wirkte kleiner und dünner – vielleicht ein weibliches Exemplar. Jedenfalls vermittelte sie den Eindruck von Weiblichkeit, obwohl sie keine Brüste besaß und wie die anderen vollkommen kahl war. Zum Glück schenkte sie ihm keinerlei Beachtung.

Mrs. Walters ging auf die Quartiervorschriften ein, danach referierte ein Mann namens Howard Brewer über die Arbeitseinteilung und das Guthabensystem. Als Brewer seine Ausführungen beendet hatte, trat ein anderer Mann ans Podium und sprach über die – mangels eines besseren Begriffs, wie er meinte – »Zombies«. Alle rings um Mort wirkten plötzlich beunruhigt. Nervöse Blicke wanderten hin und her, als der Sprecher, irgendein Wissenschaftler, erläuterte, was man über den Zombieausbruch wusste. Nichts davon stellte eine Überraschung für die Anwesenden im Versammlungssaal dar. Sie alle besaßen reichlich Erfahrung im Umgang mit den unersättlichen Kreaturen.

Niemand wusste mit Sicherheit, woher der Erreger stammte, erklärte der Wissenschaftler. Ein Mann in der Reihe vor Mort murmelte etwas über militärische Experimente. Jemand hinter Pete meinte, es handle sich um die biblische Prophezeiung der Auferstehung der Toten, die bloß anders ausgefallen sei, als die Menschen es sich vorgestellt hatten. Mort kannte die Wahrheit nicht und glaubte auch nicht, dass es eine Rolle spielte, woher das Virus kam. Man fragte sich ja auch nicht, woher die Haie kamen, wenn man im Wasser von Flossen umkreist wurde. Man flüchtete einfach schleunigst an Land!

Die Präsentation neigte sich dem Ende zu. Doktor Whalen erklomm noch die Bühne und gab bekannt, dass in der Krankenstation nach wie vor Freiwillige zum Verteilen von iOSAT gebraucht würden. Die Kaliumjodidtabletten würden dabei helfen, die Aufnahme von verstrahltem Jod zu verringern, sollte Fallout von den Regionen, in denen sich nukleare Zwischenfälle ereignet hatten, ihre Gemeinde erreichen.

»Bitte beachten Sie, dass es sich lediglich um eine Vorsichtsmaßnahme handelt, allerdings um eine meines Erachtens kluge. Wir wissen nicht, mit wie viel radioaktivem Fallout wir konfrontiert werden könnten«, erklärte Doktor Whalen. »Hoffentlich bleibt das Wetter so, wie es bisher gewesen ist, nämlich günstig für uns, aber wir müssen für alle Fälle gewappnet sein.«

Ein verängstigtes Raunen ging durch die Menge.

Ehe die Menschen zu sehr darüber nachdenken konnten, trat erneut Eckenberg ans Mikrofon und dankte dem Arzt. Dann forderte er alle, die sich freiwillig melden wollten, dazu auf, sich im Eingangsbereich in die entsprechenden Formulare einzutragen. Er setzte ein breites, strahlendes Politikerlächeln auf. »Nun denn, wie ich weiß, sind Sie alle neugierig auf die Wesen, die sich dabei hervorgetan haben, uns in dieser Stunde der größten Not beizustehen. Bitte begrüßen Sie mit mir den Sprecher der Archonten, Yaldabaoth!«

Der Applaus ließ die Wände des Versammlungssaals erzittern. Mort hielt sich die Ohren zu.

Auf das Stichwort hin trat ein großes, beeindruckendes Wesen hinter den Vorhängen hervor. Es bot einen Ehrfurcht gebietenden, allerdings auch schrecklichen Anblick. Yaldabaoth, der Eckenberg um knapp einen halben Meter überragte, schritt erhaben zum Podium. Die runzelige Kreatur bückte sich, um ins Mikrofon zu sprechen, zögerte kurz, als der Beifall anhielt, und murmelte dann: »Ruhe bitte.«

Die beiden Worte brachten die Menschenmenge schlagartig zum Verstummen.

»Danke«, sagte das Geschöpf. Es besaß eine satte, volltönende Stimme.

Der Kontrast zwischen der melodischen Stimme und dem äußeren Erscheinungsbild kam Mort regelrecht erschreckend vor. Wie beim Rest seiner Art war die Haut ledrig, vollkommen farblos und spannte sich straff über die Konturen des Schädels. Dennoch sprach Sanftmut aus den funkelnden schwarzen Augen, als die Kreatur den Blick durch den Saal wandern ließ. Das Lächeln wirkte echt, wenngleich gruselig. Das erste Wort, das Mort einfiel, um das Wesen zu beschreiben, war »löwenhaft«. Mit den breiten, flachen Zügen, dem Kinn gleich einem Marmorblock und den schwarzen mandelförmigen Augen erinnerte es eindeutig an einen Löwen.

»Ich hoffe, ihr alle verzeiht mir, wenn ich etwas Mühe mit eurem Alltagsenglisch habe. Es ist nicht meine Muttersprache.«

Obwohl Mort das für einen halbherzigen Witz hielt, lachte niemand.

Yaldabaoth lächelte verhalten und fuhr fort: »Mein Name ist Yaldabaoth. Ich bin ein Archont. Ich wurde dazu auserkoren, als Bindeglied zwischen meinem Volk und der provisorischen Regierung zu fungieren, die ihr in dieser Zuflucht eingesetzt habt.

Mein Volk teilt sich diese Welt im Verborgenen schon so lange mit euch, wie wir zurückdenken können ... und wir Archonten besitzen ein sehr, sehr langes Gedächtnis. Ich selbst bin über 600 Jahre alt. Unter meinem Volk gilt das gerade mal als mittleres Alter.«

Mort lächelte. Es – er! – besaß doch tatsächlich einen Sinn für Humor!

»Mir ist bewusst, dass euch unser Erscheinungsbild und unsere Fähigkeiten entsetzen müssen ...«

»Nein! Nein!«, brüllte die Menge. »Wir lieben euch! Ihr seid wunderschön! Engel!«

»... aber lasst mich euch versichern, dass wir keine Hintergedanken hegen. Wir möchten lediglich eure Rasse retten. Im Verborgenen teilen wir uns diese Welt schon seit Jahrtausenden mit euch und wir können uns nicht vorstellen, ohne euch weiterzuexistieren. Im Verlauf der Epochen haben wir euch lieb gewonnen. Obwohl wir in grauer Vorzeit von eurem Volk als Götter und in jüngeren Zeiten als Engel bezeichnet worden sind, wollen wir ebenso wenig über euch herrschen, wie wir euer Aussterben bezeugen wollen. Wenn diese entsetzliche Krise ausgestanden ist, werden wir uns aus der Welt der Menschen zurückziehen und wieder zu Legenden werden.

Es gibt nur wenige von unserem Volk und wir sind Einzelgänger. Erst diese Katastrophe hat uns gezwungen, unser Gelübde der Nichteinmischung zu widerrufen. Die letzten 5000 eurer Menschenjahre haben wir mit großem Interesse und tiefer Zuneigung eure Rasse beobachtet und auf eure Weiterentwicklung gehofft, damit euer Volk eines Tages seinen Platz an unserer Seite als Verwalter dieser Welt einnehmen kann.

Ich bete, dass dieser Tag noch kommen mag.«

Seine Worte wurden mit verblüffter Stille quittiert.

Lächelnd ließ Yaldabaoth den Blick über die Schar der Menschen wandern, die ihn weiterhin bewundernd anhimmelten. Mort beobachtete, wie die unmenschlichen Augen der Kreatur in seine Richtung schwenkten. Die stechenden Schmerzen in seinem Kopf kehrten zurück und schwollen rasant an, als sich ihm der Blick jener Augen näherte. Dann sah ihn der Archont unverwandt an und Mort zuckte auf seinem Sitz zusammen. Er sprang auf die Beine und schrie gequält auf. Es fühlte sich an, als habe ihm jemand einen langen Nagel mitten in die Stirn gehämmert.

Die anderen zwei Archonten traten auf die Versammelten zu, insbesondere auf Mort. Aus ihren mumiengleichen Fratzen sprach Beunruhigung.

!!!SCHMERZ!!!

Mort umklammerte seinen Kopf. Einen Moment lang wirkte es so, als versuche er, ihn sich vom Hals zu reißen. Er heulte unkontrollierbar auf und sein gesamter Körper bebte. Pete streckte besorgt die Hände nach ihm aus und brüllte seinen Namen, aber Mort nahm seinen Freund ebenso wenig wahr wie die Menschenmenge, die ihn neugierig und verdattert anstarrte. Er nahm überhaupt nichts mehr wahr außer den gleißenden, peinigenden Stacheln blanker Schmerzen, die sich tief in sein Gehirn bohrten. Nicht einmal Da Vincis Bolzenschussapparat hatte solche Qualen verursacht.

»Mort!«, brüllte Pete und fing einen fuchtelnden Arm seines Freundes ab. »Was ist? Was hast du?«

Morts Körper krümmte sich, bog das Rückgrat so sehr durch, dass es schien, die Knochen müssten brechen und auseinanderfallen, dann sackte er zusammen. Steif fiel er gegen seinen Sitz. Die Augen rollten in den Höhlen nach oben, seine Gliedmaßen zuckten spastisch.

»Er hat einen Anfall!«, rief die Frau auf dem Platz neben ihm.

»Jemand soll diesen Arzt holen!«, schrie Pete flehentlich. »Mein Kumpel braucht Hilfe!«

Mort rutschte seitwärts zu Boden, sein Körper wurde steif wie ein Brett. Pete versuchte ihn aufzufangen, bevor er vom Sitz glitt, aber er wurde aus dem Gleichgewicht gerissen und wäre beinahe auf ihn gefallen. Ein knirschender Laut ertönte, als Mort mit dem Gesicht voran auf dem Boden zwischen den Sitzen landete ... schließlich versank seine Umgebung in barmherziger Dunkelheit.