Prolog
Esther musste sich extrem anstrengen, um die Schreie zu unterdrücken, als die Zombies stöhnend mit den Fingern über die Fensterscheiben des Vans kratzten. Ihr Enkel lag mit den kleinen Händen über den Ohren auf ihrem Schoß und schlief – Gott allein wusste, wie er das schaffte. Er war ein blasser, wunderschöner Junge mit langen dunklen Wimpern. Sein Vater – der ihre Flucht mit dem Leben bezahlen musste – hatte sich immer über die Zierlichkeit seines Sohns beklagt. Esther störte es allerdings nicht, dass Drew schmal, sanftmütig und sensibel war. Er war ihr einziges Enkelkind und sie liebte ihn mit einer Innigkeit, wie sie nur eine Großmutter aufzubringen vermochte. Falls es ihm half, für ein paar Augenblicke Ruhe zu finden, wenn sie ihr Gefühl von Grauen zurückdrängte und sich still verhielt, dann tat sie das gerne für den Kleinen.
Was gäbe ich jetzt für ein großes Glas süßen Eistee!, dachte Esther und versuchte im Mund etwas Speichel zu sammeln.
Diese Hitze!
Esther und ihr Enkel saßen seit mittlerweile 36 Stunden in diesem Van fest. Im Dodge Caravan ihres Schwiegersohns, Baujahr 2003. Drews Vater hatte versucht, die Zombies wegzulocken, nachdem diese grauenhaften Kreaturen ins Haus eingedrungen waren. Es gab nur ein Problem: In ihren chaotischen Bemühungen, der Horde Monster zu entkommen, die ihre Verteidigungslinie durchbrochen hatte, war Jake Werlitz völlig entfallen, dass die Schlüssel des Vans noch in seiner Hüfttasche steckten. Esther und Drew waren über den Hinterhof geschlichen, in den Van gestiegen und hatten gerade noch rechtzeitig die Türen zugeknallt, aber dann stellte Esther fest, dass es keine Möglichkeit gab, den Wagen zu starten. Sie saßen in der Falle. Und die letzten, qualvollen Schreie ihres Schwiegersohns hatten noch mehr Zombies in die nähere Umgebung gelockt.
Esther streichelte das weiche Haar ihres Enkels und strich es ihm aus der Stirn. Ihre knorrigen Finger zitterten. Der Anblick seiner trockenen, rissigen Lippen, von denen sich die Haut schälte, erfüllte sie jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, mit neuer Panik.
Wir können nicht viel länger hierbleiben, dachte sie. Sonst verdursten wir.
Hätte sie wenigstens die Fenster ein Stück herunterkurbeln können. Bereits den ganzen Monat war es für die Jahreszeit unverhältnismäßig warm gewesen und in dieser Woche hatten sich die Temperaturen ständig zwischen 28 und 33 Grad bewegt. Das lag wohl an dieser globalen Erwärmung, von der andauernd geredet wurde, vermutete sie. Als sie aus dem Haus gerannt waren, um den Zombies zu entkommen, war es noch einigermaßen kühl gewesen. Bei Tagesanbruch hatte sich ihre Zuflucht allerdings rasch in einen Backofen verwandelt und die Hitze folterte sie stundenlang. Unbarmherzig. Bedrückend. Sie presste jedes Quäntchen Schweiß aus ihnen heraus.
Und die Hitze hielt nach wie vor an, obwohl die Sonne bereits vor Stunden untergegangen war. Man fühlte sich, als sei man von Kopf bis Fuß in ein heißes, nasses Handtuch gewickelt. Wenn Esther das Fenster herunterkurbeln könnte, hätte ihnen die kühle Nachtluft vielleicht ein wenig Erleichterung verschafft, aber sie befürchtete, dass diese schrecklichen Kreaturen dann sofort die Finger in den Spalt zwängten und die Scheibe aus der Tür rissen.
Und wenn sie das taten ...
Vielleicht sollte ihr Enkel am besten im Schlaf sterben. Käme es nicht einer Gnade gleich, wenn der kleine Drew einfach nicht mehr aufwachte? Die an den Fenstern kratzenden Schreckensgestalten nicht mehr sehen musste? Keinen weiteren Tag im Van verbringen, wo er schrittweise gekocht und von Durst und dem zermürbenden Geheul dieser unermüdlichen toten Wesen gequält wurde?
Nein! Nein, nein, nein!, dachte Esther. Du darfst nicht aufgeben! Niemals!
Esther tat das Einzige, was ihr noch blieb: Sie betete. Sie betete zu Gott. Sie betete zu Jesus und zur Jungfrau Maria. Sie betete zu jedem übernatürlichen Geschöpf, das möglicherweise zuhörte. Es kümmerte sie nicht, wer – Allah, Buddha oder der heilige Ronald McDonald im Cheeseburger-Himmel –, solange sie nur irgendjemand erhörte.
Bitte rette uns! Oh Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name ...
Grundsätzlich war sie keine religiöse Frau. Offiziell mochte Esther evangelisch sein, aber sie hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt. Dafür hatte sie jegliche Form von organisierter Religion zu sehr enttäuscht. Sie war angewidert von den Klüngeln, dem Klatsch und der Theatralik ihrer örtlichen Kirche sowie von den Skandalen und der Gier der größeren christlichen Organisationen mit ihren wie Maschinengewehre plappernden Fernsehpredigern und den ständigen Spendenaufrufen. Das kam spiritueller Erpressung gleich, nicht mehr und nicht weniger. Her mit 50 Millionen Dollar, sonst holt mich Gott zu sich nach Hause! Jesus heilt deine Arthritis, wenn du dieses Gebetskissen kaufst! Sie hatte es so sattgehabt, jeden Sonntag dieselben drei Personen den Gang hinabgehen zu sehen, um errettet zu werden. Herr im Himmel! Wie viele Male musste man einen Menschen eigentlich erretten? Hatte es in der Woche davor etwa nicht geklappt?
Nun wünschte sie sich, eine bessere Christin gewesen zu sein. Wie es die Bibel für das Ende der Zeit vorhergesagt hatte, waren die Toten auferstanden. Nur erwähnte die Bibel komischerweise nirgends, dass die Auferstandenen alle anderen töteten und auffraßen! Wäre sie eine bessere Christin gewesen, hätte man sie vielleicht in den Himmel geholt, bevor die Große Trübsal und all das hässliche Verspeisen von Gehirnen anfingen.
Jetzt ist es zu spät, sagte sie sich. Du hast gedacht, du seist zu schlau für Religion. Hast geglaubt, du könntest dich mit guten Taten durchmogeln. Jetzt sieh dir an, was es dir eingebrockt hat! Du sitzt in einem Van fest, umzingelt von Toten, die dich auffressen wollen, so wie sie die arme Sissy und Drews Papa Jake gefressen haben. Und du hast sogar deinen kleinen Enkel mit reingezogen! Du dummes altes Miststück!
Esther wünschte sich, öfter zum Gottesdienst gegangen zu sein. Um ihrer Familie willen wünschte sie, mehr und besser geglaubt zu haben. Wäre sie ein frommerer Mensch gewesen und hätte darauf bestanden, dass ihre Lieben den Pfad der christlichen Tugend mit ihr gemeinsam beschreiten, wären sie jetzt vielleicht nicht tot, und sie säße unter Umständen nicht mit ihrem Enkel in einem Van fest, während draußen rund drei Dutzend Zombies stöhnend und sabbernd nach ihren Gehirnen lechzten.
Drew rührte sich und wimmerte leise im Schlaf.
Esther streichelte weiter durch sein Haar.
»Ruhig, mein Schatz. Alles ist gut«, flüsterte sie.
Die Zombies drängten sich um die Fenster und glotzten mit ihren seelenlosen, milchigen Augen herein. Stöhnend klatschten sie mit den Händen gegen das Glas. Dabei hinterließen sie Flecken und Schlieren eines ölig wirkenden Schleims. Rotz und zähflüssiger, gelblicher Schaum baumelten an ihren Kinnpartien. Gelegentlich schlug einer von ihnen kräftiger gegen die Scheibe. Dabei versteifte sich jedes Mal Esthers gesamter Körper, weil sie fürchtete, das Glas könnte zerbrechen.
Sie fand es nahezu unmöglich, ihre Schreie zu unterdrücken. Immer, wenn sich eines der Ungetüme gegen die Fenster warf, hätte sie sich am liebsten die Seele aus dem Leib gebrüllt. Sie fühlte sich, als säße sie im größten, furchterregendsten Gruselkabinett der Welt fest. Sie wollte weg von hier, sich dem Grauen und der Hysterie ergeben, die ihr das Herz zu zerquetschen drohten – einfach aufgeben und es enden lassen. Wäre Esther allein gewesen, hätte sie wahrscheinlich die Tür aufgerissen, damit die Zombies mit ihr anstellen konnten, was immer sie wollten – so grauenhaft und schmerzvoll es auch sein mochte. Sie wusste, was sie erwartete, denn sie hatte mit angesehen, wie sie ihre Tochter mit bloßen Händen in Stücke gerissen, die Zähne in ihr Fleisch geschlagen und sie gefressen hatten. Sissy hatte dabei noch gelebt und gebrüllt wie am Spieß. Die Biester ähnelten Wölfen. Tollwütigen, ausgehungerten Wölfen.
Wie auch immer, Esther war nicht allein. Sie hatte Drew. Und solange sie Drew hatte, wollte sie durchhalten.
Bitte, oh Herr, schick mir einen Engel, betete Esther.
Der Tote, der ihr am meisten Kopfzerbrechen bereitete, schlurfte zur Beifahrerseite. Esther hatte ihn aufmerksam beobachtet. Er schien nicht so stumpfsinnig wie die anderen zu sein. In seinen milchigen Pupillen glühte ein Funke von Verschlagenheit. Er hatte es sogar mit dem Türgriff auf ihrer Seite des Wagens versucht, gleich nachdem sie ins Fahrzeug gesprungen waren. Natürlich hatte Esther die Türen verriegelt – sicherheitshalber. Gott sei Dank, denn jener Zombie war geradewegs zur Tür gewankt und hatte mehrmals linkisch daran gerüttelt und sie dabei mit dreckigen, fauligen Zähnen durch die Scheibe angegrinst.
Diese Zähne ..., dachte sie schaudernd.
Rohe Fleischfetzen hatten dazwischen gesteckt und an seinen Lippen geklebt – schwarz, triefend, ausgefranst und entzündet. Er hatte sie durch das Fenster höhnisch gemustert, während seine Augen unter teuflisch anmutenden Brauen funkelten.
Er besaß Intelligenz, das spürte sie. Eine entsetzliche Tücke. Er starrte nicht bloß irgendetwas an, das ihn sein kranker Verstand zu verfolgen aufforderte. Nein, er starrte sie persönlich an. Sie, Esther Rosenbaum.
Und er wollte sie töten.
Auf möglichst qualvolle Weise.
Sein Name lautete Richard. Das wusste sie, weil er auf der Brust seines Hemds eingestickt war. Er trug einen fleckigen grauen Mechanikeroverall mit dem Logo von Sal’s Quik Change & Lube auf dem Rücken. Außerdem wuchs ihm ein langer, struppiger Bart, orange wie ein Kürbis, verkrustet von braunem, getrocknetem Blut. Auf die rechte Wange hatte er sich Tränen tätowieren lassen.
Esther beobachtete ihn eingehend, während sie in ihrem Kopf die Litanei ihrer Gebete abspulte. Ihr gefiel nicht, wie er sie begaffte. Er stand einfach nur da und musterte sie, während all die anderen Zombies hirnlos umherschlurften. Er wirkte zu durchtrieben. Die anderen Toten bewegten sich langsam – das galt auch für ihn, allerdings auf eine andere Art. Eine hinterhältige Art. Immer wieder schlich er sich außer Sichtweite und umkreiste den Van.
»Oma, ich bin durstig«, krächzte Drew auf ihrem Schoß und rekelte sich ein wenig.
»Ruhig, mein Schatz. Schlaf weiter. Morgen früh bekommst du was zu trinken, in Ordnung?«, flüsterte Esther. Sie tätschelte sein Haar und spähte in den Innenspiegel, um zu überprüfen, ob sich Richard, der Zombie, hinter dem Fahrzeug befand. Beim Aufwachen des Jungen hatte er sich erneut ihren Blicken entzogen.
»Aber ich habe jetzt Durst«, quengelte Drew mit entsetzlich leiser, matter Stimme.
Es brach Esther das Herz, ihn so zu hören. Ihr armes Baby! Er klang so entrückt und schwach. Sie wusste, dass sein Leben an einem sehr dünnen, ausgesprochen brüchigen Faden hing, der jederzeit reißen konnte – ohne Vorwarnung. Das Bild setzte sich so lebhaft in ihrem Kopf fest, dass sie ihn tatsächlich vor sich sah: diesen einen glänzenden Faden.
Sie mussten eine Fluchtmöglichkeit finden oder bald gerettet werden, sonst starben sie. Ohne etwas zu trinken, überstand ein Mensch nur wenige Tage, das wusste Esther. Ihr Geist würde einfach verdorren und wie Staub weggeweht, wenn sie nicht bald aus diesem grässlichen Gefängnis entkamen.
»Kann ich morgen früh eine Limo haben, Oma?«, murmelte Drew. »Mit Eiswürfeln und einem Knickstrohhalm?«
»Natürlich, mein Schatz«, antwortete Esther. »Und ich genehmige mir ein feines Glas Eistee. Aber wir müssen uns bis morgen früh gedulden.«
»Na gut.« Der Junge seufzte. »Okay.«
Trotz des Wassermangels hatte sich Esther offenbar genug Körperflüssigkeit bewahrt, um einige Tränen hervorzupressen. Sie verfluchte diese Verschwendung und wischte sich die Wangen ab. Als sie gerade die Feuchtigkeit an ihren Fingerspitzen betrachtete und mit dem Gedanken spielte, die Finger in den Mund zu stecken, um sie abzulutschen, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, wie etwas auf sie zuschlich.
Sie drehte den Kopf und sah genauer hin.
Richard, der Zombie, kehrte zurück und grinste verträumt durch das Seitenfenster auf der Fahrerseite.
Geh weg!, dachte Esther. Husch! Ich hab’s für heute Nacht satt, mir deine hässliche Visage anzuschauen.
Er hielt etwas in der Hand.
Erst dachte sie, es handle sich um einen Stock. Er hielt ihn in der Hand, als wolle er Apportieren spielen. Das erinnerte sie an den alten Hund, den sie früher gehabt hatte, einen Golden Retriever namens Skipper. Er musste der apportierfreudigste Hund der Welt gewesen sein. Herrje, er war andauernd mit einem Stöckchen, einem Spielzeug oder einem Schuh im Maul aufgetaucht, hatte aufgeregt mit dem Schwanz gewedelt und wollte »Los, hol es« spielen. Ihr Ehemann Burt, Gott hab ihn selig, hatte diesen Hund vergöttert.
KNACK!
Esther zuckte zurück und stieß vor Überraschung einen spitzen Schrei aus, als sich plötzlich ein weißes Spinnwebmuster im Glas neben ihrer Wange abzeichnete.
Richard, der Zombie, gluckste und machte den Eindruck, als wolle er sie ficken, statt sie umzubringen und zu fressen.
Was er in der schleimigen grauen Hand hielt, war kein Stock.
Es war ein Stemmeisen!
Richard schwang es über den Kopf und ließ es plump herabsausen.
KNACK!
Das Geflecht der Sprünge in der Scheibe verbreiterte sich ein wenig.
»Oma? Was ist das? Was ist denn los?«, fragte Drew mit schriller Stimme und versuchte, sich aufzusetzen.
Esther drückte ihn an ihren üppigen Busen, kapitulierte letztlich vor ihrer Verzweiflung und fing an zu schluchzen.
KNACK! KNIRSCH! KNISTER!
Mit jedem geistlosen Hieb des Stemmeisens gab das fahrerseitige Fenster ein bisschen mehr nach. Es begann, sich nach innen zu biegen. Esther rechnete jeden Moment damit, zu spüren, wie Scherben auf sie spritzten und sich danach kalte, gierige Finger in ihre Haut bohrten. Diese grässlichen Kreaturen wollten sie sicherlich aus dem Auto zerren und bei lebendigem Leib auffressen!
Gott, lass es schnell gehen!, dachte Esther.
Sie schrie auf, als etwas Schweres auf das Dach des Vans krachte. Was immer es sein mochte, die Wucht ließ den Dodge auf den Stoßdämpfern schaukeln. Das Dach sackte ein wenig durch. Ein Laut wie von einem Schlag ertönte, gefolgt vom Kreischen zerreißenden Metalls.
Eine Sekunde später beobachtete Esther, wie etwas auf die Motorhaube des Wagens knallte. Etwas Schwarzes und Wellenförmiges. In der Dunkelheit der Nacht konnte sie nicht erkennen, worum es sich handelte, obwohl fast Vollmond war und sich ihre Augen längst an die Düsternis gewöhnt hatten. Aber es bewegte sich zu schnell, zeichnete sich nur als verschwommene Kontur ab.
Sie spürte, wie ihr kühle Luft über Kopf und Nacken strich, und blickte nach oben.
Was sie sah, ergab für sie keinen Sinn.
Das halbe Dach des Vans schien sauber aufgeklappt zu sein wie der Deckel einer Sardinenbüchse. Sie konnte den silbrigen, zernarbten Mond und dünne Wolkenfetzen mit schimmernden Rändern erkennen. Und Sterne. Das schmale Band der Milchstraße, den Kleinen Wagen.
Etwas Schattiges plumpste in den Wagen und landete in kauernder Haltung auf dem Beifahrersitz.
»Was ist das, Oma?«, piepste Drew und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, als er versuchte, an ihrem schützenden Busen vorbei zu erkennen, was vor sich ging.
Die schattige Kreatur auf dem Beifahrersitz legte den Kopf wie ein Vogel schief und lächelte dann. Esther schrak vor jenem Lächeln zurück, denn das Geschöpf vor ihren Augen war nicht menschlich. Es besaß große, runde schwarze Augen, bleiche Haut und Zähne wie ein Hai. Weiße, spitze Zähne, die sich wie bei einem Lattenzaun aneinanderreihten, gesäumt von grellroten Lippen.
Dann verschwammen ihre Gedanken, und sie hob die Hand an die Stirn. Gleichzeitig blinzelte sie benommen.
Nein, nicht menschlich ... aber wunderschön.
Ein Engel!
»Hab keine Angst, Esther Rosenbaum«, sagte das Wesen – der Engel – zu ihr. Seine weiche Stimme klang süß wie Honig. Seine Augen schimmerten blau wie der Himmel an einem prächtigen Sommertag, einem Tag von der Sorte, wie man ihn gern auf der Verandaschaukel damit verbrachte, den vorbeirollenden Verkehr zu beobachten, frisch gemähtes Gras in der Brise zu riechen und ein mit Wasserperlen übersätes Glas Eistee in der Hand zu halten.
Die alabasterhelle Haut des Engels präsentierte sich makellos; so weiß und rein, dass sie mit einem eigenen, inneren Licht zu leuchten schien. Und er hatte Flügel: wunderschöne schwarze Schwingen. Jede perfekt ausgerichtete Feder glänzte wie Öl.
»Ihr ... ihr seid gekommen«, stammelte Esther. Ihr Mund klappte vor Verwunderung auf, ihre Augen strahlten vor Ehrfurcht und Dankbarkeit.
»Natürlich sind wir gekommen«, erwiderte der Engel. »Wir haben deine Gebete erhört und sind gekommen, so schnell wir konnten.«
Esther rieb sich die Augen. Fast konnte sie den Heiligenschein des Engels erahnen, einen leichten goldenen Schimmer um seinen Kopf. So wundersam!
Er streckte ihr die Hände entgegen. Ihr fiel auf, wie lang und dünn und weiß seine Finger waren.
»Gib mir das Kind«, forderte er sie auf.
Schlagartig zögernd starrte Esther die Erscheinung an. Ohne zu wissen, weshalb, widerstrebte es ihr, diesem wundersamen Wesen ihren Enkelsohn auszuhändigen. Der Engel lächelte sie an, geduldig und verständnisvoll. Sein Antlitz war so schön, so lang und schmal und blass, mit hohen Wangenknochen und einer feingliederigen, aristokratisch wirkenden Nase. Die langen Haare hingen schwarz und glatt herab. Glänzend und sauber fielen sie vom Ansatz bis mitten auf die Brust. Das Wesen trug eine Rüstung und ein wallendes rotes Gewand.
»Schon gut. Ich verstehe das«, sagte der Engel. Seine Zähne wirkten sehr weiß und breit, als er sie anlächelte, aber ... aber ... Warum konnte Esther auf einmal nicht mehr klar denken?
Sie spähte durch die Windschutzscheibe. Etwas Dunkles und sonderbar Schlangenartiges verrenkte sich innerhalb eines Kreises heulender Zombies und peitschte umher. Das Flimmern einer rasanten Bewegung zeichnete abstrakte Muster rings um den wirbelnden schwarzen Derwisch. Schmatzlaute gingen von der tänzelnden Gestalt aus. Klatsch! Flop! Wusch!
Etwas knallte auf die Motorhaube des Vans und kam zwischen den Scheibenwischern zum Liegen.
Es handelte sich um den Kopf von Richard, dem Zombie. Sauber vom Hals abgetrennt.
Als Esther hinstarrte, verdrehten sich die bösartigen kleinen Augen von Richard, dem Zombie, in ihre Richtung und verengten sich zu Schlitzen. Seine Lippen dehnten sich zu einem gehässigen Grinsen. Es sah beinahe so aus, als ob er sie auslachte!
Der wirbelnde Derwisch hielt plötzlich inne und Esther erkannte, dass es sich um einen weiteren Engel handelte. Er stand gebückt auf dem Asphalt, einen Arm hinter den Rücken gestreckt. In der Hand hielt er ein Schwert, von dem dunkles Zombieblut tropfte, zäh wie Sirup. Der Engel – eine Sie, wie Esther feststellte – hatte mit den Toten rings um den Van kurzen Prozess gemacht. Sie verteilten sich in Brocken unterschiedlicher Größe um die schwarzen, kniehohen Stiefel des Engels.
Der weibliche Engel drehte den Kopf und grinste Esther an. Die alte Frau sog vor Verblüffung scharf die Luft ein, als sich die Schwingen des Geschöpfs im Mondlicht plötzlich entfalteten. Sie erwiesen sich als braun mit komplexen, schwarzen Mustern. Unmöglich groß, unglaublich schön. Die Flügel breiteten sich aus, bis sie, leicht in der Brise zitternd, den halben Himmel verschluckten. Schließlich falteten sie sich genauso unerwartet wieder zusammen. Als sie sich am Rücken des Engels schlossen, wurden sie scheinbar unsichtbar.
»Ihr Name ist HaMerkavah. Ich bin Metatron«, erklärte der Engel auf dem Beifahrersitz in sanftem Tonfall. »Wir sollten uns beeilen, bevor weitere Infizierte kommen.«
»Aber wohin bringt ihr uns?«, wollte Esther wissen.
»Wir sind gekommen, um euch nach Neu-Jerusalem zu bringen, wo ihr in Sicherheit sein werdet«, antwortete Metatron, der Engel. Erneut streckte er die Hände aus. »Ich kann nur einen von euch tragen. Leg das Kind in meine Arme oder übergib es in HaMerkavahs Obhut und komm mit mir. Wir müssen schnell verschwinden.«
Esther löste Drew von ihrem Busen und drückte den Jungen in Metatrons Arme. Zuerst setzte sich ihr Enkel mit entsetzter Miene zur Wehr, aber dann streichelte ihm der Engel über den Kopf und Drew erschlaffte selig schlummernd.
»Bitte sei vorsichtig mit ihm«, sagte Esther, die sich für ihre Besorgnis geradezu schämte. Ihr kleiner Enkelsohn lag in den Armen eines Boten Gottes – was gab es also zu befürchten?
»Fürchte nicht um seine Sicherheit. Er ist für uns das kostbarste Geschöpf auf der ganzen Welt.« Der Engel lächelte auf das Kind hinab, als er diese Worte sprach, und Esther glaubte ihm. Jede Anspannung fiel von ihr ab.
Der andere Engel, die Frau namens HaMerkavah, kam mit schwungvoll wippenden Hüften auf Esthers Tür zu. Dabei grinste sie, sichtlich mit sich zufrieden. Sie steckte das Schwert in die Scheide und blieb abwartend vor dem Fahrzeug stehen.
Der männliche Engel schwang sich durch das Loch im Dach und breitete die Flügel aus. Mit gütig schimmernden Augen verkündete er: »Ich verspreche dir Folgendes, Esther Rosenbaum: Mit der Blutlinie dieses Kindes wird Gott die Welt wiederherstellen.«
Die mächtigen Schwingen schlugen herab und der Engel erhob sich mit Esthers Enkel in den Armen in die Lüfte.
Esther vernahm aus einiger Entfernung das Geheul von Zombies. Eine ganze Horde der grauenhaften Kreaturen, unterwegs in ihre Richtung! Sie öffnete die Autotür und kletterte hinaus auf den Gehsteig.
»Au! Oh du meine Güte!«, stieß sie stöhnend hervor, als ihre Knie und ihr Rücken knackten. Sie war mehr als einen Tag lang in sitzender Haltung im Dodge eingesperrt gewesen.
Der Engel, HaMerkavah, schlug die Tür ungeduldig so fest zu, dass sich kleine Glaskörnchen von der Scheibe lösten, dann nahm sie Esther schwungvoll auf die Arme. »Wir müssen uns beeilen, alte Frau. Weitere dieser widerwärtigen Kreaturen nahen!«
Diesen Engel empfand Esther als weniger freundlich, aber sie beschloss, über dessen Rüpelhaftigkeit hinwegzusehen. Bei dem göttlichen Geschöpf handelte es sich offensichtlich um einen von Gottes Kriegsengeln – geschaffen für den Kampf, nicht für die Sanftmut.
Der Arm, der sie umschlang, wies eine schwere Panzerung in der Art eines verzierten Fehdehandschuhs auf, dessen Finger Gelenke besaßen und brutal wirkten. Das Schwert an der Hüfte des Engels war riesig. HaMerkavah spähte die Straße hinab und verengte die Augen. Das Geheul wurde lauter.
Esther hielt sich an dem Engel in der schwarzen Rüstung fest und kniff die Lider zusammen, als die ersten Zombies am Ende des Häuserblocks um die Ecke geschlurft kamen, auf sie zustürzten und nach heißem, frischem Gehirn brüllten.
Du meine Güte, sie fühlt sich kalt an!, ging Esther durch den Kopf. Die Haut des Engels fühlte sich eisiger an als die Metallrüstung, die den Körper schützte.
»Lass nicht los!«, befahl der Engel.
Keine Sorge, werd ich nicht!
Loszulassen war definitiv das Letzte, wonach ihr der Sinn stand.
Wie ein kleines Mädchen, das mit seinem Papa tanzen will, stieg sie auf die Zehen des Engels.
Die Zombiehorde stürmte die Straße hinunter. Es waren Dutzende, vielleicht Hunderte der geistlosen, stöhnenden Kreaturen. Und das Schlimmste: Esther kannte sie fast alle. Sie erkannte Sam Blackwell, der in der weißen Bruchbude an der Ecke wohnte; einen der Jungen, die im örtlichen Supermarkt Lebensmittel eintüteten; den stellvertretenden Sheriff, den Postboten, den zehnjährigen Sohn ihres Nachbarn. Sie alle hasteten die Straße entlang, die Kleider zerfetzt und steif vor geronnenen Körperflüssigkeiten, die Finger zu Klauen verkrümmt, bereit, sie und ihre Retterin in Stücke zu reißen.
Der Engel wandte das Gesicht dem Himmel zu, dann breitete er die Flügel aus und schwang sich in die Luft.
Der Van, die Straße, die Bäume, die Häuser und die Zombies blieben unter ihnen zurück. Der kühle Nachtwind toste in Esthers Ohren. Schaudernd klammerte sich Esther an dem Engel fest, als erst die Straße, dann das Viertel und schließlich die gesamte verflixte Stadt rasant unter ihnen zusammenschrumpften. Es kam ihr vor, als säße sie im größten Riesenrad der Welt, nur dass es keinen Sicherheitsbügel gab. Wenn der Engel sie jetzt fallen ließ ...
HaMerkavah gab einen erstickten Laut von sich. Offenbar hielt sich Esther allzu krampfhaft an ihr fest.
»Tut mir leid, meine Liebe!« Sie musste brüllen, um das Geheul des Windes zu übertönen. »Ich bin noch nie zuvor geflogen!«