21 Wozu nützt die Wahrheit? Das ist hier die Frage

Amina sah auf die Uhr. Sie wartete verzweifelt auf Diamantis. Ricardo hatte sie auf halb acht ins Son des Guitares an der Place de l’Opéra bestellt. »Wir nehmen einen Aperitif, und dann gehen wir irgendwo essen.« Sie konnte sich nicht drücken. Gestern schon hatte er sie im Mas erwartet, um mit ein paar Freunden zu essen. Aber sie hatte sich nicht entschließen können hinzugehen. Sie stand noch unter dem Schock von der Begegnung mit Diamantis.

»Wolltest du nicht schwimmen gehen?«, fragte sie Lalla. Sie wollte allein sein. Lallas und Nedims Gegenwart ging ihr auf die Nerven. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Kein Palaver.

»Kommst du nicht mit?«

Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht … Aber geht schon mal, ihr zwei.« Sie sah erst Nedim, dann Lalla an. Lalla musste begreifen, dass sie allein sein wollte.

Lalla stand auf und verschwand im Innern der Bar. Nedim konnte nicht anders, er musste ihr einfach nachsehen. Er verschlang sie mit den Augen. Verdammt, vielleicht konnte er ihr im Wasser eine Hand auf den Hintern legen.

»Du verdirbst dir noch die Augen«, scherzte Amina.

»Das tut keinem weh«, erwiderte er. »Und es kostet nichts.«

Amina lächelte. Der Typ hatte etwas, das ihr gefiel. Eine Art natürliche Aufrichtigkeit. Man konnte ihm nicht lange böse sein, selbst wenn alles an ihm, alles, was er dachte, unerträglich war. Frauen waren für die Männer entweder Sexualobjekte oder dumme Gänse. So simpel war ihre Welt. Einfach und grausam. Nedim war mit Sicherheit auch so. Aber, gestand sie sich ein, Diamantis musste ihn irgendwie mögen. Warum hätte er sich sonst um ihn gekümmert? Warum hätte er sonst seine Schulden übernommen?

»Sie ist meine Tochter.«

Das rutschte ihr so raus. Die Worte hatten sich nicht zurückhalten lassen. Wegen dieser Aufrichtigkeit, die ein Teil von Nedim war, die sie spürte und die sie rührte. Wie lange war es her, seit sie sich die Zeit genommen hatte, einem Mann mit anderem Interesse zuzuhören als dem, ihm so viel Geld wie möglich abzuluchsen? Sie erzählten alle die gleichen Geschichten. Sie logen. Sie belogen sich selbst. Keiner war zur Wahrheit fähig, sei es auch nur für eine Sekunde. Aber vielleicht lag das an ihrer Arbeit? Konnte man zu einer Animierdame in einem Nachtclub aufrichtig sein?

Nedim sah sie verblüfft an. »Das glaub ich dir nicht«, sagte er.

Was erzählte sie da! Lalla, ihre Tochter? Warum sagte sie das? Ihm? Was zum Teufel ging es ihn an, wessen Tochter Lalla war? In solche Geschichten wollte er nicht hineingezogen werden, die brachten ihn ganz durcheinander. Er konnte Lalla nicht mehr so angaffen, wenn die andere ihre Mutter war. Das war ihm unangenehm.

Er sah Amina wütend an. Und außerdem, wenn man so eine Tochter hatte, riss man sich verdammt noch mal die Beine aus, damit sie nicht auch auf den Strich ging! Na ja, stimmt schon, sie waren keine Nutten. Aber trotzdem! Was war mit einer Ausbildung! Würde er seiner Tochter das antun? Wenn er in Istanbul mit Lalla diese Kneipe aufmachen würde zum Beispiel? Mit Sicherheit nicht.

Amina klopfte Nedim aufs Bein. »He! Ich wollte nur sehen, wie du guckst, Nedim. Kennst du Diamantis schon lange?«, fuhr sie im gleichen Atemzug fort, als sei nichts gewesen.

»Von dieser Reise … Schade, eigentlich.«

»Wieso?«

»Nun, für mich ist die Seefahrt und das alles vorbei. Ich kehre heim.«

»Und er?«

»Was weiß ich! Diamantis redet nicht viel. Über sich, meine ich.«

»Ist er verheiratet?«

Diamantis kam und kam nicht, und all die Fragen, die sie ihm stellen wollte, drängten sich auf ihrer Zunge, ungeduldig, gierig nach Antworten, strömten sie aus dem Durcheinander der Jahre zusammen, aus dem Schweigen, das ihrer geplatzten Verabredung in der Bar du Cap gefolgt war. Wie oft hatte sie sich gefragt, was aus Diamantis geworden war? Wie oft hatte sie sich bei der Vorstellung überrascht, dass sie sich zufällig auf irgendeiner Straße in Marseille begegneten, und sich jedes Mal gefragt, ob sie sich wieder erkennen würden?

»Ich dachte, Sie kannten ihn.«

Wo blieb Lalla bloß? Dieses Gespräch wurde ihm unbehaglich. Diese Frau verunsicherte ihn schon wieder. Sie war ihm überlegen. Er hatte wohl verstanden, dass sie sich nicht mehr allzu sehr über ihn mokierte, aber jetzt, wo sie ernst war, war es noch schlimmer. Er konnte nicht mehr mit ihr blödeln, nicht einmal mit Lalla, das spürte er. Und überhaupt, verdammte Scheiße, Nedim, was war das für eine ätzende Geschichte mit den beiden Frauen, die auf Diamantis warten? Das war alles so undurchsichtig. Und dass er nicht durchblickte, beunruhigte ihn. Er würde vorgeben, pinkeln zu müssen, und sich verdünnisieren. Sie hatten es sowieso nicht auf ihn abgesehen, sondern auf Diamantis. Sollte Diamantis doch sehen, wie er klarkam. Wenn er überhaupt kam. Vielleicht hatte er gar keine Lust, die Mädchen zu treffen. Sie vor allem, diese Amina.

Er stand auf. »Ich muss mal«, entschuldigte er sich.

Amina hielt ihn am Arm zurück. »Nedim«, sagte sie, »du brauchst keine Angst zu haben. Ich will deinem Kumpel nichts Böses. Dir auch nicht. Was zwischen uns passiert ist, letzte Nacht, das ist … Das war was anderes … Unser Job, verstehst du, nur unser Job. Und dich hat es eben erwischt, das ist alles.«

»Ich hab keine Angst«, log er.

»Na, dann geh halt pissen.«

Lalla trat aus der Bar. Nedim wäre fast rückwärts umgefallen, als er sie sah. Der weiße Badeanzug, den sie trug, war nicht mehr als ein zweigeteilter Fetzen Stoff. Das Ganze schien knapp zu verbergen, was es oben und unten zu verbergen gab. Er dachte an Aysel. Sie müsste Wunder vollbringen, damit er Lallas Körper je vergessen konnte. Und dennoch vermisste er Aysel schon, während sein Blick noch über Lallas Formen schweifte. Zweifellos auch, weil Lalla ihm in diesem Moment für immer unerreichbar erschien.

Sie reichte Nedim eine schwarze Badehose. »Schau, da müsste dein kleiner Hintern wohl reinpassen.«

Sie lachte, er tat es ihr nach.

Hau ab, dachte Nedim wieder. Aber die Aussicht, mit Lalla baden zu gehen, während all die Typen ihr nachschauten, reizte seinen Stolz. Die Vorstellung, dass sie Lalla für sein Mädchen halten könnten, gefiel ihm. Und wer weiß, wenn er so tat als ob, würde es vielleicht Wirklichkeit werden.

Amina sah ihnen nach. Nedim hatte Lallas Hand genommen, als sie über den Strand gingen. Er ließ sie erst los, als sie ins Wasser sprangen. Das Leben konnte so einfach sein. Ein Mann und eine Frau, die sich kennen lernen. Am Strand oder in einer Bar, wie sie und Diamantis. Sie mögen sich, sie lieben sich. Und das Leben nimmt seinen Lauf.

Amina hatte den Eindruck, dass Nedim Lalla nicht ganz gleichgültig ließ. Er war eigentlich recht süß, fand sie. Solide, im Großen und Ganzen. Sie waren es, die nicht bei Trost waren. So zu schuften, wie sie es taten, immer wieder Typen anmachen, um Geld ins Habana fließen zu lassen, in Ricardos Taschen.

Im Wasser verlor sie die beiden aus den Augen. Ricardo. Er hatte ihr Leben organisiert. Als sei sie seine Sklavin. Die Kette war lang, aber sie war da, und am Ende jemand, der sie in der Hand hielt. Ricardos harte, erbarmungslose Hand.

Es war ihr nicht gelungen, von Gisèle fortzulaufen. Einer der Männer, den sie in der Nacht bemerkt hatte, Dominique, blieb ständig im Wohnzimmer.

Am Abend hatte Ricardo vorbeigeschaut. »Dein Freund, der Seemann, hat es sich anders überlegt, er kommt nicht«, eröffnete er ihr.

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Glaub, was du willst. Aber du wirst ihn so bald nicht wieder sehen.«

»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie besorgt.

»Nichts Schlimmes. Angst haben wir ihm gemacht, das ist alles. Eine Höllenangst.« Er lachte. »Er hat sich sogar in die Hose geschissen.«

»Dazu haben sie kein Recht.«

Er zuckte mit den Schultern, fischte eine Zigarettenschachtel hervor und bot ihr eine an. »Ich will dir was sagen, Amina«, fuhr er fort, nachdem er ihr Feuer gegeben hatte. »Du musst noch viel lernen. Wir reden später darüber. Aber merk dir eins. Als du in meinen Wagen gerannt bist, war das nicht so schlimm für dich, wie von den Typen wieder erwischt zu werden, du weißt schon, die dich an der Kehle hatten. Mit ihnen lägst du nicht in diesem Bett, sondern drei Fuß unter der Erde. Vergiss nicht, dass du mir dein Leben verdankst.«

Später hatte sie erfahren, wer Ricardo war. Eines der hohen Tiere in der Marseiller Unterwelt. Einer der letzten Überlebenden. Ein gefährlicher Mann also. Er hatte ihr die Wahl gelassen. Entweder sie wurde auf der Stelle seine Geliebte, oder er schickte sie auf die Straße. Rue Curiol, oben an der Canebière. Oder Rue Tapis-Vert oder Rue Thubaneau nahe am Cours Belzunce. Ganz miese Viertel, hatte er gesagt. In den Straßen geht es Schlag auf Schlag.

»Du kannst mich mal«, hatte sie geantwortet.

Er hatte ihr eine Ohrfeige verpasst, mit Nachdruck, aber ohne Hass. Kalt.

»Denk darüber nach.«

Sie hatte schnell nachgedacht. Umso schneller, als Ricardo ihre Bedingung akzeptierte. Nicht mehr auf Gedeih und Verderb einem Wahnsinnsanfall von Schmit ausgeliefert sein! Ihr wurde schon schlecht, wenn sie nur an ihn und sein Messer dachte. Ihn in den Straßen zu wissen, nahm ihr jede Lust, sich dort aufzuhalten.

Eines Morgens brachte Ricardo ihr die Zeitung. Schmits Foto war groß und breit auf der ersten Seite abgebildet. Er hatte gestern Abend auf dem Nachhauseweg zwei Kugeln in den Bauch und eine in den Kopf abbekommen. »Begleichung von alten Rechnungen«, lautete der Zeitungskommentar. Amina wollte den Bericht über ihn nicht lesen. Hauptsache, er war krepiert. Sie hatte schnell gelernt, dass es weder Gerechtigkeit noch Mitleid gibt. Für einen Moment hatte sie daran gedacht, auch den Kopf ihres Vaters zu fordern. Aber sie hatte sich nicht dazu durchringen können. Er war nur eine erbärmliche Null. Zwar hatte er sie ins Unglück gestürzt, aber er war ihr Vater. Sie sorgte nur dafür, dass er ihre Mutter nicht mehr belästigte.

Amina half ihrer Mutter, fern von ihm ein neues Leben zu beginnen. Und nicht mehr als Putzfrau. Sie brachten sie in einem kleinen Einzelhaus in Beaumont unter, in jenem italienischen Viertel, in dem Ricardos Onkel und Cousins lebten. Amina besuchte sie gern auf einen Kaffee oder ein Couscous, wie nur sie ihn zubereiten konnte. Ricardo begleitete sie nie. Er ließ sie mit ihrer Mutter allein. Es war einen Monat vor ihrer Niederkunft. Dass sie schwanger war, verbarg Amina so lange wie möglich vor Ricardo. Bis eine Abtreibung nicht mehr infrage kam. Zum Glück wuchs ihr Bauch nicht so schnell.

»Ist der Balg von dem Seemann?«, fragte er.

»Ja.«

Sie rechnete mit einer Ohrfeige. Aber es kam keine.

»Na gut«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Deine Mutter wird ihn aufziehen. Ich werde ihr Geld dafür geben.«

Lalla hatte eine glückliche Kindheit als falsches Waisenkind, zärtlich umsorgt von ihren beiden »Tanten«. Amina lieferte sich ganz Ricardo aus. Unvorbereitet tauchte sie mit ihm in tiefe Gewässer. Sie entdeckte bald, dass das Leben mit ihm in einer Welt spielte, die sich als ebenso gefährlich wie faszinierend erwies. Dass sie Ricardo gehörte, verschaffte ihr Macht und Komfort. Auch Respekt und Sicherheit. Sie ging kein Risiko mehr ein. Ihr Leben hatte keinen Sinn mehr, aber es verlief glücklicher als das von tausend anderen. Ein Vernunftleben, so wie es Vernunftehen gab. Sie gewöhnte sich daran.

Mit der Zeit wurde Ricardo ihrer überdrüssig, ihres Körpers. Leben ohne Liebe wird immer zum Überdruss. Sie wurde älter, er auch. Er hatte andere Mätressen in Marseille, aber auch an der Côte d’Azur. Und nicht wenig Ärger. Gangs gerieten aneinander. Wegen Drogen, Prostitution, Glücksspiel. Aber auch im Immobiliengeschäft, auf dem freien Markt und somit bis in die Politik hinein.

Ricardo hatte sich für die Mafia und gegen das traditionelle Marseiller Milieu entschieden, das durch interne Querelen geschwächt war. Aber die Mafia war nicht nur eine famiglia. Auch sie wurde von internen Rivalitäten zerrüttet. Jean-Louis Fargette, mit dem er sich zusammengetan hatte, war in San Remo niedergeschossen worden. Ricardo begann zu leben, als könnte jeder Tag der letzte sein. Er kehrte zu Amina zurück und spielte wieder seine Rolle als alter Liebhaber. Er brachte sie auf den Hügeln von Roucas-Blanc unter. In einer hübschen, kleinen Villa mit Meerblick. Ein Paradies. Alles, was er von ihr verlangte, war, dass sie sich bereit hielt, wenn er sie begehrte. Mit den Jahren waren sie zu einer seltsamen Gemeinschaft verwachsen. Zwanzig Jahre. Ein Leben.

Vor zwei Jahren hatte Ricardo sie auf Lalla angesprochen. Er hatte sie in Beaumont besucht.

»Wenn du sie anfasst, bring ich dich um.«

»Ich könnte, wenn ich wollte, und wenn du mich anschließend umbringst, ist mir das scheißegal, Gaby. Früher oder später erwischt mich sowieso eine Kugel … Aber darum geht es nicht. Ich bin über das Alter der kleinen Mädchen hinaus. Ich will, dass du sie mit dir ins Habana nimmst. Der Laden läuft nicht gut genug … Die Mädchen sind alle dumme Hühner. Sie sind mehr an einer schnellen Nummer für hundert Francs Trinkgeld interessiert als daran, wirklich für mich zu arbeiten.«

»Ich möchte, dass sie was lernt. Ricardo, das hattest du versprochen.«

»In der Schule ist sie eine Null. Das weißt du ganz genau. Sie hat kein Interesse. Nicht wie du. Sie hat nur eins im Kopf: ausgehen, sich amüsieren. Eines Tages wird sie einen dieser faulen Nichtsnutze anschleppen, die auf dem Cours Julien herumstolzieren …«

»Sie ist meine Tochter, Ricardo.«

»Davon weiß sie nichts.«

»Ich hatte vor, es ihr zu sagen. Auch, wer ihr Vater ist. Ich hab über all das nachgedacht.«

»Gaby, hör auf … Was gaukelst du mir da vor? Liebe sie, kümmere dich um sie, darauf kommt es an. Der Rest … Du nimmst sie in die Lehre, Gaby, und ihr beide bringt den Laden wieder in Schwung … Das ist für sie genauso von Vorteil wie für dich, oder nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Du willst eine Zukunft für sie. Versorg sie mit möglichst viel Geld. Das ist heute das beste Diplom.«

»Ich muss mit ihr darüber reden. Herausfinden, wie sie darüber denkt.«

Ricardo musterte sie. Nach so vielen Jahren ging ihm wieder die Schönheit dieser Frau auf, ihre Intelligenz, ihr Scharfsinn. Er liebte sie. Aber so etwas sagt man nicht, man denkt es nicht einmal. Wenn er nicht gewesen wäre, was er war, ein Gangster, hätten sie vielleicht zusammen glücklich sein können.

»Sie ist einverstanden«, sagte er ganz beiläufig. »Sie wartet darauf, dass du sie abholst.«

»Mistkerl!«, schrie sie. »Mistkerl!«

Und sie brach in Tränen aus, sie, die seit Diamantis’ Fortgang nicht mehr geweint hatte.

 

Sie bemerkte Lalla und Nedim, die aus dem Wasser stiegen. Erschöpft ließen sie sich in den Sand fallen. Glücklich. Ja, man konnte sie sich als glückliches Paar vorstellen. Amina fühlte, wie ihr Herz vor Kummer überlief, und konnte die Tränen nicht unterdrücken.

Mit dem unvermuteten Auftauchen von Diamantis war das Kartenhaus ihres Lebens zusammengefallen. Sie musste sich jemandem anvertrauen, herauslassen, was sich in ihrem Innern angestaut hatte. Wem konnte sie sich anvertrauen, wenn nicht ihm? Sie glaubte nicht an den Zufall, aber das war ein Zeichen des Schicksals. Die Zeit war gekommen. Die Stunde der Wahrheit. Was nützt denn die Wahrheit, wenn sie denen, die gelitten haben, nicht ein wenig Glück schenken kann?