25 Brütende Hitze erstickt jeden Laut, alles keimt, stirbt, modert und fault …
Die Hitze hatte sie dazu gebracht, sich zu bewegen. In der Messe bekam man keine Luft mehr. Der Zigarettenqualm klebte auf ihrer feuchten Haut. Ihre Augen begannen zu brennen. Lalla hatte vorgeschlagen, das Schiff zu besichtigen.
»Genau! Deshalb ist sie doch gekommen«, hatte Nedim ermuntert.
Abdul hatte sie mit Geschichten erschlagen. Er konnte erzählen, das ließ sich nicht leugnen. Man spürte ihn vibrieren wie seine Schiffe in den Wogen des Ozeans. Aber er war noch nicht richtig fertig mit seinen Jahren auf dem Meer. Er schlug vor, auf Deck weiterzumachen.
Sie stiegen mehr schlecht als recht hinab. Besonders Abdul. All seine Bewegungen waren durch den Alkohol verlangsamt. Er schwankte leicht. Dennoch hielt er sich aufrecht mit straffen Schultern und erhobenem Haupt, wie sein Vater es ihm beigebracht hatte.
Die Luft stand, und obwohl die Temperatur an die dreißig Grad war, tat ihnen die frische Luft gut. Nur Diamantis war zurückgeblieben. Er wollte schnell einen Becher Nescafé trinken. Der Alkohol machte ihn nervös. Er spürte die Angst in sich. Es war zwanzig nach Mitternacht, und Amina war immer noch nicht gekommen. Er ahnte, dass sie nicht kommen würde. Dass sie überhaupt nicht mehr kommen würde. Dass sie verhindert war. Aufgehalten. Als er seinen Becher Nescafé ausgetrunken hatte, war er wieder nüchtern.
Und traurig.
Er hielt die Warterei nicht mehr aus. Die ganze Zeit hatte er es vermieden, an Amina zu denken. Die Mahlzeit hatte geholfen. Aber jetzt hatte er das Gefühl, er müsse sie finden. Vor ihr stehen. Er ging zu den anderen aufs Deck hinunter.
Wenn Abdul einmal mit seinen Reiseberichten begonnen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. Er konnte selbst Wahr und Falsch nicht mehr unterscheiden. Aber das machte nichts mehr aus. Seine Geschichten waren zu Mustern für die Wirklichkeit geworden. Von einer Anekdote zur nächsten suchte er seine persönliche Wahrheit.
Sie hatten sich direkt aufs Deck gesetzt. Lalla auf das Tauwerk, über das Nedim sein Hemd gebreitet hatte, damit sie sich nicht schmutzig machte. Er hatte sich an sie gelehnt, sein Kopf ruhte auf ihrem Bein. Mit einer flüchtigen, fast schüchternen Bewegung hatte Lalla Nedims nackte Schulter gestreichelt. Sie hatte sein Zucken gespürt. Abdul saß ihnen gegenüber, auf einer alten Kiste. Er thronte etwas höher. Neben ihm stand eine Flasche Rotwein.
»Kein Hauch bewegte die Luft, ein wenig wie heute Abend, und es war ebenso heiß. Um uns herrschte tiefstes Schweigen. Wer glaubt, dass die Sümpfe und Urwälder Afrikas voll von lärmendem Leben sind, täuscht sich. Die brütende Hitze erstickt jeden Laut, alles keimt, stirbt, modert und fault …«
Abdul hatte den Ozean für die stickige, feuchte, stinkende und gelbliche Gegend um den Niger-Fluss verlassen. Er hatte die Ciudad de Manizales hineinmanövriert, die seit sechs Monaten unter seinem Befehl an der Küste Westafrikas entlangfuhr. Er schenkte sich nach, dann Lalla und Nedim. Sie stießen an. Abduls Blick blieb an Lallas hängen. Sie schien von seinen Berichten gefesselt, wie Céphée es sein konnte, abends auf ihrer Terrasse in Dakar.
Abdul vergaß Nedim völlig und konzentrierte sich auf Lalla. Er erzählte für sie. Um sie zu verführen. Dann würde sie zu ihm kommen, wie Céphée, und die Bitterkeit der Monate auf See lindern. Er stellte sich vor, wie Lallas Körper sich an seinen schmiegte, sich mit ihm vereinte. Er dachte an ihre Pobacken an seinem Bauch, er würde sie spreizen, um besser in sie eindringen zu können. Sie würde das lieben. Wie Céphée. Genüsslich ließ er es zu, dass sein Penis sich regte.
»Der Anker sank langsam in das träge, schlammige Wasser, und der Bug zeigte in Richtung der Strömung …«
»Gib mir Aminas Telefonnummer«, flüsterte Diamantis zu Lalla. »Ich rufe sie an.« Er war unmerklich neben sie gerutscht.
»Was ist?«, fragte Nedim.
»Nichts, nichts. Außer dass Amina immer noch nicht hier ist. Das macht mir ein wenig Sorgen.«
Lalla sah Diamantis an und merkte plötzlich, dass es schon sehr spät sein musste. Während sie Abduls Geschichten lauschte, hatte sie Amina ganz vergessen. Sie fühlte sich wohl hier, mit diesen Männern. Mit Nedim, der auf sie aufpasste, seinen heißen Kopf auf ihren Beinen. Sie kehrte zurück in die Realität und war beunruhigt.
»Mein Gott!« Sie schaute auf die Uhr. »Was ist nur passiert?«
»Mach dir keine Sorgen. Vielleicht hat sie es nicht gefunden, oder der Wachposten hatte keine Lust, uns Bescheid zu sagen.« Diamantis wollte nicht, dass sie sich aufregte. Gab es überhaupt einen Grund zur Besorgnis? Amina verbrachte den Abend gewiss mit Ricardo. Vielleicht verlangte er, dass sie bei ihm blieb? Oder sie war müde und hatte beschlossen, ihr Treffen auf später zu verschieben. Was auch immer. Aber Amina hatte ihn unbedingt treffen wollen. Das hatte Lalla ihm erzählt.
»Ich gehe zum Tor und rufe sie an. Einverstanden?«
Sie nickte. »Ich komm mit.«
»Nein, bleib.«
»Nimm ihr Auto«, mischte Nedim sich ein. »Du wirst doch um diese Zeit nicht mit dem Fahrrad fahren, verdammt.«
»Er hat Recht«, sagte sie. »Schlüssel und Papiere sind in meiner Tasche.«
Abdul beobachtete sie missmutig über sein Glas hinweg.
»Entschuldige mich, Abdul«, sagte Diamantis und ging.
Diamantis hielt hinter dem Kontrollposten. Er weckte den Wachmann.
»Hau ab!«, murrte der.
»Ich muss telefonieren.«
Er nahm beim fünften Klingeln ab.
»Ja.« Ricardos Stimme klang müde, schleppend.
»Hier ist Diamantis.«
»Ich dachte mir, dass Sie anrufen würden.«
»Geben Sie mir Amina.«
»Hören Sie«, sagte Ricardo nach kurzem Schweigen. »Ich glaube, es wäre das Beste, Sie würden herkommen. Wir müssen miteinander reden, Sie und ich.«
»Ich will mit ihr reden.«
»Kommen Sie, das ist besser.« Wieder klang die Stimme erschöpft.
Ricardo gab ihm die Adresse und legte auf, ohne ihn noch einmal zu Wort kommen zu lassen.
Langsam fuhr Diamantis am verlassenen Hafen entlang, nahm den Tunnel, der unter dem Alten Hafen durchgeht, kam an der stillgelegten Werft neben dem alten Kloster Saint-Victor wieder raus und fuhr Richtung Corniche.
Im Handschuhfach fand er einen Stadtplan von Marseille. Oberhalb des Strands, hatte Ricardo ihn angewiesen. Die Traverse Nicolas. Er machte sie auf der Karte ausfindig. Mitten in einem Wirrwarr von kleinen Gassen. Mit dem Auto würde er sich darin verfahren. Er parkte am Chemin de l’Oriol und stieg die Montée de Roubion hinauf. Eine Treppenflucht, und er stand vor der Traverse Nicolas. Hier und da bellten Hunde und durchbrachen die Stille des Viertels.
Aminas Haus war eine kleine Villa im Schutz eines Gartens. Die Einzige in der ganzen Straße, deren Fenster erleuchtet waren. Er stieß das Tor auf und durchquerte den Garten. Die Luft duftete nach Pinien. Die Eingangstür stand offen. Er trat ein, ohne sich Gedanken darüber zu machen.
Diamantis entdeckte Ricardo auf einem Stuhl im Wohnzimmer. Er trug ein kurzärmeliges, weißes Hemd. Der Kragen war geöffnet über einer gelockerten blauen Krawatte mit weißen Punkten. Er trank Whisky. Er bewegte den Kopf in Diamantis’ Richtung, blieb jedoch sitzen. Er wirkte älter, als Diamantis ihn sich vorgestellt hatte. Offenbar war er völlig fertig.
»Kommen Sie rein.«
»Wo ist sie? Wo ist Amina?«
»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er. »Setzen Sie sich.«
»Ich stehe lieber.«
Plötzlich wurde Diamantis klar, dass Ricardos Männer sich auf ihn stürzen konnten, ihn mit Schlägen traktieren, ihm einen Revolverlauf in den Mund stecken, ihn töten konnten. Er erstarrte am ganzen Körper. Alle seine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Er sah sich um.
»Sie brauchen nichts zu befürchten«, sagte Ricardo. »Setzen Sie sich.«
»Ihnen traue ich alles zu.«
»Ja … All das …«, sagte er wegwerfend und deutete mit ausladender Geste in den Raum vor ihm.
»Das Schlimmste«, fuhr Ricardo fort, »kommt immer anders, als man denkt.«
Diamantis trat der Schweiß auf die Schläfen. Dieser Mann jagte ihm eiskalte Schauer über den Rücken. »Wo ist sie?«, fragte er erneut.
»Da oben.«
Diamantis kehrte Ricardo den Rücken und wandte sich nach oben.
»Kommen Sie zurück!«, befahl Ricardo.
Diamantis drehte sich um. Ricardo war aufgestanden und hielt eine Pistole mit ungewöhnlich langem Lauf auf ihn gerichtet. Ein Schalldämpfer, erkannte Diamantis.
»Schenken Sie sich etwas ein und setzen Sie sich.«
»Ich habe keinen Durst.«
»Wie Sie wollen.« Er zeigte mit dem Pistolenlauf auf einen Sessel. Eines von diesen weichen Dingern, die Diamantis hasste. Widerwillig ließ er sich darin nieder.
Ricardo setzte sich ihm gegenüber auf den Stuhl. »Ich werde Ihnen berichten«, begann er.
Und er berichtete bis ins kleinste Detail. Aminas Leben. Seins. Und Lallas.
»Sie ist Ihre Tochter. Wussten Sie das?«
Diamantis zuckte nicht mit der Wimper. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Seit Nedims Bemerkung auf der Terrasse der Bar hatte er immer wieder mit dieser Vermutung gespielt, um sie jedes Mal wieder zu verwerfen. Er hatte wieder und wieder nachgerechnet, Lalla nach ihrem Alter gefragt. Er hatte zugegeben, dass es sein konnte. Aber er wollte es einfach nicht wahrhaben.
»Nein«, stammelte er, »nein. Kann ich mir doch etwas einschenken?«
»Wie Sie wollen«, wiederholte Ricardo.
Diamantis goss sich großzügig ein. Er mochte den Whiskygeruch nicht. Aber er brauchte eine Stärkung. Er hatte zurückkehren wollen, seine Vergangenheit in Ordnung bringen. Jetzt war er angelangt. Aber es war zunächst nicht die Vergangenheit, die ihm übel aufstieß, sondern die Gegenwart. Lalla, seine Tochter. Dieses Mädchen, das er unter anderen Umständen – warum nicht – hätte verführen und vernaschen können. Wie Nedim es zweifellos vorhatte.
Er sah sie beide wieder vor sich, auf dem Deck der Aldebaran aneinander gelehnt. Gleichzeitig sah er Abduls Blicke auf Lalla und bekam eine Gänsehaut. Er musste dorthin zurück, und zwar schnell.
Er setzte sich nicht wieder.
»Sie weiß natürlich nichts davon«, mutmaßte Diamantis.
»Amina wollte es Ihnen heute Abend sagen. Und es Lalla ebenfalls gestehen. Sie wollte mit allem Schluss machen, mit dem Habana, mit diesem Leben. Fortgehen wollte sie, mit Lalla natürlich. Auch mich verlassen …«
Diamantis hörte Ricardo nicht mehr zu. Er hörte überhaupt nichts mehr. Er war erstarrt, als Ricardo von Amina in der Vergangenheit gesprochen hatte, und unter der Schweißschicht auf seinem Körper wurde ihm kalt. Er wollte nach oben laufen. Amina sehen. Sein Magen hatte sich zusammengezogen. Und das hatte nichts mit dem Whisky zu tun.
»Sie können das nicht verstehen. Ich habe sie gebraucht. Meine Uhr ist abgelaufen. Ich habe sie jetzt gebraucht. Jetzt. Aber sie wollte nichts davon hören. Sie sind siegessicher und mit Ihren Schuldgefühlen im Mas aufgetaucht … Woher wussten Sie, dass sie im Habana arbeitete?«
Diamantis antwortete nicht. Das hatte alles keinen Sinn mehr.
»Ich habe sie geliebt, Diamantis.«
Sie schauten sich an. Vor Ricardos Blick verschwamm alles. Die Tränen kamen. Er warf seine Waffe auf den Sessel.
»Ich habe sie getötet. Sie ist dort oben.«
Amina lag auf dem Boden. Das Blut um sie herum war bereits schwarz geworden. Sie starrte Diamantis aus leeren Augen an. Er machte einen Schritt und kniete neben ihr nieder. Er streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Amina lächelte ihn an. Das war vor zwanzig Jahren. Sie war nackt, und Diamantis, über ihr, ließ seine Hand über ihren Körper schweben. Er zeichnete ihre Konturen nach, ohne sie zu berühren. Amina murmelte ihm entgegen: »Berühre mich, bitte. Leg deine Hand dorthin …« Er brachte seine Hand näher, streifte ihre Brüste eine nach der anderen, ihren Bauch, ihre Schamhaare. Der Duft ihres feuchten, glänzenden Geschlechts stieg ihm in die Nase. In dem Moment, als er seine Hände auf die gespreizten Beine legte, näherte er sich ihr mit den Lippen.
»Verzeih mir, Amina.«
Er erhob sich und ging wieder hinunter zu Ricardo, der sich einen Whisky nachgeschenkt hatte. Er war zerstört. Er sah Diamantis auf sich zukommen, ohne ihn wirklich zu erkennen. Sein Blick schien sich für immer nach innen gekehrt zu haben. Diamantis griff nach dem Glas, das er auf den Couchtisch gestellt hatte. Er trank es auf einen Zug aus, schenkte sich reichlich nach und kippte die Hälfte des Glases hinunter.
Die Pistole lag noch immer dort, auf dem Sessel. Diamantis nahm sie. Es war ein seltsames Gefühl, eine Waffe in der Hand zu halten. Er verstand nicht, wie Männer das lieben konnten. Damit zu leben. Sie gegen andere Männer einzusetzen. Nein, das hatte er nie verstehen können.
Langsam richtete er die Pistole auf Ricardo. Als könnte sie in seiner Hand explodieren.
Ricardo sah zu ihm auf, lächelte, leerte sein Glas, stellte es ab und steckte sich eine Zigarette an. Er sog den Rauch kräftig ein und blies ihn durch Nase und Mund wieder aus.
»Ich konnte es nicht«, murmelte er.
»Was?«, blaffte Diamantis.
»Mir eine Kugel in den Kopf jagen. Hinterher …«
»Aber bei ihr, ja! Das konntest du. Du bist ein Feigling.«
Ricardo zog erneut an seiner Kippe, bedächtiger diesmal. »Die Sicherung«, sagte er, »ich habe ihn entsichert.« Er flehte Diamantis mit den Augen an.
Diamantis drückte auf den Abzug.
Es machte nicht mehr Lärm als ein Tischtennisball auf einem Schläger.
Ricardos Körper bäumte sich kaum auf.
Diamantis drückte weiter auf den Abzug. Bis zur letzten Kugel.
Ricardo sackte rückwärts in sich zusammen.
Diamantis machte die Augen auf. Er zog ein Papiertaschentuch hervor, wischte mechanisch die Pistole ab, wie er es im Fernsehen gesehen hatte, und warf sie auf den Sessel. Er hob Ricardos Kippe auf, die auf den Fliesen verqualmte, und drückte sie im Aschenbecher aus. Dann nahm er das Glas und leerte den Whisky. Er hatte die Vision, an einem Abgrund zu stehen und zuzusehen, wie sich unten, ganz unten, sein Leben auflöste. Aber das war es nicht. Er fühlte sich nur sehr leer und abgestumpft. Er wischte das Glas ab, das er in der Hand hielt, und stellte es zurück.
Dann ging er in den Marseiller Sommer hinaus. Mit leerem Kopf und kaltem Herzen. Er hatte nur noch eine letzte Sache zu erledigen. Was Amina beschlossen hatte. Mit Lalla sprechen.
Mit seiner Tochter.