6 Wie ein Glas Rum, in einem Zug hinuntergestürzt
Kaum hatten sie das Habana betreten, wusste Nedim, dass er verarscht worden war. Das Lokal war winzig. Eine Theke auf der Linken. Zwei Mädchen auf hohen Barhockern tuschelten mit dem Barmann, einem dicken Schnauzbärtigen mit rasiertem Schädel. Vor ihnen eine kleine Tanzfläche, auf der drei Paare die Hüften schwangen. Darum herum etwa ein Dutzend abgeteilte Nischen. Er machte ein ineinander verschlungenes Paar aus. »Intimer«, hatte Lalla gesagt, und intimer gings wohl nicht mehr. Aber, das musste er zugeben, die Musik war alles andere als mickrig. Er meinte die warme Stimme von Ruben Blades zu erkennen. Was Rhythmus anging, hatte Marseille ein musikalisches Gehör.
Nedim ließ sich von Lalla und Gaby in eine der Nischen führen. Er fragte sich, wie er da wieder rauskommen sollte. Das heißt, er wusste es. Er musste konsumieren. Er hatte solche Bars, Nachtclubs, schon öfter besucht. Nie allein, immer zu zweit oder dritt. Am Ende einer durchzechten Nacht an Land. Das letzte Glas, bevor es wieder auf See ging. Die Mädchen waren ihnen nie auf den Wecker gegangen.
»Gibst du uns einen aus?«, fragte Lalla.
»Gin Tonic für mich.«
Den hatte er jetzt nötig. Um sich wieder zu fangen. »Einen trinkst du mit, und dann verziehst du dich«, sagte er sich. Lalla verschwand Richtung Theke. Er konnte nicht anders, als ihr nachzusehen. Dieses Mädchen bewegte sich unglaublich graziös. Ihre Umarmung vorhin im Blauen Papagei fiel ihm wieder ein. Sein Körper wollte mehr davon.
»Sie ist süß, nicht?«
Gaby saß ihm gegenüber, ein Lächeln auf den Lippen.
»Ihr seid Nutten, stimmts?«
»Nutten?«, entgegnete Gaby. »Sag mal, wer hat uns denn angequatscht, Nedim? Glaubst du wirklich, du brauchst nur mit ein paar Scheinen wedeln, und schon machen wir die Beine breit?« Sie war mit dem Gesicht hautnah an ihn herangekommen. Er nahm ihren strengen Moschusgeruch wahr. Der Geruch ging ihm durch und durch. Bis ins Blut. Wie ein Glas Rum, in einem Zug hinuntergestürzt. Ihm wurde ganz warm unter der Haut. Sie ist bestimmt gut im Bett, dachte er. Aber er sah sie nicht an, aus Angst, sie könnte ihm seine Gedanken von den Augen ablesen. Und er stellte sich vor, wie sie sich ihm anbot.
»Nun, was seid ihr dann?«
Er zündete sich eine Zigarette an, und während er den Rauch ausblies, sah er zu ihr auf. Sein Blick streifte Gabys Narbe. Dicht am Auge hatte sie die Form eines Sterns. Er hätte wirklich gern gewusst, wie sie sich die eingefangen hatte. Warum? Er konnte seine Augen nicht davon abwenden. Weit davon entfernt, ihr Aussehen zu entstellen, unterstrich die Narbe die Schönheit ihres Gesichts. Und das faszinierte ihn.
Sie ließ es sich gefallen, dass er sie so musterte. So dreist. Dann fasste sie sich ins Haar, das sie sehr kurz trug, und lächelte.
»Freundinnen, Nedim, wir sind gute Freundinnen«, murmelte sie und berührte ihn dabei fast mit den Lippen. »Weiter nichts. Glaub ja nichts anderes, klar? Wir amüsieren uns, das ist alles. Gehen einen Abend aus. Und du bezahlst, Süßer.« Sie streifte seine Wange mit dem Rücken ihrer Finger. Sie waren kalt. Erneut lächelte sie ihn an, ebenso kalt. Er hatte überhaupt keine Lust mehr, mit ihr im Bett zu landen. Oder sonst wo.
Lalla glitt an seine Seite und legte einen Arm um seine Schultern. Sie presste ihr Bein gegen seins, und Nedim spürte, wie seine Körpertemperatur um einige Grad anstieg. »Ist doch cool hier, oder? Gefällt es dir?«
Er wollte antworten, etwas Boshaftes. Aber das Auftauchen des Barmanns verschlug ihm die Sprache. Auf dem Tablett stand ein Gin Tonic, aber auch eine Flasche Champagner und zwei Gläser.
»Habt ihr das bestellt?«
»Wir hatten ein wenig Durst«, gab Lalla zurück und lehnte ihren Kopf an seinen.
Sie nippte kaum an dem Glas.
»Willst du tanzen?«
Nedims gute Vorsätze lösten sich in Luft auf, sowie er sie in den Armen hielt. Ihr Körper klebte an seinem, und sie streichelte seinen Nacken mit den Fingerspitzen. Er fühlte sich glücklich mit diesem Mädchen. Ein Gefühl, das er noch nie erlebt hatte. Dennoch sagte er sich immer wieder, dass sie nur ihren Job machte und ebenso gut ein anderer an seiner Stelle hätte sein können.
»Du kriegst ja gar keinen mehr hoch«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Das liegt am Champagner. Der muss ganz schön teuer sein.«
»Wir dürfen nichts anderes bestellen, wenn wir Freunde mitbringen.«
»Schlachtopfer, meinst du.«
»Nun, zu dem Preis tätest du besser dran, das Beste draus zu machen.«
»Und was kriege ich dafür?«
Sie lachte mit leicht zurückgeworfenem Kopf. Er begehrte ihre Lippen. »Ach, nichts! Du darfst nur mit mir tanzen. Und deinen Schwanz an mir reiben. Das stört mich nicht.«
»Bedeutet es dir gar nichts?«
»Manche Mädchen lassen sich die ganze Nacht flachlegen, nur wenige Meter von hier. Ich habe einen cooleren Weg gefunden, verstehst du. Nur mit den Typen trinken und sie kommen lassen.«
»Du kennst doch bestimmt ein kleines Hotel in der Nähe. Wo wir noch ein bisschen Champagner trinken können.«
»Ich gehe nie ins Hotel. Das ist eine Regel.«
»Und wenn ich Geld hätte. Viel.«
»Typen mit Geld hängen hier nicht rum.«
»Dann entführe ich dich, und wir leben zusammen.«
»Du willst doch nur mit mir schlafen, Nedim.«
»Nein, ich …«
»Und lügen tut er auch, der Typ! Ein echter Seemann!«
»Lalla, nein …«
»Vergiss es, Nedim. Liebe auf den ersten Blick und so. Du hast Lust, mich zu vögeln, und ich verstehe das. Okay.«
Das Stück ging zu Ende. Sie machte sich von ihm los. »Du solltest Gaby auffordern.«
»Ich will mit dir zusammen sein. Darf ich?«
»Wie du willst. Es war nur ein Vorschlag.«
Sie blieben noch drei latino slows ineinander verschlungen. Fünfzehn glühende Minuten. Nedim hatte beschlossen, keine Fragen mehr zu stellen. Er ließ sich an Lallas Seite gehen, sein Glied hart an ihren Bauch gedrückt. Der langsame Rhythmus war fast so wohltuend, als würde sie ihm einen runter holen.
Als sie an ihren Tisch zurückkehrten, stand eine kleine, rundliche, bieder wirkende Frau in den Sechzigern mit einem vollen Glas in der Hand vor ihrer Nische. Sie nannte sich Gisèle. Die Chefin des Habana. Gaby sah Nedim belustigt an.
»Gefällt es Ihnen bei uns?«, erkundigte sich Gisèle.
»Ich kann nicht klagen.«
Lallas Glas, das sie kaum angerührt hatte, war leer. Sie griff nach der Flasche. Sie war ebenfalls leer.
»Wenn ich einsam bin, trinke ich«, sagte Gaby und starrte Nedim an. »Eine neue wäre nicht schlecht, oder?«
Sie reichte Gisèle die Flasche, ohne eine Antwort abzuwarten. »Oh, ja! ich habe fürchterlichen Durst«, warf Lalla ein.
Nedim ließ sich auf einen der Sessel fallen.
»Noch einen Gin Tonic?«, fragte Gisèle.
»Champagner reicht völlig.«
Er war verloren. Hoffnungslos. Und vor allem fühlte er sich vollkommen willenlos. Sein Blick kreuzte erneut Gabys. Sie hatte immer noch dieses eingefrorene Lächeln auf den Lippen. Er hätte ihr am liebsten eine gelangt. Nur um zu sehen, ob sie dann immer noch lächeln würde, die dumme Kuh.
»Tanzt du mit mir?«, fragte sie.
Nedim hörte nichts mehr. In seinem Kopf ging alles durcheinander. Alkohol und Begierde. Die Lust, mit Lalla zu schlafen und Gaby eine zu scheuern. Mit dem Abflauen der Erregung überkam ihn die Traurigkeit. Da war er wieder, wie nach jeder Liebesgeschichte. Allein. Und traurig. Und kein Schiff wartete auf ihn, damit er vergessen konnte, was für ein armes Schwein er war. Verloren im Leben. Er sah auf die Uhr.
»Verdammt!«, schrie er auf.
Zehn nach vier. Ihm blieben fünfzig Minuten, um zum Hafen zu kommen. Er erhob sich. Gaby stand schon vor ihm. Sie nahm ihn in die Arme.
Perla marina que en hondos mares
Vive escondida entre corales …
Eines der schönsten Lieder von Francisco Repilado.
»Lass mich. Ich muss los.«
»Eine Minute hast du wohl noch, oder? Immerhin trinke ich Champagner auf deine Kosten, dann sollst du auch was davon haben.«
»Mach keine Zicken!« Er stieß sie grob beiseite.
»Oh! Schon gut!«, schrie sie.
»Was gibts?« Ein großer Typ war aufgetaucht. Ein Schwarzer. Er war locker zwei Kopf größer als Nedim. Und gut zehn Kilo schwerer, völlig mit Muskeln bepackt.
»Nichts«, sagte Nedim. »Ich glaub, ich geh jetzt besser.«
»Kein Problem, Alter. Kein Problem.«
Nedim war wieder nüchtern. Bloß schnell weg hier. Die Verabredung mit Pedrag nicht verpassen. Plötzlich hatte er Angst. Ihm wurde klar, dass er der letzte Gast in der Bar war. Nein, nicht ganz. Da war noch einer, mit den Ellenbogen auf die Theke gestützt. Lalla saß auf einem Barhocker mit dem Rücken zu Nedim und diskutierte mit ihm. Der Kellner brachte ihr ein Glas Wasser. »Ein Glas Wasser! Verdammte Schlampe!«
Er ging in die Nische zurück, um seine Zigaretten zu holen. Die zwei Flaschen Champagner und die vollen Gläser auf dem Tisch standen dort wie zum Hohn. Er drehte sich um. Gaby stand hinter ihm. Sie hielt ihm die Rechnung hin.
»Bar oder Kreditkarte?«
Celaje tierno de allá de Oriente
Tierna violeta del mes de abril.
Tausendachthundert Francs! Zwei Flaschen, tausendachthundert Francs. Er sah Gaby an.
»Der Gin Tonic geht aufs Haus«, sagte sie.
»So viel hab ich nicht.«
Er war sprachlos. In seinem Kopf drehte sich alles. Er war wie betäubt. Hatte nicht mal mehr die Kraft zu überlegen, wie er hier ohne zu großen Schaden rauskommen sollte. Und Pedrag, was sollte er mit Pedrag machen?
»Wir geben keinen Kredit.«
»So viel hab ich nicht«, wiederholte er.
Gaby ließ ihn nicht aus den Augen. Er geriet in Panik. Er hätte mit ihr tanzen sollen, dachte er. Sie besänftigen. Er hätte kapieren müssen, dass sie es war, die von den beiden die Entscheidungen traf. Lalla hatte versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, oder? Er wäre mit nur einer Flasche davon gekommen. Ohne Scham. Und ohne Schaden.
»Dug! Kannst du einen Moment kommen?«
Der Schwarze tauchte so schnell wieder auf, wie er gerade verschwunden war.
»Ja?«
»Dieser Dummkopf hat nicht genug.«
»Ich habe … Vielleicht tausend Francs …«
Nedim ließ sich auf den Stuhl fallen, zog seine Scheine hervor und begann zu zählen. Neunhundertfünfzig. Dug beugte sich über ihn, die großen Hände flach auf dem Tisch. Nedim wagte nicht hochzusehen. Halt dich zurück, sagte er sich. Spiel den Dummen, halt die Klappe. Er hörte die Mädchen hinter ihm an der Theke lachen. Lalla und Gaby. Auch der andere Gast lachte.
»Was jetzt?«, fragte Dug.
»Damit sind wir quitt«, wagte Nedim. »Mehr hab ich nicht.«
»Hast du deine Papiere?«
Nedim gab ihm seinen Pass.
»Türke. Er ist Türke, dieser Schwachkopf«, rief er in Richtung Theke.
»Alles Arschlöcher«, antwortete der Typ an der Theke. Und lachte sich halb tot.
Dug steckte den Pass in seine Hemdtasche. »Du bist Seemann?«
»Auf der Aldebaran«, bestätigte Nedim.
»Wann legt dein Schiff ab?«
»Wir sind gerade angekommen.«
»Wieso schleppst du dann den Seesack durch die Gegend?«
Darauf wusste er keine Antwort. Er stand auf. Es war höchste Zeit zu verschwinden. Noch hatte er eine Chance, Pedrag zu erwischen. Mit ihm würde er sich schon einigen. Wenn er erst mal im Laster säße. Jetzt zählte nur noch das Verlangen, nach Hause zu kommen. Nicht nach Istanbul, nein, nach Hause. In die Berge. Auf die endlosen Straßen Anatoliens. Das Gesicht seiner Mutter drängte sich zwischen ihn und Dug. Dieses Mal gehe ich, sagte er sich, zum Grab von Papa. Das versprach er jedes Mal, aber er ging nie. Er fand nie die Zeit, dorthin zu gehen, auf die Hochebene hinter den Schluchten von Bilecik.
Der Blick seines Vaters senkte sich auf ihn herab. Blaue Augen, wie seine eigenen. Salih, der Schmied. Meister Salih. Er kannte die fünf Säulen des Islam auswendig. Die Leute kamen, um ihn in seiner Schmiede anzuhören. Er bearbeitete das Eisen und rezitierte. Und wenn sie wieder gingen, lobte ein jeder Gott. »Maliki yevmiddin iyyake nabüdü ve iyyake nestain, ihtinassirat elmüstakim …« Diese bizarren, unverständlichen Worte, die er vergessen hatte, fielen ihm wieder ein. »Du bist es, den wir preisen, du, den wir um Hilfe bitten, führe uns auf den rechten Weg …«
Den rechten Weg.
Nedim schauderte. Das abschließende Amen war ihm entfallen. Man musste ein Gebet immer mit einem Amen beschließen. Sein Vater ließ ihn nicht aus den Augen. Er sah sich wieder vor ihm, als Kind. Stammelnd. Aus Angst, dass er ihn leugne, aus seiner Nachkommenschaft streiche, weil er den Wortlaut des Gebets vergessen hatte. Und ihn in die Hölle der Ungläubigen verstieß. »So muss die Hölle sein«, hatte der Schlachter Ali eines Abends gesagt und auf die Schmiede gezeigt. »Das Höllenfeuer ist nicht mit dem Feuer auf dieser niederen Welt zu vergleichen«, hatte sein Vater geantwortet. »Es brennt tausendmal mehr als unseres.«
Tausendmal mehr. Der rechte Weg. »Bismillah irrahman irrahim …« Lobpreisung Gottes … Die Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Er musste das Grab seines Vaters besuchen.
»Ich muss gehen«, sagte er und stand auf.
Dug sah ihm in die Augen. Ohne erkennbare Feindseligkeit. Sein Gesicht war ausdruckslos. Als würde er nicht denken. Er schwieg.
Nedim blickte verstohlen zur Theke. Lalla und Gaby thronten noch immer auf ihren Barhockern und schwatzten unbefangen mit Gisèle, dem Barmann und dem letzten Gast. Nedim existierte für sie nicht mehr. Er gehörte ganz Dug.
Dug packte ihn mit seiner kräftigen Hand an der Kehle. Er fasste zu. Nedim spürte, wie er hochgehoben wurde. Er stand auf den Zehenspitzen. Seine Augen auf Dugs Höhe. Er bekam keine Luft mehr. Eine Hitzewelle durchlief ihn. Und das plötzliche Verlangen zu kotzen.
»Und was machen wir nun?«, fragte Dug, ohne die Stimme zu heben.
Dugs Finger an seinem Hals waren ebenso hart wie sein Blick. Nedim fühlte den Druck von Daumen und Zeigefinger unter seinem Kiefer. Dugs ganze Kraft und Brutalität schienen sich dort zu konzentrieren, einzig in dem Druck seiner Finger. Eine neue Hitzewelle trieb ihm den Schweiß auf den Rücken.
»Was machen wir denn nun, he?«
»Las mich los«, versuchte er auszustoßen.
»Lass ihn los!«
Das war ein Befehl. Dug sah Gisèle an und lockerte seinen Griff. Nedim fiel wieder auf die Füße. Er massierte sich den Hals, während er nach Luft rang.
»Was ist das noch mal für ein Kahn von dir?«, fragte Gisèle.
Nedim kreuzte Lallas Blick. Sie hatte sich leicht zu ihnen gedreht. Er schämte sich seiner selbst. Seiner erbärmlichen Figur.
»Ein Frachter. Die Aldebaran.«
»Dug wird deinen Pass einbehalten. Und deinen Seesack. Du kommst gleich wieder, oder morgen, wenn du willst. Aber mit dem Geld, das noch fehlt. Okay, du Schwachkopf? Na los, schmeiß ihn raus, diesen Scheißkerl.«
»Mein Seesack …«
Alma sublime para las almas
Que te comprendan, fiel como yo …
Die letzten Worte, die er hörte. Es gab schlimmere.