12 Wer weiß morgen noch, auf welcher Insel Kalypso Odysseus verführte?

Von dort, wo er stand, hatte Diamantis einen einmaligen Blick über die Reede. Vom Cap de l’Aigle ganz im Süden von La Ciotat bis zur Landspitze Grenier im Osten von Lecques.

Auf das Terrassengeländer der Villa gelehnt, ließ er sich von den Düften betören, die aus dem Garten aufstiegen. Eine Mischung aus Pinie und Lavendel. Seine Ohren füllten sich mit dem eindringlichen Gesang der Zikaden. Mit dem Aufleben der Sinne lief eine Welle der Entspannung durch seinen Körper. Ein Glücksgefühl. Ein Frieden, wie er ihn seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte.

Hier wäre gut sterben, unter den Olivenbäumen in den Tiefen des Gartens. Aber das hatte er schon vor zwanzig Jahren gedacht. Zu Hause in Agios Nikolaos, auf der Insel Psará. Und er wusste, dass er dort zur ewigen Ruhe gehen wollte. Neben seinem Vater. Das hatte er Melina an dem Abend gesagt. Nach der Beerdigung. Bevor sie miteinander geschlafen hatten.

Sie waren zwischen Feigenbäumen, dornigen Büschen und den Ruinen flügelloser Mühlen hinaufgeklettert. Bis auf den höchsten Punkt der Steilküste. Vor ihnen, zu ihren Füßen, erstreckten sich das Meer und der Hafen. Sie waren schweißgebadet. Schweigend verschnauften sie und ließen ihren Blick auf den im Sand auslaufenden Wellen ruhen.

»Verstehst du«, hatte Melina gesagt, »hier gebe ich nichts von mir selber auf. Ich bin ohne Maske.«

»Hier will ich sterben, Melina. Ich habe gelernt, in dieser Trockenheit zu leben. Und hier will ich auch bleiben.«

Melina hatte sich langsam zu ihm hin gedreht. Mit ernstem Gesicht. Sie hatte ihn geküsst. Flüchtig zunächst, doch ihm war ein süßer Schauer über den Rücken gelaufen. Dann leidenschaftlich. Ihre Lippen schmeckten nach Salz. Wie ihr Körper.

Bei Sonnenuntergang waren sie wieder hinabgestiegen. Zu dieser einzigen Tageszeit, während der im Hafen wirklich Leben aufkam. Zur Stunde des Aperitifs. Der Stunde für den Spaziergang mit der Braut am Arm. Er hatte sich bei Melina eingehakt, und sie waren wieder am Kai hinaufgegangen unter den Blicken der Fischer und Ziegenkäsehändler, die in den Cafés an den Tischen saßen. Sie hatten verkündet, dass sie heiraten würden, und seine noch tief trauernde Mutter hatte vor Glück geweint.

Diamantis hörte Stimmen. Er drehte sich um und sah, wie Mariette das junge, fein herausgeputzte Paar nach der Besichtigung der Villa ans Tor zurückbegleitete. Türen schlugen, und plötzlich stand sie vor ihm. Mariette.

»Geschäft besiegelt!«, rief sie fröhlich. »Eine gute Wahl. Es ist schön, nicht?«

»Großartig.« Er konnte seine Augen nicht von Mariette losreißen. Sie strahlte vor Freude. »Hast du nie Lust, die Häuser selbst zu kaufen, die du vermittelst? Solche wie dieses hier, meine ich.«

»Hm«, sagte sie und stützte sich neben Diamantis auf das Geländer. »Ja … Ja, natürlich. Aber … Zunächst mal kann ich mir das eigentlich nicht leisten. Außerdem ist so ein Haus nichts wert, wenn du keinen Mann hast, den du da reinsetzen kannst.« Sie lachte, wie über einen guten Scherz. Wie ein Teenager.

»Und du hast keinen Mann, ist es das?«, bemerkte er lächelnd.

»Ich hab eine neunjährige Tochter. Laure. Aber keinen Vater für sie. Und du?«

»Ich habe einen Jungen. Aber keine Mama mehr.«

Sie lachte erneut. Das Lachen dieser Frau war für das Glück gemacht.

»Dann geht es uns also gleich?«

»Gleich?« Er überlegte einen Moment.

»Nein. Mikis ist über das Alter hinaus, wo er eine Mama braucht. Und ich habe es aufgegeben, eine Frau zu finden. Sie auch nur zu suchen.«

Sie sahen sich an. Das Begehren, das aus Mariettes Augen sprach, erschütterte Diamantis. Kleine Goldpailletten funkelten darin. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn fast im Laufschritt von der Terrasse.

»Gehen wir schwimmen?«

»Schwimmen?«

»Hast du den Swimmingpool nicht gesehen?«

»Einen Pool gibts also auch!«

»Der große Luxus. Das sollten wir ausnutzen, nicht? Jedenfalls einmal im Leben.«

Sie stiegen ein paar Stufen hinab und gingen ums Haus. Vor dem Pool ließ sie seine Hand los. Sie streifte die Träger ihres weiten, weißen Leinenkleides ab. Darunter trug sie einen Badeanzug, ebenfalls weiß. Er hatte keine Zeit, ihren Körper eingehend zu betrachten. Sie stürzte sich mit einem Kopfsprung in den Pool. Er sah ihr in dem klaren, blauen Wasser nach. Mariettes Kopf tauchte am anderen Ende auf. »Was ist, los komm!«, rief sie prustend.

»Ich hab keine Badehose. Das hättest du auch vorher sagen können.«

»Ich mach die Augen zu. Na, komm schon. Es ist supertoll!«

Er behielt die Unterhose an. Diamantis war ein schamhafter Mann.

 

Sie ließen sich im Halbschatten trocknen. In gebührendem Abstand voneinander. Schweigend. Verloren in ihren Gedanken und Sehnsüchten. Er hatte es geliebt, mit Amina schwimmen zu gehen. Immer draußen im Meer. Auf den Frioul-Inseln. In den unzähligen kleinen Buchten waren sie ungestört.

Sie schwammen lange und weit hinaus. Auf dem Rückweg klammerte Amina sich auf seinem Rücken fest, bis sie sich außer Atem auf einem Felsen balancierend küssten, Aminas Glieder um seinen Körper gewunden und geschlungen, schließlich taumelten, fielen und ins tiefe Wasser glitten, die Leiber aneinander gepresst, wieder hochkamen und sich, noch immer eng aneinander klebend wie zwei Napfschnecken, erschöpft auf den Wellen bis an den schmalen Streifen glühend heißen Sand treiben ließen …

Diamantis spürte Mariettes heißen Atem an seiner Schulter. Sie war still heran gekommen. Er öffnete die Augen. Sie sah ihn an. Ihre großen, schweren Brüste spannten unter dem Badeanzug. Diamantis dachte an eine unbegrenzte Auswahl von Früchten. Ananas, Mangos, Äpfel, Granatäpfel … Er konnte sie förmlich auf den Lippen schmecken. Er drehte sich auf den Bauch, um seine Erektion zu verbergen.

»Essen wir einen Happen? Ich lade dich ein«, schlug sie vor. Sie kannte eine kleine Pizzeria im Hafen von La Ciotat. L’Escalet. Arm in Arm schlenderten sie den Kais entlang. »Macht es dir auch nichts aus, wenn ich dir den Arm reiche?«, hatte sie gefragt.

Nein, das machte Diamantis nichts aus. Er liebte es, eine Frau am Arm zu haben und den Moment zu spüren, wenn sie wie in gemeinsamem Einverständnis in Gleichschritt fielen.

»Siehst du«, sagte sie und zeigte auf die andere Seite des Kais, dorthin, wo gewaltige Gerüste, Schwenkbrücken und Kräne aufragten, »das ist aus und vorbei. Eines Tages wird man vergessen haben, dass hier großartige Schiffe gebaut wurden. Alle müssen sehen, wie sie neu anfangen können. Die Werftarbeiter. Ihre Frauen und auch ihre Kinder. Alle, die sich heute hier niederlassen und der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollen.«

»Jetzt werden sie in Athen gebaut. Ebenso große wie die France.«

»Es ist schade, dass hier keine mehr gebaut werden. Ohne Schiffe ist dieser Hafen so nichts sagend. Das heißt, das stimmt nicht«, nahm sie zurück. »So gefällt er mir auch.«

Sie waren stehen geblieben. Er hatte Lust, Mariette seinen Arm um die Schultern zu legen, ließ es aber sein. Wie viele Häfen kannte er, die in Vergessenheit dahindämmerten? Es gab immer weniger Häfen, immer weniger Schiffe und immer weniger Seeleute. So war es überall.

Er hatte keine Meinung dazu. Er stellte fest, mehr nicht. Er hatte das Gefühl, dass eine Welt zu Ende ging. Seine Welt. Ja, dass ein neues Jahrhundert anbrechen würde. Er blieb im alten haften. In dieser neuen Zeit würde man sich nicht mal mehr an den Namen Odysseus erinnern können, dachte er. Ihm fiel wieder ein, dass sein Vater sich in seinen Briefen ausschließlich auf die Antike bezogen hatte. »Wir passieren die Säulen des Herkules, die Landspitze, an der Antäus sein Leben ließ …« Wer würde morgen noch wissen, auf welcher Insel Kalypso lebte, die Odysseus verführt hatte, ohne ihn halten zu können?

Seltsamerweise war es das, worüber Mariette und er beim Essen sprachen. Über die alte Welt, nicht über die neue. Als wären sich beide bewusst gewesen, dass sie keine Zukunft hatten. Oder, besser gesagt, dass ihre Zukunft in dieser Vergangenheit lag, die ihnen durch die Finger glitt.

Sie hatten sich unter die alten Platanen auf der Terrasse des Escalet gesetzt. Mariette hatte eine Flasche Rosé von den Hängen bei Aix-en-Provence von einem Weingut bei Lacoste bestellt. Leicht und fruchtig. Und eine riesige Pizza, halb mit Mozzarella, halb mit Figatelli, Scheiben von korsischen Würsten, bedeckt.

Mariette hatte ihr Studium der Geisteswissenschaften unterbrochen, als sie mit Laure schwanger war. Als Laure in den Kindergarten kam und sie daran dachte, das Studium wieder aufzunehmen, starb ihr Mann Régis. Ein Herzanfall, eines Morgens beim Rasieren. Sie hatte ihn steif auf den Fliesen im Badezimmer gefunden, nachdem sie Laure zur Schule gebracht hatte. Danach musste sie ihr Leben völlig neu gestalten. Sie hatte Régis’ Makleragentur übernommen und sich ins Geschäft gestürzt. Sie hatte Erfolg, »und das nicht zu knapp«, wie Toinou ihm stolz anvertraut hatte.

Ermutigt durch die Aufmerksamkeit, die Mariette ihm entgegenbrachte, ließ Diamantis sich gehen und sprach über seine Leidenschaft für Seekarten und Häfen.

»Der Ursprung eines Hafens«, erklärte er ihr, »enthüllt uns seine Eigenart. Je nachdem, ob er durch einen Fluss entstanden ist, durch eine Laune der Küste und des Hinterlandes oder ob das Meer selbst der Urheber ist.«

Er sprach, und sie liebkosten sich mit den Augen. Unter dem Tisch presste Mariette ihr glühendes Knie gegen das seine. Aber keiner von beiden hatte Lust, den Anfang zu machen – sei es auch nur andeutungsweise –, diesen Zauber ihrer Zweisamkeit zu zerstören.

»Es ist der Weg, auf dem ein Hafen zu erreichen ist, der sein Wesen bestimmt, verstehst du. Der es entscheidend bestimmt. Der Atlantik und der Pazifik sind Meere der großen Entfernungen. Das Mittelmeer ist das Meer der Nachbarschaft. Die Adria ist das Meer der intimen Nähe.«

»Und das Ägäische Meer?«

Er lächelte. Das Meer der Liebe, hätte er am liebsten geantwortet. »Das Meer, das die Mythen zur Welt gebracht hat. Weißt du, dass Homer auf einer Insel nicht weit von meiner geboren wurde?«

»Die Insel Chios, ja, ich weiß. Dann bist du also auf Psará geboren?«

Er war überrascht. Nur wenige Menschen kannten Chios. Noch weniger Psará. »Kennst du die Inseln?«

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Haare, in denen sich die Sonnenstrahlen fingen, wurden beinahe flammend rot. »Nur aus Büchern. Ich bin nie aus Marseille rausgekommen.«

»Hast du dich nie danach gesehnt?«

»Niemand hat mich woandershin eingeladen. Nicht mal nach Korsika!«

Sie brachen in Gelächter aus.

Diamantis hätte ihr gern von Psará erzählt. Aber Psará gehörte Melina. Es war ihr Bild, das er wieder sah, wenn er dort hin zurückkehrte. In den Straßen, auf den Steilküsten oder auch im Tal der Birnenbäume im Herzen der Insel. Auch das Haus atmete Melinas Geist. Die Rosensträucher und Orangenbäume, die Bougainvilleas, die den Hof schmückten, waren Zeugen ihrer glücklichen Vergangenheit. Daran durfte man nicht rühren, hatte er sich eines Morgens geschworen. Er hatte einen Eid geleistet und nie eine andere Frau nach Psará mitgenommen.

Eines Abends, kurz vor seiner Abreise nach La Spezia, hatte er in einem Koffer unten im Schrank vergessene Kleider von Melina gefunden. Sie hatten ihren Geruch bewahrt. Besonders eines ihrer Kleider. Sein Magen zog sich zusammen, und er hatte so etwas wie einen Schwindelanfall. Er war mit dem Gesicht in den duftenden Stoff vergraben eingeschlafen. Als er aufwachte, konnte er sich nicht an seine Träume erinnern. Nur an einen Satz, den er in einem Buch gelesen hatte und der wie die Leiche eines Ertrunkenen an die Oberfläche seiner Gedanken trieb: »Nicht zu lieben, ist ein Unglück.«

 

Ihr Kaffee und die Rechnung kamen. Um Diamantis und Mariette herum forderte das Leben plötzlich wieder seine Rechte ein. Autos, Busse und Mofas brausten hin und her. Wilde Hupkonzerte. Motorengeheul. Rufe. Sie waren in die Realität zurückgekehrt – ein Paar an einem Tisch unter den Platanen.

Mariette sah diskret auf die Uhr.

»Hast du noch andere Termine?«, fragte er.

»Ich müsste in die Agentur. Was machst du später?«

»Ich bin mit Nedim verabredet. Einer von unserer Mannschaft, der aufs Schiff zurückgekehrt ist. Ich muss ihm einen Gefallen tun.«

»Und danach?«

Anschließend wollte er im Mas vorbeischauen. Das Restaurant, auf das Masetto ihn hingewiesen hatte, in dem Amina verkehrte. Er wollte sie so schnell wie möglich treffen. Vielleicht würde er Frauen danach in einem anderen Licht sehen können, ohne Angst, ohne Schuldgefühl. Vielleicht konnte er sogar sein Leben anders anpacken. Denn tief drinnen wusste er, obgleich er das Meer innig liebte, dass die Seefahrerei eine Flucht für ihn war. Die Flucht treibt einen in den Tod. Auch das wusste er. Und der Tod, das war ihm klar, kam immer näher.

Diamantis hatte keine Lust zu sterben. Das Leben war voller Freuden. Mariette zum Beispiel. Sie brauchte nur zu lächeln, sodass die Grübchen in ihrem hübschen, runden Gesicht aufblitzten.

»Ich muss … Jemand, den ich treffen muss. Jemand, den ich nicht mehr gesehen habe, seit … seit langer Zeit.«

»Eine Frau?«

Mariettes Blick forschte in den verborgensten Winkeln seines Wesens. Das mochte er nicht besonders. Er zuckte die Schultern, ohne zu antworten. Sie lächelte. »Und danach?«

»Hast du was Bestimmtes im Sinn?«

»Nichts Bestimmtes. Mehr so ein Bedürfnis …«

Ihre Knie klebten immer noch aneinander.

»Ich weiß nicht, Mariette.«

»Du kommst, wenn du willst. Du kommst, wann du willst. Ich bringe Laure um neun ins Bett und gehe nie vor Mitternacht schlafen. Danach ist es etwas anderes.«

Mariette setzte Diamantis am Alten Hafen ab, nicht weit von der Grand Bar Henri, wo er mit Nedim verabredet war. Sie waren schweigend dahingefahren bei der Musik eines italienischen Sängers, den sie vor kurzem entdeckt hatte. Gianmaria Testa. Ihr Lieblingslied war Come le onde del mare. Sie übersetzte ihm eine Strophe:

 

Manche Abende haben eine undefinierbare Farbe,

zwischen Azur und Amarantrot,

und sie vibrieren in einem langsamen, langsamen Rhythmus.

Und wir, die wir auf sie warten,

wir wissen, dass sie Gefangene sind

wie die Wellen im Meer.

 

Mariette kannte den ganzen Text, den sie mitsummte. Sie hatte eine sanfte Stimme. Der Sänger und sie gaben ein gutes Duo ab.

Come le onde del mare. Come le onde del mare.

Sie küsste ihn auf die Wange. Das würzige Parfüm ihres Körpers stieg ihm in die Nase. Auch ihr Kuss duftete. Er fragte sich, wonach ihre Brüste heute Nacht schmecken würden. Ananas, Mango, Apfel oder Granatapfel? Oder nach einer völlig neuen, ihm unbekannten Frucht?