26

Mit einem Schrei des Entsetzens schleuderte Eusebius Grumper das Bündel von sich. Er verfluchte sich dafür, die roten Flechten der Gassnerin heimlich an sich genommen zu haben, nachdem der Henker ihr das Haar geschoren hatte. Seit dem vermaledeiten Tag hielt er sie auf dem untersten Brett seines Bücherregals vor den neugierigen Blicken Gretes und Bruder Heinrichs versteckt.

Beinahe täglich hatte Grumper an dem Haar gerochen und die seidigen Flechten durch seine Finger gleiten lassen, doch jetzt lagen sie in der glimmenden Feuerstelle seiner Wohnstube. Als die Flammen in einem Fauchen erwachten, wich er ängstlich zurück. Der Kaplan glaubte in den lodernden Zungen das Antlitz der Gassnerin zu erkennen. Während sich ihr dichtes, rotes Haar wie lebende Schlangen wand, erinnerte es Grumper an das Haupt der Medusa. Aus dem Zischen des Feuers vernahm er die drohende Stimme der Hexe: »Ich verfluche dich für alle Zeiten und durch alle Leben, bis ans Ende aller Tage!« Ein wehklagendes Stöhnen entwand sich seiner Kehle, ehe er nach dem geweihten Salz griff und eine Handvoll in die Feuerstelle warf. Abermals prasselten die Flammen hoch und leckten gierig an dem Stein, der es gefangen hielt.

So ging es nun schon seit dem letzten Tag in der Folterkammer. Die Gassnerin verfolgte ihn bis in seine Träume. Die Hexe begegnete ihm überall. Selbst in der spiegelnden Oberfläche des Weihwasserbeckens bedrängte sie ihn mit ihrer verführerischen Schönheit. Sie erschien ihm in jeder Pfütze und ließ ihm keine Ruhe mehr. Der warme Duft der Gassnerin verfolgte ihn überallhin. Selbst seinen Schlaffellen und seiner Strohmatratze entstieg die Blume ihrer Weiblichkeit und tauchte seine Gedanken in ein loderndes Meer. Seit Ewigkeiten hatte er kein Auge mehr zugetan, und wenn er tatsächlich einmal schlief, erwachte er aus einem furchtbaren Albtraum. Dann erschien ihm die Gassnerin als eine uralte Göttin, die ihm ihre Allmacht aufzeigte, indem sie ihn zwang, ihre Milch aus einem geschliffenen Kelch zu trinken. Doch es kam noch schlimmer, manchmal hatte er schon geträumt, dass die Hexe seinen nackten Leib mit ihrem Mondblut besudelte. Mit Fingern, so filigran wie Feenhaar, malte sie heidnische Zeichen auf seine Brust, ehe sie ihn in das ewige Höllenfeuer verbannte und selbst im Strom der Zeit verschwand.

Es gab kein Eckchen in seinem Haus, in dem er vor ihr sicher war, deshalb irrte der Kaplan jede Nacht stundenlang durch die Stadt.

Erleichtert sah er zu, wie sich das Haar der Hexe mit einem letzten Zischen in Rauch auflöste. Doch da erschien ihm die Gassnerin schon wieder so wahrhaftig, dass er sich mit bebenden Fingern in seinen schwarzen Mantel hüllte und das Pfarrhaus eilends verließ. Auf dem Weg zur Kirche war alles ruhig, selbst der Wind schien bereits zu schlafen. Mit einer Laterne in der Hand eilte er die Gasse hinunter. Als Grumper eine Stunde nach Mitternacht das schwere Eichenportal zur Kirche öffnen wollte, erhob sich ein scharfer Luftzug aus dem Nichts. Mit zitternden Händen steckte er den großen Schlüssel ins Schloss. Die Tür sprang auf, und er rettete sich mit klopfendem Herzen ins Innere des dunklen Gotteshauses. Er hastete zum Altar, wo der Tabernakel in eine steinerne Stele eingelassen war. Darüber leuchtete rot und tröstend das ewige Licht. Während seine Lippen ein stummes Gebet formten, suchte der Kaplan nach dem Schlüssel zum Allerheiligsten. Im Tabernakel befanden sich als Symbol für den Leib Christi die geweihten Hostien. Als er das Sühneopfer aus Weizenmehl an seinem Gaumen spürte, streifte ein weiterer Hauch sein Gesicht. Obwohl in der Liebfrauenkirche völlige Windstille herrschte, begann das milchige Licht seiner Laterne zu flackern. Angsterfüllt starrte der Kaplan in die zuckende Flamme.

»Kinder, es ist die letzte Stunde!«, begann Grumper die Verführung durch den Antichristen aus dem ersten Brief des Johannes zu rezitieren. Schweiß brach aus jeder Pore, und gleichzeitig zitterte er vor Kälte. Als er glaubte, in dem tanzenden Schein des ewigen Lichts Luzias Haar zu erkennen, stieß er in wilder Hysterie seine Laterne von sich, deren Licht verlosch, und sank auf die Knie. Mit zitternden Händen bekreuzigte er sich mehrmals, als plötzlich auch die ewige Flamme hinter dem roten Glaszylinder zu flackern begann. Dann erlosch auch dieses Licht.

Als sich Grumper in völliger Dunkelheit wiederfand, klopfte sein Herz wie Trommelschläge gegen die Rippen. Er kroch auf allen vieren zur ersten Bankreihe. Erst dort erhob er sich und tastete sich blind bis zum Portal. Ein Blick zurück sagte ihm, dass die Hexe ihn nur getäuscht hatte. Die Flamme des ewigen Lichts brannte rot und still. Selbst seine erloschen geglaubte Laterne warf ihren warmen Schein wieder auf den grauen Steinboden.

In wildem Entsetzen riss Grumper die schwere Kirchentür auf und stolperte auf den dunklen Platz. Wie vom Teufel selbst gehetzt, eilte er durch die finsteren Gassen der Stadt davon. Der Wind erhob seine sanfte Stimme zu einem bedrohlichen Brausen und trieb ihn wie eine Strohpuppe vor sich her. Sein Herz schlug gegen die Rippen, als wollte jeder einzelne Schlag die Knochen zum Bersten bringen. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter, ehe sich die kalten Tropfen in der Gesäßfalte sammelten. Die Angst hetzte ihn quer durch das nächtliche Ravensburg. Ein paarmal geriet er ins Straucheln, und einmal stolperte Grumper in der Dunkelheit und fiel in den klammen Matsch. Mühsam erhob er sich und rannte weiter. Hinter jeder Biegung und an jeder Hausecke stand die Hexe in ein silberweißes Gewand aus Mondschein gehüllt. Es tauchte ihren nackten, weißen Leib in einen zarten Nebelschleier und wollte ihn zur Sünde verführen. Während sein Herz ins Stolpern geriet, fiel ihm das Atmen immer schwerer. Obwohl er sich am anderen Ende der Stadt glaubte, erblickte er mit einem Mal den Grünen Turm.

»Das kann nicht sein! Die Hexe täuscht meine Sinne. Sie will mich ins Verderben locken! Herr, ich habe getan, was gut und richtig ist, darum überlass mich nicht der Willkür meiner Feinde!«, rief Grumper in die Finsternis und rannte halb wahnsinnig vor Angst zur Stadtmauer. Der weißgekalkte Frauenturm schimmerte im Mondlicht, aber das rettende Tor war längst geschlossen. Weit und breit sah Grumper keine Menschenseele. Nicht einmal der Nachtwächter sang sein Lied.

»Ich verfluche dich bis ans Ende aller Tage!«, raunte ihm der Wind ins Ohr.

In seiner Brust wurde es immer enger. Sein Atem ging stoßweise, als sein Blick auf den luftigen Wehrgang über der Stadtmauer fiel. Dort oben hoffte er besser atmen zu können. Seine letzte Hoffnung war die Notleiter, die außer im Brandfall ausschließlich von den Torwachen erklommen werden durfte. Im bleichen Mondlicht sah er den rettenden Fluchtweg. Immer zwei Sprossen auf einmal nehmend, stieg er die wackelige Leiter empor.

Hier oben auf der Brüstung fühlte sich Grumper dem Himmel näher. Während sich der rasselnde Atem des Geistlichen langsam beruhigte, verlor sich sein Blick über den schwarzen Wäldern, die Ravensburg wie eine schützende Hand umgaben. Während der dünne Wolkenschleier den vollen Mond aus seiner weißen Umarmung entließ, trieb die leichte Brise ein paar trockene Eichenblätter vor sich her. Lange blickte Grumper über die Brüstung nach unten. Das silberne Licht ergoss sich wie Elfenblut über die in dichter Reihe stehenden Holzpfähle. Ihre angespitzten Enden ragten wehrhaft aus der Erde. Erschöpft lehnte sich der Kaplan gegen die Bretter des Wehrganges und glitt an der Wand hinunter. Zwar wusste er nicht wie, aber er schien der Hexe entkommen zu sein.

 

Die Bläser verkündeten die elfte Stunde, als Johannes zu Hause in der Frauenstraße seinem Araberhengst endlich den Sattel abnahm. Heute hatte er neben zahlreichen Krankenbesuchen viele Male den Pestkarren rufen lassen. Einen Toten hatte er noch vor Schließung der Stadttore selbst zu einer der Kalkgruben gebracht.

Mittlerweile waren viele Pestknechte selbst erkrankt, und einen Ersatz für die tüchtigen Männer gab es nicht. Jeder fürchtete, selbst der Nächste zu sein. Die von der Stadt bestellten Pestknechte arbeiteten von früh bis spät und schafften es dennoch nicht, alle Verstorbenen gleich vor die Stadtmauer zu bringen.

Während Johannes sein Pferd tränkte, dachte er an den Scheiterhaufen, der bereits auf dem Holzmarkt aufgeschichtet war und der nur darauf wartete, Luzia den Tod zu bringen.

Das leise Klopfen an der Stalltür, riss ihn aus seinen Gedanken. Sofort öffnete er sie einen Spaltbreit.

»Gott zum Gruß, Herr Medicus!« Der Mann mit den grünen Augen kauerte zu seinen Füßen. Heute Abend lag ein Schatten unter ihnen. Das Grün war nicht mehr so lebendig.

»Michel Weidacher schickt mich«, brachte der Alte mühsam hervor und zog sich in den Stall.

Johannes nickte voller Ungeduld, als sich der Bettler ins Stroh fallen ließ.

»Was hat er dir aufgetragen?«, entgegnete Johannes schroffer als beabsichtigt. Die Anspannung der letzten Stunden zerrte zusätzlich an seinen Nerven.

»Ich soll Euch ausrichten, Ihr sollt zum Grünen Turm kommen!«, sagte der Alte leise, »er erwartet Euch zur fünften Nachtstunde an der Gefängnispforte. Sollte Euch jemand fragen, sagt, man habe Euch zum alten Burger gerufen, weil die Wachen vermuten, er habe die Pest. Doch nur Herr Michel weiß, dass der Dieb bereits mit dem Beginn seiner Schicht gestorben ist. Herr Michel wird Euch einen Schlüssel reichen und Euch in die erste Zelle nach dem Abgang schicken. Dort werdet Ihr auf Jungfer Gassner treffen. Herr Michel lässt Euch außerdem ausrichten, dass er ein großes Leinen hinter Jungfer Gassners Zellentür legt.«

Johannes wusste, dies würde seine einzige Möglichkeit sein. Seine Hände zitterten vor Ungeduld, als er daran dachte, dass er in wenigen Stunden Luzia wiedersehen würde.

Doch nun galt es einen kühlen Kopf zu bewahren. Zuerst musste er mit ihr als Pesttote das Gefängnis verlassen. Kurz bevor die Stadttore geöffnet wurden, wechselte auch dort die Wache. Dann wurden die vielen Pestleichen, die die Knechte während der Nachtruhe neben den Toren abgelegt hatten, zu den Kalkgräbern gebracht. An den Durchgängen gab es dann immer ein Durcheinander, dachte Johannes. Ja, so musste es gehen! Er spürte, wie sein Mund trocken wurde. Seine Hände kribbelten vor Erregung. Noch konnte er nicht glauben, dass sein Vorhaben gutgehen würde. Was, wenn die anderen Wachen den alten Burger vorzeitig entdeckten? Wenn jemand Luzia erkannte? Aber was hatten sie schon zu verlieren außer ihrem Leben?

Johannes bückte sich zu dem Bettler hinunter.

»Ich danke dir für deine Hilfe! Aber sag mir, wie ist dein Name?«, fragte er sanft.

»Wenzel. Ich bin Wenzel«, entgegnete der Alte mit einem müden Lächeln.

»Warte hier!«, sagte Johannes und eilte ins Haus. Wenig später kam er mit einem kleinen Beutel voller Goldstücke zurück und reichte ihn Wenzel.

»Nimm diese Münzen. Es sind genug, damit du dir einen Platz in der Armenstube des Spitals kaufen kannst. So musst du dein Lebtag nicht mehr frieren noch hungern.«

»Lasst es gut sein«, unterbrach ihn der Alte mit matter Stimme und gab den Beutel zurück. Er schnürte seinen grauen Kittel auf und entblößte seine Halsbeuge. Johannes konnte den Blick nicht von den dunklen Beulen wenden.

»Wenn Ihr mir etwas aus Eurem Zauberkasten geben könntet, wäre ich schon zufrieden«, gab der Bettler mit einem klugen Lächeln zurück. Ihm war der schmerzvolle Blick des jungen Arztes nicht entgangen.

Johannes schluckte schwer. »Ich könnte versuchen die Beulen zu behandeln. Einigen hat …«

»Vergesst es gleich wieder!«, entgegnete Wenzel entschieden. »Rettet die Jungfer vor dem Feuertod! Sie war immer mein guter Geist. Ich bin nicht traurig, wenn dieses arme Erdenleben ein Ende hat, denn dann darf ich die ganze Herrlichkeit Gottes schauen«, sagte der Alte zuversichtlich. »Zudem sind die Beulen auch in der Leiste und unter den Achseln.«

Erst als Johannes die Laterne zu Hilfe nahm, fiel ihm auf, dass der Schatten des Todes bereits deutlich über Wenzel schwebte. Der Medicus reichte dem alten Mann ein Fläschchen Mandragoraessenz und nickte ihm zu.

»Und das lindert den Schmerz?«, fragte der Bettler skeptisch.

»Damit kannst du ganz Ravensburg den Schlaf bringen. Ich führe mithilfe der Alraune regelmäßig Amputationen durch.«

Der Alte nickte schwach. Seine Stirn glänzte feucht und seine grünen Augen wirkten fiebrig.

»Wie lange habe ich noch Zeit?«

»Ein paar Stunden, höchstens einen Tag«, entgegnete Johannes sanft.

Wenzel packte die Flasche in seinen Beutel und zog sich zur Stalltür.

»Gott segne dich!«, sagte Johannes und reichte dem Alten die Hand.

Der lächelte müde. »Und Euch! Habt Dank für die Medizin und bestellt der Jungfer meine besten Wünsche.«

Als sich Wenzel auf seinen Händen über den Hof zog, wünschte Johannes dem alten Mann, dass sich seine Hoffnungen erfüllten und ihn ein besseres Dasein erwartete. Dann wandte er sich ab. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, und er hatte noch sehr viel zu erledigen.