9

Ehe Grete an die Tür des Studierzimmers klopfte, in dem Kaplan Grumper bereits seit Stunden saß, strich sie ihr Gewand und ihre Haube sorgfältig glatt.

»Komm herein«, forderte er sie auf.

Grete trat in das hohe Zimmer des großzügigen Hauses, das gleich neben der Liebfrauenkirche in der Herrenstraße lag. Es war gut geheizt und sauber geputzt, wie sie befriedigt feststellte. Schließlich war sie diejenige, die in diesem Haus dafür sorgte, dass der Herr Kaplan es bequem hatte.

»Ich will Eure kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, aber ich habe Euch etwas zu berichten«, begann Grete leise, fast unterwürfig.

»Du bist eine brave Frau. Setz dich für einen Moment. Was gibt es denn?«, entgegnete Eusebius Grumper und strich sich das grau durchzogene Haar aus der Stirn. Mit Spannung erwartete er Gretes Bericht und beglückwünschte sich einmal mehr, die Frau vor vielen Jahren bei sich aufgenommen zu haben. Arm und elend war Grete seinerzeit gewesen. Er hatte sie gespeist und ihr ein Dach über dem Kopf gegeben, seither verband sie beide eine unausgesprochene Abmachung. Er konnte sich auf Grete verlassen, sie informierte ihn über jede Verfehlung unter den Weibern.

Denn die Weiber waren es, die zusammen mit dem Teufel die Seelen der Männer fingen. Allein ihr wollüstiger Duft verleitete die Männer zur Sünde. Dazu ihr schmeichelndes Haar und ihre wohlgerundeten Brüste. Grumper wusste, wovon er sprach, jede Nacht drängten sie sich in seine Gedanken und raubten ihm den Schlaf. Meistens fand er erst gegen Morgen in der Marter seines Fleisches Erlösung. Besonders die Gassnerin quälte ihn und machte ihn rasend. Er hasste die junge Hebamme aus tiefster Seele. Ihren Verstand genau wie ihren Mut. Zuerst war sie nur vorlaut gewesen, doch bereits als sie noch ein halbes Kind war, hatte sie diesen süchtig machenden Reiz auf ihn ausgeübt. Ihr brennendes Haar und ihre weiße Haut verfolgten den Kaplan bis in seine Träume.

Grete war ganz anders. Alles an ihr erinnerte Grumper an die Jungfrau Maria, die Muntzin war keusch und rein. Ihr entströmte nicht diese feuchte Hitze, wie sie manchen Weibern zu eigen war und mit der sie jeden Mann zwischen ihre rosigen Schenkel lockten. Grete umgaben allenfalls die Ausdünstungen, die von harter Arbeit und stundenlangem Gebet zeugten. Allein die Art, wie sie sich auf dem äußersten Rand des Stuhls niedergelassen hatte und demütig darauf wartete, dass er ihr das Wort erteilte, sprach für ihre Untadeligkeit. Wenn doch bloß alle Weiber wären wie sie, dachte Grumper und forderte sie mit einem Nicken auf zu sprechen.

»Es geht um die Gassnerin, die neue Hebamme der Stadt. Immer öfter verlangen die Weiber nach ihr. Alle schreien sie nach diesem Malefizweib. Dabei flüstern sie sich allerlei wundertätige Geschichten über sie zu. Und niemand fragt, woraus diese Person ihren Erfolg bezieht. Wer ihr diese Macht verleiht.« Grete hob in einer klagenden Geste die Hände, den Blick schlug sie aber züchtig zu Boden.

Grumper nickte und sein Gesicht wurde zu Stein, wie immer, wenn diese verderbte Weibsperson ins Spiel kam.

Der Kaplan wusste nur zu gut, dass die Totenglocke sehr viel seltener für ein Neugeborenes geläutet wurde, seit die junge Wehmutter in der Stadt regierte. Weit seltener als in all den Wintern davor. Und das, obwohl der ganze Landstrich derzeit von einer eisigen Kälte heimgesucht wurde, wie es nicht alle Jahre vorkam.

»Wir beide wissen, dass die Gassnerin mittlerweile ein Ansehen genießt, wie es nicht gottgewollt sein kann. Allenfalls einem Kirchenmann oder einem anderen hohen Herrn sollte Derartiges zuteilwerden, und gewiss ist es nicht in meinem Sinne.«

Das war mehr, als Grete zu hoffen gewagt hatte. Sie war sich nicht sicher gewesen, wie der Kaplan zu der jungen Hebamme stand, die sie selbst aus ganzem Herzen hasste. Aber seine Worte zeigten ihr, dass er ähnlich dachte. Eine wilde Freude durchzuckte ihr Herz. Mutig geworden, fuhr sie fort:

»Wie ich Euch bereits mehrfach berichtet habe, ist ihr Tun abstoßend und zutiefst sündig. Ihr Gelingen verdankt sie einzig ihren Zauberkünsten. Sie ist«, Grete überlegte kurz, ihr Blick bekam etwas Verschlagenes »von einer anderen Welt«, stieß sie dann hervor. Jetzt war es heraus. Jetzt hatte sie vom Teufel gesprochen, ohne ihn beim Namen zu nennen, und der Kaplan konnte es verstehen, wie er wollte.

Grumper nickte. »Aber beweisen kannst du es nicht, und ohne Beweise sind auch mir die Hände gebunden. Dabei wäre ich der Erste, der diesem gottlosen Weib den Prozess machen würde.«

Bei seinen Worten hätte Grete am liebsten laut gejubelt. Sie hatte gewonnen!

Grumper sah aus dem Fenster, und seine Stimme klang, als würde er zu sich selbst sprechen: »In Waldshut habe ich einmal einen ganz ähnlichen Fall erlebt. Auch dieses durchtriebene Weib übte den Beruf der Hebamme aus. Bei dieser Tätigkeit ist ihre Macht am größten. Nur so haben sie die Möglichkeit, die ungetauften Seelen dem Teufel zu weihen.«

Selbst Grete schauderte bei den Worten des Kaplans. »Was wurde aus dieser Waldshuterin?«

Ein feines Lächeln bildete sich auf Grumpers schmalem Gesicht, und die Erinnerung spiegelte sich in seinem Blick. Sie verlieh ihm das Aussehen eines Raubvogels. »Oh, mit dieser sind wir anders verfahren. Dort wurde nicht lange gefackelt, statt langer Rede hat der Stadtrat den von Papst Sixtus ernannten Inquisitor, Doktor Heinrich Kramer, um Hilfe gebeten. Sein Zuständigkeitsbereich umfasst ganz Oberdeutschland und er ist ein wahrer Meister seines Fachs. Bruder Heinrich spürt jeden auf, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Er war es, der meinen Blick für die sündigen Weiber schärfte. Aufgrund der Sündhaftigkeit und Unvollkommenheit des Weibes bemächtigt sich der Teufel ihrer viel öfter. Heinrich Kramer kennt sie alle, die Zaubersprüche, mit denen der Teufel den Weibern die Macht zum Wettermachen gibt oder sie unter der peinlichen Befragung den Schmerz nicht spüren lässt.«

Gretes Augen wurden groß. Unwillkürlich bekreuzigte sie sich.

Grumper nickte. »Glaub mir, der Höllenfürst ist noch zu ganz anderem fähig. So flüstert er den Weibern während des Liebesaktes, den sie in höchst sündiger Form mit ihm vollziehen, Rezepte für allerlei Salben und Tränke ein. Die Hexen kochen aus dem Fett neugeborener Kinder eine Salbe. Sie entweihen Hostien, indem sie sie mit ihrem Monatsblut und dem Samen eines Gehängten vermischen. Diese Mixtur verleiht der Flugsalbe ungeahnte Kräfte. Mit ihrer Hilfe fahren die Hexen des Nachts auf einer Ofengabel oder einem Besen durch den Rauchfang aus und reiten durch die Lüfte.«

Grete lief es kalt den Rücken hinab. Wieder bekeuzigte sie sich. »Ihr sagt, die Hexen lassen sich vom Teufel begatten?«

Wieder nickte Grumper. »Dabei geben sie sich dem Herrn der Unterwelt aus freien Stücken hin, und in ihrer Begierde schreien sie wie wilde Tiere.« Er weidete sich an Gretes Entsetzen und an seinen eigenen Erinnerungen an das, was der Inquisitor ihm berichtet hatte. »Der Teufel begattet die Hexe im Stehen und von hinten. Sein Glied ist größer als das eines Hengstes, und es glüht. Im Anschluss stößt er es der Hexe tief in den Schlund und sie muss seinen Hintern küssen«, raunte Grumper, während in seinen Augen die blanke Gier schimmerte.

Grete konnte sich gut vorstellen, wie sich die rothaarige Gassnerin vom Teufel besteigen ließ. Wie er ihr sein glühendes Geschlecht in den sündigen Leib trieb …

»Warum schreibt Ihr diesem frommen Mann nicht und bittet ihn, nach Ravensburg zu kommen?«, fragte sie arglistig.

Auf diese Idee war Grumper bereits selbst gekommen. Er hatte schon einige Pergamente an den Dominikaner verfasst und sie letztlich wieder vernichtet, weil ihm ein wirklich handfester Beweis fehlte. Für die Gassnerin brauchte es ein augenfälliges Zeugnis und nicht nur den Bericht einer alten Dienerin.

»Lebt die Frau aus Waldshut denn noch?«, unterbrach die Muntzin Grumpers Gedanken.

»Nein, nachdem es Heinrich Kramer endlich gelungen war, den Schweigezauber zu lösen, den der Teufel über die Hexe verhängt hatte, bekam er das Geständnis der Zauberin. Der Teufel hatte ihr außerordentliche Kräfte verliehen und sie gegen jeden Schmerz unempfindlich gemacht, aber letztlich nutzte ihr das alles nichts, sie wurde gerichtet und lebendig verbrannt.« Grumper machte eine Pause. »Sei so gut und bring mir jetzt einen Becher Wein, und dann lass mich meine Briefe schreiben.«

Grete knickste mehrmals, bevor sie das Schreibzimmer verließ. Sie hatte die Tür schon beinahe hinter sich geschlossen, als sie die mahnende Stimme ihres Dienstherrn hörte:

»Halte stets deine Augen und Ohren offen und berichte mir auch weiterhin, was du weißt.«

Grete nickte gehorsam. Etwas anderes hatte sie nie getan. Für Eusebius Grumper würde sie durch die Hölle gehen, und das wusste er.

 

Der Christtag kam mit viel Schnee und eisigen Temperaturen. Luzia war froh, den Rehbraten, den Weihnachtskarpfen und alle Zutaten für Bratäpfel bereits im Haus zu haben. Seit die Turmbläser den Tag verkündet hatten, kochte und buk sie in der großen Küche des Apothekerhauses, sie wollte ihrem Onkel nach der strengen vierzigtägigen Adventsfastenzeit eine besondere Freude bereiten. Doch daneben gab es noch einen anderen Grund: Johannes von der Wehr! Gemeinsam würden sie zu Abend essen und im Anschluss die Christmette besuchen. Außerdem hatte ihr der Medicus seine Hilfe bei der Gabenverteilung für die Bedürftigen zugesagt. Luzia warf einen Blick auf den großen Korb voller rotwangiger Bodenseeäpfel und Lebkuchen, die sie nach der Messe verteilen wollten.

Sie kämmte sorgfältig ihr Haar. Heute würde sie auf keinen Fall den langweiligen Zopf tragen, zu dem sie an allen anderen Tagen ihr Haar bändigte. Sie teilte auf beiden Seiten eine Strähne ab und befestigte sie mit der kleinen silbernen Spange, die Elisabeth ihr zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte, am Hinterkopf. So hatte sie den Blick frei und trug ihr Haar dennoch offen. In der Kirche würde sie es selbstverständlich bedecken, aber gleich während des Essens würde sie nur einen kleinen Schleier tragen. Sie befand das dunkelblaue Kleid mit dem etwas tieferen Dekolleté für das richtige. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass sie eine schöne junge Frau war. »Vorsicht vor der Eitelkeit, denn sie ist eine Sünde!«, rief sie ihrem Bild zu und lächelte sich an.

Sie ging durch die Wohnstube und legte auf alle Scherenstühle, die vor der Feuerstelle aufgestellt waren, ein paar zusätzliche Felle. Dazu entzündete sie zur Feier des Tages einige Wachskerzen und verteilte diese in der einladenden Wohnstube. Die Teppiche auf dem Boden hätten es nötig gehabt, genau wie die vielen Wandbehänge, welche vor den weißgekalkten Wänden hingen und dem Raum Behaglichkeit und Wärme verliehen. Sie strich mit dem Finger über die schwere Eichentruhe und über die Bücherregale die zu beiden Seiten des Kamins an der Wand standen, verächtlich blies sie den Staub weg. »Siehst du dich noch?«, fragte sie laut. Elisabeths Worte, dachte sie, aber zum Saubermachen war es nun zu spät.

»Du siehst bezaubernd aus«, bemerkte Basilius, als er ins Zimmer kam.

Luzias Wangen röteten sich. Ein wenig verlegen legte sie ihm die Hand auf die Schulter. »Du hast dich aber auch fein gemacht«, erwiderte sie schmunzelnd.

 

»Jungfer Luzia, ich danke Euch nochmals für die herzliche Einladung. Das Essen war ganz wunderbar. Ich glaube, es war das Köstlichste seit vielen Jahren«, lobte von der Wehr einige Stunden später und schenkte Luzia ein Lächeln, das ihr Blut in Wallung brachte. Er reichte ihr die Hand, führte sie in einer eleganten Bewegung an seine Lippen und hauchte einen Kuss auf die zarte Haut. Noch nie hatte ihr ein Mann die Hand geküsst.

Luzia wurde ein wenig schwindelig. »Ihr übertreibt ebenso maßlos wie Basilius«, erwiderte sie lachend. »Aber ich freue mich, wenn es Euch geschmeckt hat.« Sie lehnte sich zurück, und das Licht der Kerzen fing sich in ihrem Haar. Es war wirklich ein gutes Essen gewesen, was auch an der heiteren Stimmung lag. Die Wortfetzen waren über den Tisch geflogen, sie hatte gelacht und gegessen und so manchen Becher Wein geleert.

Johannes von der Wehr war vom Tisch aufgestanden und lehnte lässig am Kamin. Luzia dachte wieder einmal, wie elegant und gewandt der junge Mann doch war. Er war nach der französischen Mode gekleidet und trug eine eng anliegende schwarze Hose sowie ein samtenes Wams in der gleichen Farbe, dazu ein blütenweißes Hemd und lederne Stiefel.

»Der Wein ist vorzüglich. Ein edler Bodenseewein, wenn ich mich nicht täusche?«, sagte er zu Basilius, der einige Scheite im Kamin nachlegte.

Basilius nickte anerkennend. »Hoher Besuch erfordert einen besonderen Tropfen. Was du trinkst, ist ein guter, alter Hagnauer, also genieß ihn. Auf unser Wohl.« Basilius hob den zinnenen Becher und prostete zuerst Luzia, dann Johannes zu.

»Jungfer Luzia, verratet Ihr mir, welche Kräuter und Gewürze dem Wein dieses wunderbare Aroma verleihen?«

Basilius kicherte leise vor sich hin.

»Da musst du früher aufstehen. Nicht einmal mir sagt sie, was diesem Getränk seinen Zauber verleiht.«

Luzia lächelte zufrieden. »So ist es. Es gibt Dinge, die ein Geheimnis bleiben sollten!«, stellte sie entschieden fest.

Von der Wehr erkannte ein geheimnisvolles Blitzen in ihren Augen. Für einen Augenblick befürchtete er, darin zu ertrinken, doch dann wünschte er sich, nicht mehr daraus aufzutauchen.

»Ich glaube, Ihr habt einen Zaubertrank daraus gemacht«, sagte er.

Das war eine äußerst kühne Bemerkung, die Luzia leicht aus der Fassung brachte. Sie war froh, den Raum verlassen zu können, um die Bratäpfel zu servieren. Als sie zurückkam, wartete sein warmer Blick schon auf sie, und sie spürte ein Kribbeln. Sie kannte sich selbst nicht mehr, denn irgendwie fand sie Gefallen daran. Sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben als Frau. Ein rascher Blick auf ihren Onkel zeigte ihr, dass auch er die Spannung bemerkte, aber er schien keinen Grund für einen Tadel zu sehen. Stattdessen räusperte er sich lautstark und machte sich am Feuer zu schaffen.

Von der Wehr konnte sich nicht erinnern, schon jemals einer so sinnlichen Frau begegnet zu sein. Die Art, wie sie sich bewegte, die wiegende Bewegung ihres Gangs. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn anlächelte, um plötzlich doch errötend den Blick zu senken. Ihre kleine, schmale Hand, die sich in seiner so gut anfühlte. Die bezaubernde Mischung aus Verstand und vollkommener Weiblichkeit raubten ihm die Sinne. Ihr außergewöhnliches, in allen Rottönen schimmerndes Haar lebte in dem fast schmerzhaften Kontrast zu ihrer hellen Haut. Klar und rein, fand der Medicus, wie eine seltene und kostbare Austernperle. Er hätte sie gern ewig betrachtet. Die feine Linie ihres schlanken Halses. Ihren weichgeschwungenen Mund, das einzigartige Herz ihrer Oberlippe.

Erst als sie einen kleinen Schluck Wein in die Flamme des offenen Feuers goss, wo es mit fauchendem Zischen verdampfte, wurde er sich bewusst, in welchen Bann Luzia ihn gezogen hatte. »Einen Schluck Wein für die Götter?«

»Manchmal«, gab Luzia zurück.

Das flackernde Feuer tauchte den weißgekalkten Raum in zart schmelzendes Licht. Fast war es ihm, dass der Funke des Zunders auch das Haar dieser besonderen Frau erfasst hatte. Heute loderte es wie Flammenzungen um das helle Gesicht. Wie eine alles verzehrende, heiße Flamme, die Kühlung, ja Erlösung in ihrer schneeweißen Haut fand.

Eine weitere Stunde verflog im Nu, und Basilius lächelte immer wieder stillvergnügt in sich hinein. Von der Wehr genoss den Abend sichtlich, und auch Luzia schien sich gut zu unterhalten.

Sie erzählte von Seefelden, vor allem aber von den Umständen, die sie zurück nach Ravensburg geführt hatten. Über ihre frühe Kindheit hingegen schwieg sie eisern.

Später begann der Medicus ein wenig über Frankreich zu plaudern. »Ich glaube, der Jardin des Plantes würde Euch sehr gefallen.«

»Der Jardin des Plantes?« Luzias Lippen formten die fremden Wörter.

»Frankreichs ältester botanischer Garten. Er ist einzigartig und besonders. Eine geheimnisvolle Schönheit umgibt ihn, die jeden in seinen Bann zieht.« Genau, wie Ihr es tut, dachte er.

»Seltene Pflanzen wurden mühsam aus der ganzen Welt zusammengetragen. Teilweise handelt es sich dabei um die letzten ihrer Art.«

»Eine Arche Noah also?«, wollte Luzia wissen.

Von der Wehr nickte anerkennend. »Das ist ein sehr treffender Vergleich. Viele Künstler zieht es des Lichts wegen in diesen bezaubernden Park. Dichter beziehen ihre Inspiration aus der großen, grünen Seele, selbst wissenschaftliche Vorlesungen finden im Schutz jahrhundertealter Bäume statt, und nicht zuletzt finden Liebespaare ein lauschiges Plätzchen für ihre Zweisamkeit.« Mit den letzten Worten schenkte er Luzia wieder dieses bezaubernde Lächeln, dem sie sich nicht entziehen konnte. Wobei sie sich alle Mühe gab, seine letzten Worte einfach zu ignorieren.

»Mit dem Jardin des Plantes hast du Luzias Interesse geweckt«, schmunzelte Basilius.

»Wie gerne ich diesen Garten einmal sehen würde«, schwärmte Luzia. »Und wie gern ich Montpellier sähe. Die Universität und das Spital. Dort braucht es doch sicher auch eine Hebamme?«

»Da täuscht Ihr Euch ganz und gar nicht.«

Basilius räusperte sich: »Ich unterbreche euch beide nur ungern, aber ich glaube, wir sollten uns langsam auf den Weg in die Kirche machen. Niemandem von uns stünde es gut zu Gesicht, wenn wir schon wieder zu spät kämen.«

Gemeinsam spannten sie den Schlitten an und stellten den wilden braunen Araberhengst des Medicus neben den braven Wallach des Apothekers. Mit dem Korb voller Lebensmittel machten sie sich auf den Weg zur Messe.

 

Im Inneren der Liebfrauenkirche war es eng und kalt. Der Geruch von Weihrauch und Kerzenwachs hing wie Nebel über den Bänken. Es wurde gehustet und genießt. Einige flüsterten sogar, bis die Messe begann.

Kaplan Grumper ließ zuerst In dulci iubilo singen. Dann folgten von den Schülern der Lateinschule die beiden beliebtesten Weihnachtslieder. Zuerst das Nunc angelorum gloria und das Quem pastores laudavere. In bodenlange Gewänder gehüllt, standen die Schüler mit einer Kerze in der Hand links und rechts neben dem Altar. Ihre feierlichen Weisen erfüllten das hohe Kirchenschiff und bereiteten Luzia eine prickelnde Gänsehaut.

Als klassische Abfolge neben dem Evangelium erfolgte die Lesung aus dem Alten Testament. Es war Weihnachten, heute hatten alle Gelegenheit, die Messe zu besuchen, und so drängte sich die ganze Oberstadt in den Bänken der Liebfrauenkirche, die bis auf die letzte Bank besetzt war. Die Messe wurde auf Latein gelesen, und Luzia fand es schade, dass nicht jeder verstand, was der Kaplan sagte. Rosa Ölschneider, die Magd des Bürgermeisters, die neben ihr kniete, unterdrückte bereits zum wiederholten Male ein Gähnen. Anderen ging es ähnlich.

»Und bedenkt immer, nur die Gottlosen ziehen das Schwert und spannen ihren Bogen, dass sie fällen den Elenden und Armen und morden die Frommen. Aber ihr Schwert wird in ihr eigenes Herz dringen und ihr Bogen wird zerbrechen!«, zitierte Kaplan Grumper zum Ende der Andacht einen seiner liebsten Psalmen.

 

Nach der Messe knieten die Bedürftigen am Portal der Kirche und warteten auf die Gaben der Bessergestellten. Fast jeder verteilte etwas, denn die Kirche versprach für den Akt der Nächstenliebe eine Vergebung der Sünden. Von einigen hätte Luzia allerdings etwas mehr erwartet. Sie reichte jeder der zerlumpten Gestalten einige Äpfel und Lebkuchen. Als sie an der Zeuser Rita vorüberkam, die nach dem Tod ihres Mannes für drei kleine Kinder sorgen musste, drückte sie ihr ein paar Decken und einige gebrauchte Kleidungsstücke in die Arme.

»Was ist mit seinem Bein?«, fragte Johannes von der Wehr mit Blick auf den Ältesten ihrer Jungen.

»Augustin ist gestürzt«, antwortete Rita Zeuser.

Der Junge schrie vor Schmerz auf, als der Medicus sein rechtes Bein berührte, das seltsam verdreht war.

»Es ist gebrochen.« Er nahm eines der Leinenstücke, die Luzia der Frau gerade gegeben hatte. »Sucht mir einen Stock, möglichst gerade«, befahl er den beiden Brüdern, die sofort in Richtung der alten Eiche losliefen.

Luzia hatte sich bereits dem Nächsten zugewandt. Es war der alte Mann mit den grünen Augen, der ihr schon mehrfach einen Flusskiesel zugesteckt hatte. Sie hängte ihm einen gut gefüllten Beutel um den Hals.

»Ihr habt sogar eine Tasche mit Schlaufen gebracht! Gott segne Euch.«

»Sonst könntet Ihr die Sachen ja nicht mitnehmen«, erwiderte Luzia und legte dem Mann ohne Beine ihre Hand auf die magere Schulter.

»Habt Dank für die guten Gaben. Gott sei mit Euch.«

»Und mit Euch.«

Als Luzia die gefürchtete Stimme hörte, wollte sie sich aufrichten, doch eine knochige Hand drückte sie grob zu Boden und flüsterte: »All diese Almosen werden dir nichts nützen, denn du bist eine Hexe, und als solche wirst du in der Hölle brennen!« Grumpers Stimme ließ ihr das Blut gefrieren.

»Herr Kaplan, wieso beschimpft ihr unsere Hebamme? Sie ist ein guter Mensch und den Armen ein Engel«, wagte der alte Mann zu widersprechen.

»Schweig!«, zischte Grumper und versetzte dem Alten einen schnellen Tritt.

Luzia erstarrte. Sie sah sich nach Zeugen für Grumpers ungeheuerliches Verhalten um, doch außer ihr und einigen Bedürftigen hatte im Getümmel der durcheinanderrufenden und lachenden Menschen niemand etwas bemerkt. Entschlossen half sie dem Mann wieder auf die Beinstümpfe, als sie Grumpers grobe Hand abermals auf ihrem Arm spürte.

Sie fuhr herum. »Was fällt Euch ein! Untersteht Euch, nochmals mich oder einen dieser Leute anzufassen, sonst werde ich schreien!« Sie wusste nicht, woher sie diesen Mut nahm, aber gleich darauf lähmten sie Grumpers Worte.

»Schrei nur, und ich bezichtige deine Krüppel schon morgen des Kirchenraubs, dann kannst du bald zusehen, wie sie der Henker aufknüpft.« Er trat einen Schritt auf Luzia zu. »Andererseits, was würde wohl geschehen, wenn sie bei dir etwas aus der Kirche finden würden?«

Grumpers Speicheltröpfchen brannten auf ihren Lippen, und kalte Augen bohrten sich in ihr Herz.