Obwohl die Aufräumarbeiten längst in vollem Gange waren, wirkte die Stadt am Tag nach dem großen Unwetter wie aus einer unbekannten Welt. Menschen und Tiere standen noch immer unter Schock und konnten nicht glauben, was sich vor ihren Augen abgespielt hatte. Während die allermeisten Ravensburger stumpf und schweigend vor sich hin arbeiteten, um die Straßen und Gassen vor ihren Häusern wieder halbwegs passierbar zu machen, brüllten die Kühe und Ochsen in den Ställen, als wäre ihr Leben immer noch in Gefahr. Überall bellten die Hunde, als habe ihr letztes Stündlein geschlagen. Während des Hagelsturms hatte man ihr ängstliches Kläffen nicht gehört, doch seitdem wieder Ruhe eingekehrt war, bellten sie ununterbrochen. Sie fürchteten ein neuerliches Unwetter. Die Stimmen der Tiere hallten wie ein Wehklagen durch die Stadt und schließlich zum Himmel hinauf. Angesichts der schaurigen Laute bekreuzigten sich die Leute, ehe sie ihre Arbeit wiederaufnahmen.
Das ganze Ausmaß des Hagelunwetters zeigte sich erst nach und nach. Das grauenhafte Gesicht der Verwüstung wurde mit jeder Stunde deutlicher.
Bürgermeister Ettenhofer hatte ein paar Reiter ausgesandt, um wenigstens annähernd erfassen zu können, was der Hagelsturm außerhalb der Stadtmauern angerichtet hatte. Als sie verstört und voller Entsetzen zurückkamen, war klar, Wiesen und Äcker glichen auf der Gemarkung Ravensburg und in weiten Teilen der Umgebung dem gepflügten Erdboden der Wintermonate.
»Sämtliche Dinkelfelder sind nicht wiederzuerkennen. Die meisten Obstbäume sind dem Sturm zum Opfer gefallen. Viele alte Bäume sind entwurzelt, andere liegen umgeknickt im Morast, als wären es Kienspäne gewesen«, berichtete der jüngere der beiden Reiter atemlos.
Ettenhofer wurde mit jedem Wort der beiden Männer blasser und stiller. Ihm war durchaus klar gewesen, dass es so etwas wie den Sturm des vergangenen Abends nicht alle Tage gab, aber mit diesen Ausmaßen hatte er nicht gerechnet.
»In der kleinen Kapelle vor den Stadttoren steht das Wasser mindestens kniehoch«, jammerte der ältere der beiden Ratsknechte. »Und der Marienstatue, die auf dem Altar stand, hat es sogar den Kopf zertrümmert.«
Ettenhofer schloss die Augen und zwickte sich in die Nasenwurzel. Seine Kopfschmerzen brachten ihn fast um.
»Die uralte Pappel, die seit Menschengedenken neben dem heiligen Schrein steht, wurde grausam verstümmelt. Der Sturm hat den Stamm um die Hälfte gefällt und von den Seitentrieben stehen lediglich noch zwei. Aus der Ferne wirkt der Baum wie ein Kreuz. Theodor und ich glaubten sogar, einen Menschen daran hängen zu sehen.«
»Ich schwöre beim Leben meiner Alten, so etwas Unheimliches habe ich noch nie gesehen«, versicherte der andere Ratsknecht, der Theodor hieß, hastig und raufte sich seinen kurzen Bart.
»Erst als wir näher kamen, sahen wir, dass es nur eine Vogelscheuche war, die in den Ästen der Pappel hing. Aber selbst der Strohmann wirkte wie der Gekreuzigte selbst«, murmelte der andere, dabei legte er in einer frommen Geste die Hand auf sein Herz. »Der Sturm hat den Strohmann ans Kreuz gehängt. Es war ein Zeichen oder eine Warnung. In jedem Fall aber schaurig anzusehen.«
Die Boten berichteten von weiteren Schrecklichkeiten, die sie gesehen hatten. Abgedeckte Dächer, totes Vieh auf den Weiden, hilflos herumirrende Menschen. Dabei bekreuzigten sie sich mehrmals und wirkten immer noch völlig konfus.
»Glaubt mir, die Gegend sieht aus, als würde sie selbst in drei Jahren keine Ernte hervorbringen. Wir alle werden hungern müssen, und die Leute reden bereits vom Wettermachen«, erklärte Theodor mit ängstlicher Miene und zog den Umhang fester um den Leib.
»Bei Gott, Ihr könnt gehen, und Dank für Eure ausführliche Berichterstattung«, entließ sie Ettenhofer. Er blieb allein im kleinen Ratssaal zurück und ging neben den Fenstern auf und ab.
Bereits seit der vergangenen Nacht stand Johannes von der Wehr im Operationssaal des Antoniterspitals. Dorthin hatte man nach und nach all die Verletzten und Verwundeten des Handelszuges gebracht. Die Spitze des Kaufmannszugs hatte die Stadt gleich nach dem Hagelwetter erreicht. Erst viele Stunden später hatte sich geklärt, dass er mindestens zweihundert Menschen umfasste, die nach und nach eingetroffen waren. Wie es hieß, war er aus dem spanischen Saragossa gekommen. Kurz vor den rettenden Toren der Stadt, zwischen Markdorf und Ravensburg, war er Opfer eines Überfalls geworden. Die Reisenden hatten sich gerade halbwegs wieder gesammelt, die Verletzten eingesammelt und die Schäden begutachtet, als der Sturm über sie hereingebrochen war.
Während die Ravensburger überall in den Gassen noch die umgestürzten Bäume mühsam zersägten und abtransportierten, Berge von Unrat und Schlamm beseitigten, um ein Mindestmaß an Leben wieder möglich zu machen, kämpfte der Medicus im Antoniterspital in der Herrenstraße zusammen mit den Brüdern des Ordens um das Überleben der Männer und Frauen.
Zweihundert Menschen, allesamt am Ende ihrer Kräfte, ohne Waren, ohne Geld hofften auf Versorgung ihrer Wunden, auf Trost und gute Worte.
Den Anfang eines Handelszugs machten die Fahnenschwinger, Pfeifer und Trommler, die den Transportzug zur Abschreckung von Wegelagerern und anderem Gesindel begleiteten. Ihnen folgte das Geleit, welches dem Schutz der Handelsherren, ihrer Waren und dem Geld diente. Es setzte sich aus Spießgesellen, Reitknechten und Söldnern zusammen. Dann kamen die schweren, vierspännigen Planwagen, welche von Fuhrknechten gelenkt wurden und die Waren aus aller Welt transportierten. Ihnen rückten die prächtigen Reisewagen nach, in denen es den Handelsherren möglich war, einigermaßen bequem zu fahren. Dann folgten das Fußvolk, bestehend aus Knechten, welche mit Waren beladene Pferde und Maultiere führten, und Versorgungswagen, die nicht nur in kürzester Zeit eine Feldküche einrichten konnten, sondern auch Planen und Zelte für einen Unterstand mit sich führten. Gefolgt von einigen Soldaten aus dem Geleit bildeten die Trosshuren den Schluss des Handelszuges.
Alle Gruppen hatten Verluste zu beklagen, einzig die Insassen der Reisewagen waren allesamt unverletzt geblieben.
Zu den Verletzten des Handelszugs kamen noch unzählige Verwundete aus der Stadt und den umliegenden Dörfern hinzu, die von dem Unwetter betroffen waren.
Gut fünf Dutzend Verwundete harrten bereits auf Strohsäcken aus. Doch der Strom der Verletzten riss nicht ab. Selbst auf Schubkarren oder Ochsengespannen wurden die teils schwerverletzten Männer herbeigefahren. Irgendwann wurden selbst die strohgefüllten Säcke knapp, nicht zu reden von den Decken, die Johannes von der Wehr herbeigeordert hatte, um die Verwundeten vor Unterkühlung zu bewahren. Einige besonders arme Teufel hatten die Helfer einfach vor das große Gebäude in den Matsch gelegt. Viele der Männer hatten längst das Bewusstsein verloren, andere warteten, teils unter qualvollen Schmerzen, bis Johannes oder ein Bruder des Antoniterordens Zeit fand, sich ihrer anzunehmen.
Unter der Anleitung des jungen Medicus hatten Bruder Walko, Bruder Edmund und Bruder Anselm bereits viele Verletzte versorgt. Am schlimmsten hatte es die Opfer des Überfalls getroffen: eingeschlagene Schädel, schwere Stich- und Hiebverletzungen. Hier waren besonders viele Amputationen nötig gewesen. Dazu kamen Verletzungen durch herabstürzende Äste oder einstürzende Gebäude während des Hagelsturms. Viele Wunden hatten sich entzündet. Johannes und seine Helfer versorgten die Kranken pausenlos, doch es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass sie dringend weiterer Hilfe bedurften. An helfenden Händen mangelte es zwar nicht, aber die wenigsten von ihnen waren imstande, eine Blutung zu stillen oder eine Wunde zu nähen.
Im Erdgeschoss des Spitals befand sich ein Raum, den der Medicus als Operationssaal nutzte. Hier waren die Fensteröffnungen im Gegensatz zu vielen anderen Ravensburger Gebäuden, die noch mit Schweinsblasen verschlossen waren, bereits verglast. Zusammen mit den weiß gekalkten Wänden machte das den Raum sehr hell und erleichterte ihm die Arbeit. Direkt unter eines der Fenster hatte Johannes eine schmale Untersuchungsliege stellen lassen, daneben mehrere kleine Tische. Für gewöhnlich liebte der junge Arzt ein aufgeräumtes Arbeitszimmer, jetzt aber lagen lange silberne Sonden, gebogene Messer und Skalpelle in einem unüberschaubaren Durcheinander herum. Auf einem der Tische lag die blutige Knochensäge zwischen der Dose mit Katzendarm, dem Glas mit Seidenfäden und den chirurgischen Nadeln. Ein kleines Regal beherbergte Unmengen gerollter Scharpie und hohe Stapel Leinenstreifen, die zum Wundauflegen und als Verband gebraucht wurden. Daneben standen Gläser mit dunkelbrauner Bilsenkrauttinktur und dem Schlafmittel aus destillierter Mandragora. Die Flüssigkeit war von einem hellen Grün und schillerte geheimnisvoll. Johannes warf einen besorgten Blick auf die Medizin. Es waren seine beiden letzten Gläser, dann waren alle Vorräte aufgebraucht. Aber es gab noch so viele Patienten zu versorgen. Gerade wurde wieder ein Ochsenkarren angekündigt, der neue Verletzte brachte.
Auf dem Boden hinter der Untersuchungsliege stand seine geräumige Tasche. Johannes fing zum wiederholten Mal Bruder Anselms neugierigen Blick auf. In dem braunen Lederkoffer warteten Dinge, die der Medicus lieber nicht offen zur Schau stellen wollte. Aber wenn das Betäubungsmittel zur Neige gehen sollte …
Von der Wehr stand neben der Untersuchungsliege, seine Füße steckten in hohen ledernen Stiefeln, die mittlerweile staubig und matt waren. Seine schwarze Hose und das weiße Hemd, dessen Ärmel er bis weit über die Ellenbogen zurückgerollt hatte, zeigten überall große Blutflecke. Wams und Talar hingen bereits in der Ecke, ihrer hatte sich der Arzt gleich zu Beginn entledigt. Selbst sein dunkelblondes Haar zeigte einige dunkelrote bis rostbraune Strähnen.
»Reicht mir die Scharpie«, wies er Bruder Edmund an. Der junge Antoniterbruder zählte gerade achtzehn Sommer. Sein Haar trug er kurz, aber ohne Tonsur. Auch Edmunds graue Kutte zeigte viele blutige Stellen. Obwohl er der jüngste unter den Laienbrüdern war, schätzte der Medicus seine Fähigkeiten sehr. Johannes nahm ihm das Verbandmaterial ab und legte es auf die Wunde des Verletzten. »Ihr könnt ihn wegtragen«, wies er zwei Männer an, die nahe der Tür warteten, »und richtet Bruder Walko aus, er soll das Leinen mit Wein tränken, ehe er es um die Brust des Verletzten legt.«
Die Helfer aus der Stadt nickten und trugen den schlafenden Mann an Beinen und Armen davon.
»Der Nächste. Wir bringen den Nächsten!«, riefen zwei ältere Ravensburger.
Johannes stand mit dem Rücken gegen die blutbefleckte Wand gelehnt und schöpfte Atem. Selbst wenn sie alle ohne Pause weiterarbeiteten, würde es ihnen nicht gelingen, bis zum Abend alle Leiden zu lindern. Seine besondere Sorge galt den beiden Frauen. Sie gehörten den Trosshuren an und hatten durch die brutale Vergewaltigung der Wegelagerer schwerste Verletzungen erlitten.
»Wir brauchen die Hilfe einer erfahrenen Hebamme, sonst werden die Frauen sterben«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Bruder Edmund, bevor er sich dem nächsten Patienten zuwandte. »Jungfer Gassner kennt sich mit Verletzungen dieser Art aus. Zudem kann sie ihre Heilkräuter und Tinkturen mitbringen.«
Der Klosterbruder nickte zustimmend.
»Soll ich der Hebamme ein paar Zeilen schreiben?«, schlug er hilfsbereit vor.
»Das ist nett von Euch, aber das möchte ich lieber selbst tun«, erwiderte von der Wehr und beugte sich über den nächsten jungen Mann, der bereits halb nackt vor ihnen auf der Liege lag. »Was erkennt Ihr, Bruder Edmund?«
»Sein Arm steht in einem sehr ungewöhnlichen Winkel zum Körper. Darüber hinaus leidet der Patient wohl unter starken Schmerzen«, zählte der junge Mönch auf. Dabei klang seine Stimme weich und voller Mitgefühl.
»Ganz recht. Hier haben wir eine Luxation des Schultergelenks. Eine Verrenkung«, fügte er hinzu, als er den fragenden Blick sah. »Die Schulterpfanne ist gegenüber dem Gelenkkopf sehr klein, weshalb es bei Kämpfen relativ häufig zu dieser äußerst schmerzhaften Verletzung kommt.« Eigentlich fehlte ihm die Zeit für eine Lehrstunde, doch Bruder Edmunds Fragen nahmen kein Ende und sein Interesse war groß und ernsthaft, sodass der Medicus dazu übergegangen war, jedem Leiden ein paar Worte anzumerken. Mit einer entschlossenen Bewegung zog er den Arm in einem genau berechneten Winkel aus dem Gelenk und renkte ihn so wieder ein. Der Patient schrie vor Schmerz auf, dann entspannte er sich.
»Langsam, Bruder Walko!«, mahnte er den anderen jungen Mönch, der vor einer zweiten Krankenliege stand und das Messer für eine Beinamputation ansetzen wollte. Angesichts der Dringlichkeit waren sie übereingekommen, dass Bruder Walko und Bruder Anselm einfachere Amputationen vornehmen durften, bei denen das Glied nicht völlig zerfetzt war. Die beiden Mönche hatten schon mehrfach zugesehen und gingen dem Medicus auch zur Hand, wenn er mehrmals in der Woche ein vom Antoniusfeuer befallenes Glied entfernte.
»Ihr müsst darauf achten, die Haut für den Beinstumpf großzügig zu bemessen. Tut Ihr das nicht, heilt die Wunde schlecht und der Patient wird immer unter Schmerzen leiden«, sagte von der Wehr zu Bruder Walko.
Der hagere Laienbruder des Antoniterordens nickte und hob das Messer wieder an, konnte sich aber nicht entschließen, es anzusetzen.
»Sollen wir die Operation noch ein letztes Mal gemeinsam durchführen?«, fragte Johannes, der die Unsicherheit des Mönchs deutlich spürte.
Bruder Walko nickte dankbar und legte das Messer mit einem tiefen Seufzen zurück auf den kleinen Holztisch.
Während er von der Wehr heute schon bei der dritten Beinamputation assistierte, wiederholte er in Gedanken nochmals jeden einzelnen Schritt. Die nächste Amputation würde er in jedem Fall selbst vornehmen müssen, und bei diesem Gedanken wurde ihm bereits jetzt übel. Er sah sich lieber in der Krankenpflege als im Entfernen zerhauener Glieder. Aber auch er genoss wie Bruder Edmund die Zusammenarbeit mit dem jungen Arzt. Walko schätzte den Medicus sehr und wurde nicht müde, ihm über die Schulter zu sehen. Jetzt kam allerdings der Augenblick, bei dem er lieber selbst auf der Liege gelegen hätte. Der Arzt begann, mit einer Knochensäge den massigen Oberschenkelknochen zu durchtrennen. Allein das schreckliche Geräusch erzeugte bei ihm eine Gänsehaut. Er wollte sich lieber die vorangegangenen Handgriffe einprägen, als sich auf das scharfe Reißen des Sägeblatts zu konzentrieren. In Gedanken wiederholte der junge Mönch: Wenn der Patient entweder ausreichend Branntwein getrunken oder die grüne Mandragoramischung zu sich genommen hatte, konnte man beginnen. Nach dem Anlegen einer Aderpresse mittels eines breiten Lederriemens vergewisserte sich der Doktor abermals, dass der Patient auch wirklich schlief. Zuerst durchtrennte er dann eine Handbreit unter der Amputationsstelle die Haut und das darunterliegende Gewebe der roten Muskeln. Nun folgte eben dieser Handgriff, den Walko am meisten fürchtete …
»Rasch, die Scharpie, sonst verblutet unser junger Freund. Und das wollen wir doch beide nicht!«
Schnell drückte Bruder Walko einen großen Bausch des gezupften Leinengewebes auf den blutenden Stumpf und schluckte.
»Und nun kommt das Wichtigste! Haltet die ausreichend groß bemessenen Hautstücke zusammen und fixiert sie mit einigen Klammern«, erklärte der Medicus und zog die dicke Haut zusammen. »Inzwischen fädelt Ihr bitte den Katzendarm in die Nadel und beginnt die Wundränder Schicht für Schicht von innen heraus zu verschließen. Mit dem Rest kennt Ihr Euch besser aus, als ich es je tun werde«, sagte er, nickte dem jungen Mönch aufmunternd zu und eilte zu einem Eimer mit frischem Wasser.
Während des Studiums hatten die arabischen Ärzte darauf geachtet, dass sich die Studenten ihre Hände wuschen. So hielt er es auch hier und ermahnte seine Helfer, es ebenso zu machen.
Ohne sich eine Pause zu gönnen, hetzte er zu seinem nächsten Patienten. Ein älterer Mann lag auf dem Strohsack zu seinen Füßen und wand sich unter großen Schmerzen.
»Seid Ihr der Medicus?«, krächzte der Mann mit dem groben Gesicht.
Von der Wehr nickte und kniete zu seiner Rechten.
»Bitte helft mir«, flehte der grauhaarige Söldner mit belegter Stimme.
Der Medicus nickte und platzierte seine Hand oberhalb der klaffenden Wunde im Bereich des Schlüsselbeins.
»Ein Pfeil hat mich erwischt. Der Dreckskerl von einem Banditen hat mich geradewegs durchlöchert«, schimpfte der Verletzte mit zusammengebissenen Zähnen.
»Dann hat das Geschoss Euren Körper wieder verlassen?«, fragte der Medicus erstaunt. In der Regel blieben Pfeile im Gewebe stecken. Oft wurde der herausragende Teil später durch die Hand eines Kollegen abgebrochen, was zu schwersten inneren Blutungen führte.
»So wahr ich hier liege, Doktor! Das vermaledeite Ding hat mich nicht aufgespießt, wie es bei Karl dem Stotterer der Fall ist«, erwiderte der Söldner schwach und deutete auf den Kameraden neben sich. Der Medicus nickte und zog vorsichtig die Wundränder der Verletzung auseinander, um sich die tiefe Wunde genauer anzusehen. Das war nicht so einfach, denn dickes Blut quoll aus der Wunde, und der Mann stöhnte laut auf.
»Helft mir, den tapferen Kerl hier auf den Tisch im großen Saal zu bringen«, sagte der Medicus zu einem vorbeieilenden Mann, den er nicht kannte.
Johannes strich sich mit beiden Händen die losen Strähnen seines Haars zurück und seufzte: »Bruder Anselm, seid so gut und bringt mir eine weitere Lichtquelle! Bei diesem Licht kann ich beim besten Willen nichts erkennen.«
Bruder Anselm, der dritte der Mönche, die ihm zur Hand gingen, war ein älterer, kleiner Mann mit grauer Tonsur und und geröteten Wangen. Eilfertig rannte er los und brachte eine flackernde Öllampe mit.
»Ich danke Euch, und wenn Ihr schon hier seid, könnt Ihr mir auch gleich berichten, wie es um den jungen Reitknecht bestellt ist, dem wir gleich zu Anfang den Arm nehmen mussten.«
Bruder Anselm senkte den Kopf und antworte schleppend, als würde er es selbst nicht glauben: »Er ist schon vor einer Stunde verstorben. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.«
Der Medicus nickte. »Und wie geht es dem Älteren der beiden Spießknechte, dem mit der tiefen Kopfverletzung?« Eigentlich kannte er die Antwort bereits.
Bruder Anselm trat von einem Bein auf das andere. »Auch um ihn müssen wir trauern«, sagte er geknickt und bekreuzigte sich.
Von der Wehr presste die Kiefer aufeinander und nickte schwach. »Ihr habt Euer Bestes gegeben, es ist nicht Eure Schuld«, versuchte er den Ordensbruder aufzurichten.
»Da habt Ihr völlig recht!«, begann der Mönch in einer Heftigkeit, die ihm der Medicus niemals zugetraut hätte. »Nichts geht mehr mit rechten Dingen zu. Weder das Unwetter noch der Überfall waren in meinen Augen Zufall. Bei meiner Seele, einen solchen Hagelsturm habe ich meiner Lebtage nicht gesehen! Ich sage Euch, es ist etwas Gefährliches, etwas sehr Böses unter uns. Geht hinaus und Ihr werdet es riechen. Auf der anderen Seite des Sees erzählt man sich von einem teuflischen Weib, das für die ganze Misere verantwortlich sein soll. Die Unholdin soll mit einem Wetterzauber die sintflutartigen Regenfälle der letzten Zeit herbeigerufen haben!« Anselm steigerte sich immer weiter in eines seiner liebsten Gespräche.
»Lasst uns ein andermal darüber sprechen, im Moment wird meine Aufmerksamkeit hier benötigt«, beendete der Medicus die Unterhaltung, welche in seinen Augen völlig sinnlos war. Auch er hatte bereits davon gehört, aber sein Verstand weigerte sich, einen derartigen Unsinn zu glauben.
Er beugte sich über das verletzte Schlüsselbein des Söldners. Als er die Wunde von Neuem untersuchte, fiel ihm auf, dass der Pfeil nur um Haaresbreite die Arteria subclavia, das unter dem Schlüsselbein verlaufende Gefäß, verfehlt hatte. »Da hattet Ihr aber Glück im Unglück«, erklärte er dem Patienten und nickte ihm zu.
»Die Arteria subclavia entspringt der Hauptschlagader und ist für die Blutversorgung des gesamten Armes zuständig. Weitere Gefäße zur Durchblutung des Kopfes und des Halsbereichs zweigen von ihr ab«, hörte von der Wehr die Stimmen seiner Lehrer, die sich auch auf die Lehren des Guy de Chauliac bezogen, der mit seiner Chirurgia Magna ein Monument seiner Zeit geschaffen hatte. De Chauliac hatte die Pest überlebt und empfahl bereits im Jahr 1363 die Mandragora zur Schmerzstillung bei chirurgischen Eingriffen.
Nachdem von der Wehr die tiefe Wunde genäht hatte, ordnete er einen dicken, weingetränkten Verband an. Die Naht selbst bestrich er mit einer Mischung aus Honig und Arnika.
Für die Länge eines Atemzugs schloss er die Augen. Sie brannten, als habe er sie mit Seife behandelt. Er hob die Schultern. Es wunderte ihn nicht, schließlich war er seit vielen Stunden auf den Beinen. Nicht einen Schluck Wasser hatte er zu sich genommen, dafür klebte ihm jetzt die Zunge wie ein trockener Schwamm am Gaumen und machte das Schlucken schwer.
Die Tür schwang auf, und Friko Hofmeister stand betroffen und bleich wie ein Leichentuch im Erdgeschoss des Spitals. Hofmeister stand dem Neunerausschuss der Ravensburger Handelsgesellschaft vor, der ein Teil des aus Saragossa kommenden Handelszugs gehörte.
»Wo ist der Doktor?«, wollte er wissen.
Bruder Anselm verwies ihn in die hinteren Räume, wo der Medicus gerade dabei war, eine klaffende Kopfwunde zu nähen.
Hofmeister, der aus dem Geschlecht der großen Ravensburger Kaufmannsfamilie stammte, wusste, wie gefährlich die wochenlangen Gütertransporte waren. Die Hofmeisters hatten zusammen mit der Familie Salzmann aus Konstanz und der in Buchhorn ansässigen Kaufmannsfamilie Zainer bereits im Jahre des Herrn 1380 die Ravensburger Fernhandelsgesellschaft gegründet. Friko fühlte sich seinen Leuten verpflichtet und wollte sich wenigstens nach ihrem Befinden erkundigen. Das verlangte schon seine Stellung in der Stadt. Freilich hatte auch ihn die Erinnerung an das verheerende Unwetter noch im Griff, aber das musste jetzt warten. Zuerst wollte er wissen, ob seine besten Leute mit dem Leben davongekommen waren. Andernfalls sah er bereits die nächsten Schwierigkeiten auf die Gesellschaft zukommen.
Als er sich im Eingangsbereich umsah, wusste er, dass seine Hoffnungen vergebens gewesen waren. Dort lagen einige seiner Männer, für die jede Hilfe zu spät gekommen war. Gute Männer, treue Spießknechte, die für den sicheren Transport der Waren aus aller Herren Länder ihr Leben riskiert hatten, lagen tot auf dem blutgetränkten Stroh. Ihnen war es nicht einmal vergönnt gewesen, ihre Sünden zu bekennen. Womöglich schmorten sie in diesem Augenblick bereits in der Hölle! Bei diesem Gedanken fröstelte der dicke Mann. Schnell schlug er das Kreuzzeichen. Er würde den Kaplan bitten, im Spital eine Messe zu lesen. Gleich nachher wollte er ihn aufsuchen. Dieser Gedanke beruhigte Hofmeister ein wenig, er atmete mit einem tiefen Seufzer aus und ging weiter an der Reihe der toten Männer vorbei. Einige der Verstorbenen kamen ihm bekannt vor, viele hatte er mit Namen gekannt.
»Maucher, Ihr Teufelsbraten!« Hofmeister reichte einem Vorübereilenden die Hand. »Wenigstens seid Ihr den Banditen entkommen, und wie ich sehe, ist auch noch alles dran!«, bedeutete er einem seiner festangestellten Söldner.
»Zumindest fehlen mir weder Arme noch Beine.«
»Bei Gott, da hattet Ihr mehr Glück als viele Eurer Kameraden.«
Als Friko Hofmeister den großen Operationssaal betrat, würgte ihn heftige Übelkeit. Schlimmer noch als der Gestank nach menschlichen Ausscheidungen ekelte ihn der Anblick eines Weidenkorbs von der Größe eines Wagenrades, der in der Ecke stand. Aus ihm ragten abgetrennte Arme und Beine, und um das Weidengeflecht hatte sich bereits eine große dunkelrote Blutlache gebildet. Der Kaufmann schluckte mühsam und schloss einen Moment die Augen. Dann atmete er ein paar Mal tief ein, zog seinen Umhang fest um den Leib und ging auf den jungen Arzt zu.
»Gott zum Gruße, Herr Medicus, wie ich sehe, leistet Ihr hier Großartiges!«
Johannes hob den Kopf und sah den älteren Kaufmann aus ruhigen, grauen Augen an. »Wir alle tun unser Bestes, dennoch sieht es nicht gut aus. Die Wegelagerer haben wirklich ganze Arbeit geleistet.«
Hofmeister nickte und fuhr sich mit beiden Händen durch sein schütteres, graues Haar und den kurz gestutzten Bart. Während er sich zwang, eisern durch den Mund zu atmen, dachte er unentwegt an den Korb in der Ecke.
»Die Brüder und ich mussten bereits Wunden versorgen, dass es nach einem Kampf auf dem Schlachtfeld nicht hätte schlimmer sein können. Einige Eurer Männer sind gestorben, ehe ich überhaupt nach ihnen sehen konnte«, sagte von der Wehr leise und rieb sich die Schweißperlen von der Stirn. »Viele von ihnen haben unmäßig viel Blut verloren. Ob sie überleben werden, ist mehr als fraglich. Uns fehlen ausgebildete Helfer. Wo treibt sich eigentlich Sauerwein herum?«
Hofmeister räusperte sich. »Nun, die Helfer haben einen Teil der Verwundeten ins Heiliggeistspital gebracht, und die lässt Sauerwein jetzt zur Ader. Er weigert sich, die zermalmten Glieder abzuschneiden. Lieber lässt er den ganzen Kerl verrecken!«, schimpfte er plötzlich wütend.
»Er hat nie gelernt, wie man ein Glied opfert, damit der Mensch weiterleben kann«, erklärte von der Wehr mit einem milden Lächeln.
»Weil Ihr während des Vollmondes ins Gewebe schneidet, schimpft Euch Sauerwein einen elenden Mörder. Er selbst weigert sich, ein Messer auch nur in die Hand zu nehmen.«
»Dann öffnet er die Adern der Männer wohl mit seinen Zähnen«, stellte von der Wehr sarkastisch fest. Er hatte Sauerwein noch nie sonderlich gemocht, und dass der alte Medicus außer den Aderlässen, die er selbst bei einer Leiche noch anwandte, nichts vorzuweisen hatte, wusste Johannes, aber was er sich jetzt leistete, war einfach zu viel. Dieser alte Quacksalber …
»Er hält bereits nach einem fahrenden Baderchirurgen Ausschau, der die Drecksarbeit übernehmen könnte, aber ich fürchte, bis dahin sind jene, die bisher noch kriechen können, längst tot.«
»Da liegt Ihr wohl richtig. Wenn Ihr noch ein paar Eurer Männer retten wollt, veranlasst, dass sie hergebracht werden.«
»Ihr meint …? Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wann soll ich …?«
»Sofort!«, fiel ihm Johannes ins Wort. »Andernfalls braucht Ihr Euch die Mühe nicht mehr zu machen.«
Hofmeister machte auf dem Absatz kehrt und eilte zur Tür.
»Außerdem wäre eine Versorgung der weniger schwer Verletzten mit einem Teller Suppe nicht zu verachten, und Wein, lasst bitte ein Fass Wein bringen. Die Männer mussten schon genug leiden, aber Verdursten sollen sie nicht auch noch«, rief Johannes ihm nach.
Der wohlbeleibte Kaufmann drehte sich nicht um, nickte aber. Während er sich auf den Weg machte, um den Wünschen des Arztes nachzukommen, grübelte er über seine Lage nach. Es würde Jahre dauern, ehe er seine Mannschaft wieder so beieinander hätte. Schließlich fingen die Burschen als Lehrlinge bei ihm im Kontor in der Marktstraße an. Erst nach und nach stellte sich heraus, ob einer als Wagenbegleiter taugte. Dafür waren Mut und gute Nerven unerlässlich. Erst dann konnte er den jungen Mann als Kurier und vielleicht sogar als Einkäufer einem Handelszug mitgeben. Herrgott noch mal! Das Glück schien ihm wie Sand durch die Finger zu rieseln, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Erst der Überfall, und dazu noch dieses verdammte Unwetter. Hofmeister war sich sicher, wäre nicht auch noch das Hagelunwetter dazugekommen, sähe es bedeutend besser aus. Der Sturm hatte die Versorgung der Verletzten verzögert. Während der Hagel über das Land gefegt war, blieb einem Großteil seiner Kaufmänner und Begleiter nur, den Schutz des Waldes zu suchen, und danach waren die meisten Wege unpassierbar. Jetzt bestand sein Verlust nicht nur aus geraubten und verdorbenen Waren, jetzt fehlte ihm auch eine vertrauenswürdige Gruppe, welche er zu seinen Außenlagern in Spanien oder Frankreich schicken konnte, um die verlorenen Waren zu ersetzen. Wenn er an den unvorstellbaren Verlust dachte, den er erlitten hatte, wurde ihm ganz anders.
In den hohen und weitläufigen Räumen des Spitals herrschte ein Lärm wie auf dem Schlachtfeld. Einige Männer schrien sich fast die Seele aus dem Leib, manche, vor allem die jüngeren, weinten vor Schmerz und Verzweiflung. Die Luft war getränkt von den Ausdünstungen ungewaschener Leiber und hing wie eine Dunstglocke aus Urin und Erbrochenem in den mit dunklem Fachwerk durchzogenen und nur schwach erleuchteten Räumen. Obwohl die Türen und Fensterluken weit geöffnet waren, schien die Luft darin zu stehen. Während die leeren weißen Wände bereits überall vom Leid der Verletzten erzählten, färbte sich nun selbst der helle Boden aus groben Lärchenbrettern rot.
Johannes von der Wehr tauchte seine Hände in den Eimer mit frischem Wasser. Er wusste nicht mehr, wie oft er das an diesem Tag schon getan hatte. Vor Erschöpfung und Durst verschwammen ihm die Bilder vor den Augen. Er setzte sich an einen Tisch und ließ sich einen Krug Wasser, Papier und Feder bringen.
Mit zitternden Händen begann Luzia, das graue Papier zu entrollen. Briefe bedeuteten selten etwas Gutes. Weil sie nicht Herrin ihrer Aufregung wurde, fiel es ihr bereits zum zweiten Mal aus der Hand. Es stammte ganz eindeutig aus den Papiermühlen der Stadt und war mit schwarzer Tinte in eleganten Buchstaben beschrieben. Als sie sah, dass das Schreiben von Johannes von der Wehr kam, schluchzte sie vor Erleichterung auf. Sie hatte ihn seit dem Vorabend, als er sie vor dem Hagel beschützt hatte und sie ihm so nahe gewesen war, nicht mehr gesehen. Sie ahnte, dass er im Spital alle Hände voll zu tun hatte.
Hastig las sie, was er schrieb.
Werte Jungfer Gassner,
bitte verzeiht, dass ich nicht selbst komme. Ich hoffe, Ihr konntet den ersten Schock nach dem Unwetter hinter Euch lassen und es geht Euch den Umständen entsprechend gut.
Um wenigstens die größte Not zu lindern, arbeiten die Brüder des Antoniterordens und ich selbst im Spital. Bei der Versorgung der Verwundeten geben wir unser Möglichstes, dennoch reicht unsere Kraft nicht, um allen helfen zu können. Daneben befinden sich noch zwei Frauen unter den Verwundeten, ihnen wurde Gewalt angetan. Sicher wäre es weitaus angenehmer, wenn sich eine Frau ihrer Leiden annähme. Darüber hinaus wäre eine weitere helfende Hand sehr von Vorteil. Jungfer Luzia, bitte verzeiht, dass ich dabei an Euch dachte, aber darf ich Euch bitten, sofern es Eure Zeit zulässt, uns im Spital zu unterstützen? Ich wäre Euch zu ewigem Dank verpflichtet. Bitte kommt bald.
Meine Gedanken sind immer
bei Euch.
Euer Johannes von der Wehr.
Als sich Luzia wenig später durch die Straßen kämpfte, glaubte sie im Matsch zu versinken. Er stand immer noch knöchelhoch und schmatzte bei jedem ihrer Schritte. Sie kletterte über gesplitterte Holzbalken und haufenweise Steine hinweg, um in die Herrenstraße zu gelangen. Männer, Frauen, selbst kleinere Kinder waren immer noch dabei, die Wege durch die Stadt wieder befahrbar zu machen. Auf dem Rathausplatz stapelten ein paar Männer Geröll und Ziegelsteine. Die Wucht des Hagels hatte einen Teil des kleinen Gerichtserkers zerstört, von dem aus der Ammann den Stab als Symbol für das zu vollstreckende Todesurteil brach.
»Gott zum Gruße, Jungfer Gassner!«, sprach sie der Weber Alois an. Er half den Männern mit den Steinen. »Dann kommen also selbst nach so einem Unglück wieder Kinder auf die Welt.«
Luzia schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin auf dem Weg zum Antoniterspital. Dorthin haben sie gestern die Verwundeten des Handelszuges gebracht. Der Medicus schreibt, dass sie für jede Hilfe dankbar sind.«
»In dem Fall stimmt es, dass der Handelszug überfallen wurde?«
Luzia nickte.
»Ein schlechtes Zeichen. Zuerst kam dieses Wetter, das uns alle ins Unglück stürzen wird, und dann auch noch das! Stellt Euch nur vor, um wie viel die Preise nochmals steigen werden.«
Luzia nickte und bestätigte Alois’ Befürchtungen.
»Man munkelt ja bereits, das Wetter sei durch einen Zauber entstanden«, flüsterte Alois Weber vorsichtig, als wolle er keine schlafenden Hunde wecken.
»Wer behauptet denn so etwas?«, fragte Luzia erschrocken.
»Oh, die halbe Stadt spricht schon davon. Und Grete rennt seit der Frühmesse durch die Gassen und erzählt jedem, der es wissen will, Kaplan Grumper behaupte, das Hagelwetter sei das Werk einer Hexe gewesen. Heute Abend wird es eine weitere Messe geben, spätestens dann wird es die ganze Stadt wissen.«
Bei Alois Webers Worten lief es Luzia eiskalt den Rücken hinunter, und als sie hinauf zum Himmel sah, glaubte sie in den vorbeiziehenden Wolken eine grausige Fratze zu erkennen. Ihr war, als schlugen die Wellen eines kalten, grauen Wassers über ihrem Kopf zusammen und pressten sie auf den sumpfigen Grund.
Hastig verabschiedete sie sich und setzte ihren Weg fort. Als sie wenig später abermals in den Himmel sah, war er dunkelblau und ohne jede Wolke. Eine seltsame Ahnung überkam sie, doch dann schalt sie sich eine Närrin und schob die bedrückende Stimmung lediglich ihren überreizten Sinnen zu.
Jetzt ging es erst einmal darum, den Unglücklichen zu helfen. Luzias Gedanken weilten bereits im Antoniterspital und bei Johannes von der Wehr. Wir oft hatte er ihr vom besonderen Geschick der arabischen Ärzte erzählt. Insbesondere im Bereich der Chirurgie schienen die Männer aus dem Orient große Kenntnisse zu besitzen. Auch ihre Kunde von der Anatomie des menschlichen Körpers schien der abendländischen Medizin weit überlegen. Die arabischen Gelehrten hatten schon früh begonnen, den Körper von innen zu betrachten. Was in der okzidentalischen Medizin lange Zeit als Sünde betrachtet wurde und selbst heute nicht von jedem gern gesehen wurde.
Den Wunsch, Johannes von der Wehr einmal über die Schulter zu sehen, wenn seine chirurgischen Fähigkeiten zum Einsatz kamen, hegte Luzia schon lange. Wobei das nicht der alleinige Grund war, weshalb ihre Hände jetzt feucht und ihr Mund trocken wurden. Allein seine wachen, grauen Augen, die sie wie ein samtenes Tuch einhüllten und ihr das Gefühl gaben, einzigartig zu sein, ließen die Schmetterlinge in ihrem Bauch wieder tanzen …
In der Kirchstraße hatte der Sturm das gesamte Dach des roten Ochsen abgedeckt. Während der Ochsenwirt mit einigen Helfern nach unversehrten Ziegeln Ausschau hielt, warf er der rothaarigen Hebamme ein paar unfreundliche Blicke zu.
Während sie vorübereilte, ohne auf den Weg zu achten, kam ein Windstoß aus dem Nichts, er bauschte ihre Röcke und fuhr ihr mit stürmischen Fingern durchs Haar. Dem kahlköpfigen Ochsenwirt war, als leckten Flammen um den Kopf der jungen Wehmutter. Er hieb seinem Nachbarn in die Seite: »Das ist sie, die Hebamme, die Kaplan Grumper für das Hagelwetter verantwortlich macht«, flüsterte der dicke Ochsenwirt seinem Helfer zu.
»Woher weißt du das?«, fragte der andere erschrocken.
»Die Küferin hat es mir nach der Frühmesse erzählt. Sie weiß es von Grete Muntz, und die trägt lediglich die Worte des Kaplans weiter.«
»Glaubst du das etwa?«, wollte sein junger Nachbar mit der Hakennase und dem blonden Bart wissen.
»Wenn der Kaplan es sagt, wird schon was dran sein«, entgegnete der Wirt mit einem Schulterzucken. »Schließlich ist das Wetter aus dem Nichts gekommen, und so Gott mein Zeuge ist, ich habe noch nie etwas Ähnliches erlebt!«
»Beim Allmächtigen, das habe ich auch nicht«, erwiderte der Blonde und bekreuzigte sich in Erinnerung an das Wetter rasch.
»Siehst du, und irgendjemand muss ja schuld sein.«