25

Ohne auf den Weg zu achten, hastete Basilius um die neunte Stunde durch die morgendliche Kirchstraße. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, seinen Mantel überzuwerfen, und als er jetzt im Schatten der Liebfrauenkirche stehen blieb, um keuchend nach Luft zu ringen, vermisste er das schützende Kleidungsstück, denn es regnete leicht. Er stemmte die Hände in die Seiten und lief weiter, um in die Herrenstraße einzubiegen.

Dabei hätte er Grete Muntz bemerken können, die unter der Tür des Pfarrhauses stand. Sie presste ein »Gott zum Gruße!« zwischen den zusammengekniffenen Lippen hervor, wie es sich gehörte, und ärgerte sich, weil der Apotheker sie übersah. Doch ein Blick auf ihren kleinen Handkarren ließ sie das Ärgernis gleich wieder vergessen. Der Karren war mit geweihtem Salz und gesegneten Kerzen beladen. Beides verkaufte sich mittlerweile auch im Seelhaus ganz hervorragend. Die vorbeiziehenden Pilger ließen sich gern auf ein Gespräch mit ihr ein, und später befand sich beinahe in jedem Reisegepäck ein Leinensäckchen mit dem schützenden Salz. Nur die Pest erschwerte die Geschäfte. Die Menschen hatten Angst und reisten in diesen Zeiten nicht gern. Grete wandte sich nach links, während der Apotheker in die andere Richtung weitereilte.

Als er endlich das massive Eichenportal des mehrstöckigen Antoniterspitals erreichte, schlug ihm das Herz bis zum Halse. Um Atem ringend, trat er durch das Tor, wo er zuerst auf Bruder Anselm traf.

»Wo finde ich Doktor von der Wehr?«, fragte Basilius den grauhaarigen Antoniter, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte.

»Ihr könnt jetzt nicht zu ihm, er möchte unter keinen Umständen gestört werden!«, entgegnete der Mönch bissig.

»Ich habe nicht gefragt, was der Doktor möchte, sondern wo er sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufhält.«

»Ihr findet ihn im großen Saal, aber wie ich bereits sagte, möchte er nicht …«

Basilius maß dem blasierten Geschwätz Bruder Anselms keine weitere Bedeutung bei, sondern hastete den düsteren Flur entlang und klopfte an die breite Tür, die in den großen Saal führte. Ohne auf eine Antwort zu warten, betrat er den hellen Raum.

Johannes hob überrascht den Kopf. Er war im Begriff gewesen, Messer, chirurgische Nadeln und eine Rolle mit Katzendarm vor sich auf dem kleinen Tisch auszubreiten. Mit Basilius’ Besuch hatte er zu dieser Stunde nicht gerechnet.

»Jetzt haben wir Luzia endgültig verloren!«, flüsterte der alte Mann mit tränenerstickter Stimme. Er wirkte grau und alt, alle Kraft hatte ihn verlassen.

Johannes sah ihn verständnislos an.

»Ich habe es gerade erfahren. Sie soll alles gestanden haben, was die heilige Inquisition ihr vorwirft! Hier, lies selbst.«

Basilius machte den Eindruck eines gebrochenen Mannes, als er Johannes das Schreiben des Ammanns reichte.

Der überflog das offizielle Schriftstück. Wie betäubt schüttelte er den Kopf und las die Zeilen ein zweites Mal. Als er den Inhalt erfasst hatte, geriet er ins Taumeln. Seine Hände tasteten nach dem kleinen Hocker, der immer neben dem hochbeinigen Untersuchungstisch stand. Mit einem erschöpften Seufzen ließ er sich auf das knarrende Holz fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Was der Amman schrieb, konnte nur absoluter Irrsinn sein, und doch wusste er, dass es die Wahrheit war. Wie auch immer Kramer und sein Notar an dieses Geständnis gekommen waren, es spielte keine Rolle mehr! Die furchtbaren Erinnerungen vom Holzmarkt kamen ihm ungefragt in den Sinn. Das verzweifelte Weinen. All die Qual. Das Rasseln der Ketten im Feuer und die Schreie der beiden Frauen, die noch immer durch die ganze Stadt hallten. Der Wind trug ihre Stimmen durch die Gassen, und in jeder Regenpfütze glaubte Johannes dem Schein der Flammen zu begegnen.

Behutsam legte Basilius seine Hände auf den bebenden Rücken des Freundes. Für eine Weile überließ sich der Medicus ganz seinem Schmerz.

»Nein!«, schrie er dann und trat gegen das abgegriffene Holz der Untersuchungsliege. Als er den Kopf hob, wirkten seine Augen eiskalt.

»Wann?«

»Zu St. Dionys!«

»Dann bleibt uns nicht mehr viel Zeit!«, sagte Johannes und erhob sich. Ein entschlossenes Glitzern trat in seine Augen.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Basilius vorsichtig, während er Mühe hatte, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.

Johannes legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter. »Das lass meine Sorge sein. Ich muss jetzt gehen!«

Ehe sich Basilius versah, hatte Johannes den Saal bereits verlassen.

»Du willst doch nicht …«, rief ihm Basilius noch nach. Doch das hörte er schon nicht mehr.

 

»Warum verbrennen wir die Gassnerin nicht schon morgen?«

»Weil alles seinen rechten Gang gehen muss! Bedenkt, wir sind die päpstliche Inquisition und keine fahrenden Akrobaten, die ihr Schauspiel aufführen, wann immer ihnen danach ist.«

Heinrich Kramer war Grumpers Veränderung nicht entgangen. Seit dem letzten Tag der peinlichen Befragung machte Eusebius Grumper von Tag zu Tag einen erschöpfteren Eindruck. Seine Bewegungen wirkten zunehmend fahrig und seine Stimme hatte einen unangenehmen, schrillen Beiklang. Er sah aus, als habe er seit langem weder geschlafen noch gegessen. Fasziniert hörte der Inquisitor zu, wenn Grumper über die Gassnerin sprach, wobei seine Äußerungen zwischen mörderischem Hass und nackter Angst schwankten. Selbst ihm war noch niemals etwas Derartiges widerfahren. Fast beneidete er den Kaplan um die durchdringenden Erfahrungen, und er hatte beschlossen, sie allesamt in allen Einzelheiten in seinem Hexenhammer zu berücksichtigen.

»Hat Euch die Hexe gestern auf die Nacht wieder belästigt?«, fragte er und konnte seine Neugierde kaum bezähmen.

Grumper nickte, ehe er den Platz neben dem gemauerten Ofen in der Ecke seines Arbeitszimmers verließ und zum Fenster wanderte. Dabei rieb er sich unentwegt die Hände und hauchte zeitweilig hinein. Seit die Hexe diesen Fluch über ihn gesprochen hatte, fror er bei Tag und in der Nacht. Grete heizte zwar den Ofen und hatte ihm bereits sein wollenes Nachthemd herausgesucht, doch all das war nicht einmal der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.

»Letzte Nacht hat mich die Hexe in der Gestalt eines Raben heimgesucht. Die Nacht davor war es eine schwarze Katze. Sie wartet, bis ich mich zur Ruhe begeben habe, dann erscheint sie mir in ihrer ganzen, verfluchten Weiblichkeit. Nacht für Nacht locken mich ihre nackten Brüste wie die Äpfel vom Baum der Erkenntnis. Das rote Hexenhaar wallt ihr wie lebende Feuerschlangen um den Kopf, während mich ihre Augen jede Nacht ein wenig tiefer in die eisblauen Fluten reißen. Die ganze Nacht quält sie mich und erst mit dem Morgengrauen verschwindet sie in Gestalt eines Tieres.« Grumper hatte nicht bemerkt, dass seine Stimme stetig angeschwollen war.

Kramer hatte atemlos zugehört. »Beruhigt Euch und trinkt einen Schluck Wein. Die Hexe kann Euch nichts anhaben, jedenfalls nicht, solange Ihr geweihtes Salz mit Euch führt. Streut heute zur Nacht einen Ring aus Salz um Euer Bett. Die Hexe kann diesen Bannkreis nicht durchbrechen und Ihr bekommt wieder etwas Schlaf.«

»Was glaubt Ihr, was ich die letzten Nächte bereits getan habe? Dazu brennen von Sonnenuntergang bis zur Dämmerung am Morgen mehrere gesegnete Altarkerzen. Ich wasche mich nur noch mit geweihtem Wasser und schlafe mit einem Silberkreuz auf der Brust. Doch die Hexe sucht mich jede Nacht aufs Neue heim. Mittlerweile ist es mir, als rieche ich sie überall.« Grumper hob den Kopf und witterte. »Riecht Ihr es nicht? Nicht nur Kleidung und Bettstatt sind durchtränkt von ihrer hitzigen Schwüle, selbst auf der kleinen Kniebank vor meinem privaten Altar in der Schlafkammer finde ich keine Ruhe mehr. Nicht einmal in der Kirche bleibt sie mir fern. Wenn das so weitergeht, treibt mich diese Hexe in den Wahnsinn! Bei Gott, ich hätte gut daran getan, sie als Kind zu töten. Ich habe schon immer gewusst, dass von dieser roten Schlange eine besondere Gefahr ausgeht.«

Kramer nickte.

»Betet zum heiligen Michael und übt Euch noch drei Tage in Geduld, dann erfährt ihre schwarze Seele durch die reinigenden Flammen Läuterung, und Ihr seid wieder ein freier Mann.«

 

Luzia lag in der Dunkelheit ihres Verlieses und kämpfte gegen die Verzweiflung, die ihr Herz marterte. Ihr Leib bestand aus Schmerz, Entbehrung und blutverkrusteten Wunden, von denen sich einige im Schmutz des Kerkers entzündet hatten. Die Schwäche zog sie immer wieder in einen schwarzen Schlund, in dem sie alles vergaß. Wenn es ihr möglich war, eine Weile wach zu bleiben, fragte sich Luzia, wozu sie so lange geleugnet hatte. Sie hatte all die geschickt formulierten Fragen, die ihr die Inquisitoren gestellt hatten, pariert. Sie hatte jeder Versuchung widerstanden, die Geständnisse und Geschichten, die ihr die beiden so geschickt in den Mund gelegt hatten, zu gestehen. Nicht ein einziges Mal war sie eingebrochen. Für Johannes’ Liebe hatte Luzia um ihr Leben gekämpft und letztlich doch alles verloren. Kramers letzter perfider Schachzug hatte jeden Keim der Hoffnung in ihrem Herzen ausgelöscht.

Wenigstens hatte man sie, nachdem die Inquisition ihr Todesurteil unterschrieben hatte, nicht mehr gefoltert. Aber bald würde sie ihren letzten Gang auf den Marktplatz antreten. Dort würde sie Franziska und Brigitta bei lebendigem Leib in die Flammen folgen.

Luzia hoffte nur noch darauf, ein einziges Mal in Johannes’ Augen sehen zu dürfen. Noch einmal wollte sie seine Lippen berühren und seine warme Stimme hören. »Johannes, ich liebe dich! Ich werde dich immer lieben!«, flüsterte Luzia in die eisige Schwärze des Kerkers.

Sie dachte an diejenigen, die sie zurücklassen musste. An Basilius, der ihr im Lauf des vergangenen Jahres wie ein Vater ans Herz gewachsen war. Sie sann über die Menschen in Seefelden. Allen voran Elisabeth, Jakob und Pater Wendelin. Pater Wendelin! Wie sehr es ihre Seele trösten würde, wenn ihr ein letztes Gespräch mit ihm vergönnt wäre. Luzias Gedanken gehörten auch Nepomuk! Wie oft schon hatte sie ihre Tränen in seinem warmen Fell getrocknet?

Sie versuchte sich etwas aufzurichten, doch die Schmerzen in ihrem Körper und quälender Durst ließen sie zurücksinken. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie zum letzten Mal einen Wachmann im Kerker gesehen hatte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass schon mehr als zwei Tage vergangen waren, seitdem Schwarzenberger ihr das letzte Brot vor die Füße geworfen hatte. Seitdem war auch kein anderer mehr erschienen. Wollte man sie hier verhungern und verdursten lassen? Sie ertastete den Krug, in dem schon lange kein Wasser mehr war, und warf ihn in einer verzweifelten letzten Kraftanstrengung gegen die Tür.

»Ist denn da niemand?«, schrie sie.

Niemand antwortete ihr.

 

Basilius konnte sich nicht erinnern, sich jemals so elend gefühlt zu haben. Mühsam schleppte er sich von seiner Schlafkammer im ersten Stock des Apothekerhauses hinunter in die Arbeitsräume im Erdgeschoss. Obwohl er ein dickes Leinenhemd, das bis zum Boden reichte, und eine Schlafmütze aus Wolle trug, fror der alte Mann entsetzlich. Mit zitternden Händen nahm er ein Gefäß, das Weidenrinde enthielt, vom Regal. Dann setzte er sich, in eine Decke gehüllt, an den Tisch und schluckte den bitteren Aufguss. Die schwarzen Schwellungen im Halsbereich und unter den Achseln sagten ihm, was er schon geahnt hatte. Auch er war an der Pest erkrankt. Bereits gestern hatte er den Großteil seiner Habe in schweren Reisekisten verstaut, die er mit letzter Kraft herbeigeschleppt hatte. Der Schweiß floss ihm in Strömen über das Gesicht, dennoch fror er und zitterte so stark, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Mit zitternder Hand begann er einen Brief an Johannes zu schreiben. Basilius vermachte den gesamten Hausstand, alle seine Bücher und Gerätschaften dem jungen Doktor. Bevor er weiterschreiben konnte, wischte sich der alte Mann den Schweiß von der Stirn. Unter anderen Umständen wäre selbstredend seine Nichte die Begünstigte gewesen. Wenn er aber seinen Besitz Luzia hinterließ, würde das Erbe nach ihrem Tod ganz automatisch an die Kirche fallen. Das Vermögen einer Hexe wurde immer eingezogen. So wahr ihm Gott helfe, das wusste er zu verhindern!

Die Sorge um seine Nichte nahm ihm die letzte Kraft, und als Johannes am nächsten Tag in die Marktstraße kam, hatte Basilius bereits zeitweise das Bewusstsein verloren.

Mit kundigen Händen versuchte der Medicus dem alten Mann die kurze Zeit, die ihm noch bleiben würde, zu erleichtern. Er kühlte seine Stirn und die schwarzen Beulen, die einen rasenden Schmerz durch den Körper des Kranken jagten. Mit warmen Steinen hoffte der Medicus das Kältegefühl, mit welchem das Fieber den entkräfteten Mann zusätzlich quälte, ein wenig zu lindern. Wäre der ausgezehrte Leib seines alten Freundes nicht bereits mit zahlreichen Geschw üren bedeckt gewesen, hätte Johannes sich auf die Empfehlungen seiner Lehrer zu Montpellier berufen. Sie waren dazu übergegangen, die Pestbeulen mit einem glühenden Eisen auszubrennen, um die Wunden anschließend mit einer Mischung aus Wein und Essig zu versorgen. Einige Leben hatten sie auf diese Weise sogar gerettet. Doch für Basilius würde diese Behandlung den sicheren Tod bedeuten, so wollte Johannes wider besseres Wissen darauf hoffen, dass sein alter Freund zu den wenigen gehörte, die die Pest überlebten und wieder gesund wurden.

»Dort auf dem Tisch liegt ein Brief. Er ist für dich bestimmt«, flüsterte Basilius mühsam und griff zitternd nach Johannes’ Hand. »Der bloße Gedanke, dass sich die Kirche nach Luzias Tod auch noch an ihrem Erbe bereichert, lässt mir schon jetzt keine Ruhe. Ich müsste mich im Grabe herumdrehen, wenn dem so wäre! Deshalb hinterlasse ich dir meinen gesamten Besitz. Verfahre nach eigenem Gutdünken damit.«

Johannes streichelte die Hand des alten Freundes.

»Ich werde nicht zusehen, wie die Häscher der Inquisition ihre höllischen Pläne in die Tat umsetzen, und wenn der Allmächtige uns beisteht, wird es mir vielleicht gelingen, Luzias Leben zu retten.«

Ein Leuchten erhellte Basilius’ müde Augen. Tränen sammelten ihre salzige Botschaft in den Augenwinkeln des alten Mannes, ehe sie seine faltigen Wangen netzten. Er nickte matt. Nach einer Pause, in der Johannes ihm die Stirn trocknete, nahm Basilius das mühevolle Gespräch wieder auf.

»Wenn das wirklich wahr ist … Mein Gott, Johannes. Ich habe dich immer wie einen Sohn geliebt. Rette Luzia und bring sie weit fort von hier!« Mit letzter Kraft malte Basilius dem jungen Arzt ein Kreuz auf die Stirn, ehe er seine Augen für immer schloss.

Behutsam faltete Johannes die Hände des alten Mannes zum Gebet. Er gab ihm seine Stimme und betete für Basilius ein Paternoster und ein Ave-Maria, ehe er den Leichnam in ein sauberes Leinen bettete. Obwohl alle Türen und Fenster geschlossen waren, begannen die Kerzen zu flackern, die Johannes zum Gebet entzündet hatte. Für einen Moment war ihm, als höre er Luzias sanfte Stimme, und während ein Windhauch seine Wange streifte, glaubte er sogar ihre Wärme zu spüren.

Die Turmbläser verkündeten die Mitternacht. Johannes wusch sich die Hände, verriegelte die Fensterläden und die schwere Eichentür, bevor er in der Dunkelheit davonritt. In seinem Gepäck befanden sich nur Basilius’ Testament, ein paar wertvolle Bücher und ein Beutel voller Goldstücke. Um alles andere würde er sich später kümmern.

Wie jeden Tag klopfte Johannes an die schwere Gefängnistür. Obwohl er genau wusste, dass man ihn nicht zu Luzia vorlassen würde, konnte er nicht von der Gewohnheit lassen. Er konnte nicht einmal sagen, ob sie das Brot erhielt, das er tagtäglich für sie vorbeibrachte.

Zu seiner Verwunderung öffnete ihm Michel Weidacher den oberen Teil der zweigeteilten Eichentür. Aber auch er ließ ihn nicht eintreten, so reichte Johannes’ Blick wieder nur bis in die düstere, kleine Wachstube, die sich hinter Michels Rücken auftat.

»Ihr?«, fragte Johannes überrascht.

Michel nickte.

»Das stimmt mich ein wenig zuversichtlicher!«

»Das sollte es nicht«, entgegnete Michel knapp. »Dem Kollegen Schwarzenberger hat das letzte Stündlein geschlagen. Wahrscheinlich hat sich der Trunkenbold im Rausch das Genick gebrochen«, sagte Michel ohne eine Spur des Bedauerns. In seinem Gesicht zeigte sich keine Regung. »Und einige Kameraden hat die Pest dahingerafft. Deshalb hat sich Heinrich Kramer ausnahmsweise nicht in Feldmanns Wacheinteilung eingemischt. Nun ist er froh, dass die Stadt noch über einige gesunde Männer verfügt.«

»Dann bitte ich Euch, lasst mich zu Luzia«, sagte er hoffnungsvoll.

»Ich darf Euch nicht hinunterlassen«, entgegnete Weidacher kurz. »Es gelten noch immer die Befehle des Inquisitors. Er befürchtet, sie könnte einem Besucher schaden, indem sie ihn verhext.«

Zornig schüttelte Johannes den Kopf und verpasste dem Türrahmen einen wütenden Tritt.

»Verdammt, Weidacher, Ihr wisst doch, dass Luzia Gassner keine Hexe ist!«, rief Johannes aufgebracht.

Michel nickte zwar, machte aber keine Anstalten, Johannes einzulassen. Stattdessen machte er eine leichte Kopfbewegung nach hinten, und Johannes konnte sehen, dass noch ein weiterer Wachmann sich in der kleinen Wachstube auf einem alten Schemel fläzte. Er sah grimmig drein und wirkte nicht, als wolle er eine Ausnahme gestatten.

Während Johannes seine Augen schloss und geräuschvoll ausatmete, verfluchte er sein Pech. Wäre Michel Weidacher allein gewesen, hätte er bestimmt mit sich reden lassen.

»Dann sagt mir wenigstens, wie es ihr geht«, verlangte er grimmig.

Michel wich seinem Blick aus.

»Ich werde sie erst heute Abend sehen, wenn ich den Gefangenen ihre Mahlzeit bringe«, lautete seine knappe Antwort.

»Und jetzt müsst Ihr gehen!«, sagte Michel schnell, nahm das Brot aus Johannes’ Händen und schob die Tür zu, bis sie mit einem dumpfen Scheppern ins Schloss fiel.

 

Lange bevor das erste Licht des Tages durch die Fenster sickerte, floh Johannes das Lager, das ihn seit Stunden quälte, und wanderte wie ein gefangenes Tier von einem Raum zum anderen.

Während er ans Fenster trat und hinaussah, fügte er seinem nächtlichen Plan einen neuen Gedanken hinzu. Langsam fügte sich alles wie ein schimmerndes Mosaik zusammen. Seine Überlegungen waren gewagt, doch während das erste Tageslicht die Welt in tristes Grau tauchte, stand sein Entschluss fest! Er wollte Weidacher aufsuchen und ihn für seinen waghalsigen Plan gewinnen …

 

Als sich Johannes auf den Weg machte, waren die Straßen noch leer. Außer dem Pestkarren begegnete er nur ein paar Tagelöhnern, die auf dem Holzmarkt Arbeit für den Tag suchten, und den Bettlern, die wie jeden Tag an einem der Stadttore um Almosen baten. Selbst der arme Teufel, dessen Beine dem Antoniusfeuer zum Opfer gefallen waren, zog sich bereits auf seinen Händen über den Platz. Er lag den ganzen Tag zwischen dem Frauentor und dem Grünen Turm und war über die Ein- und Ausreisenden bestens informiert. Wie immer, wenn Johannes in die grünen Augen des Bettlers sah, fühlte er einen Stich in der Brust. Luzia hatte den alten Mann immer gemocht.

»Bitte verzeiht, Herr Medicus!«, murmelte der Alte, an Johannes gewandt, und sagte mit lauter Stimme: »Ich bitte Euch, denkt an Euer Seelenheil und werft einem armen Krüppel etwas in den Beutel! Wisst Ihr, wie es Jungfer Gassner geht?«, fügte er flüsternd hinzu.

Johannes schüttelte den Kopf.

»Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Euch um Nachricht bäte? Ihr wisst, wie sehr mir die Jungfer am Herzen liegt?«

Johannes nickte. Er wusste, Luzia war in der Vergangenheit immer sehr großzügig gewesen. Und zu diesem Bettler hatte sie eine besondere Freundschaft gepflegt.

»Gott schütze Euch und die Euren!«, sagte er und flüsterte im Anschluss: »Ich halte ebenfalls Augen und Ohren offen und den Mund geschlossen.«

Michel Weidacher bewohnte mit seiner Mutter zwei kleine Zimmer in der St.-Veit-Gasse. Johannes führte den Araberhengst zum Hintereingang des Hauses und klopfte an die wettergegerbte Tür.

»Was wollt Ihr von meinem Sohn?«, fragte die ältere Frau neugierig. Während Johannes noch überlegte, was er sagen sollte, erschien gottlob der junge Weidacher selbst in der Tür und ließ den Medicus eintreten. Während Johannes wartete, bis Michels Mutter endlich die Tür hinter sich schloss, entging ihm das Mienenspiel des Wachmanns nicht. Er deutete es irgendwo zwischen Überraschung und leiser Furcht.

»Weidacher, seht mich an!«, begann Johannes scharf, »glaubt Ihr, Luzia Gassner ist eine Hexe?«

Michel schüttelte den Kopf und versuchte dem Blick des Medicus standzuhalten.

»Dann sind wir immerhin zu zweit«, sagte Johannes und berührte den Wachmann an der Schulter.

Michel schüttelte wieder den Kopf.

»Zu dritt!«, erwiderte er leise, »Nanne glaubt schon lange nicht mehr an Jungfer Gassners Schuld. Glaubt mir, wenn wir eine Möglichkeit sähen …« Michel brach ab und rieb sich das müde Gesicht.

»Ich muss Euch nicht daran erinnern, dass Euch Jungfer Gassner unter Einsatz ihres Lebens in den Kerker gefolgt ist und erst durch ihre selbstlose Tat den Verdacht der Hexerei auf sich gezogen hat?« Michel schüttelte den Kopf.

»Das werde ich ihr nie vergessen«, murmelte Michel in der Erinnerung an diese furchtbare Nacht.

»Dann lasst jetzt Taten folgen!«

»Sagt mir, was ich tun kann, und ich werde Euch helfen«, beteuerte Michel.

Johannes wusste, dass er auf dem richtigen Weg war.

»Uns bleibt nicht viel Zeit, doch ich werde mit Eurer Hilfe verhindern, dass Luzia morgen auf dem Scheiterhaufen den Tod findet. Der Plan ist waghalsig und kühn …«

Michels Augen leuchteten. Bei Gott, er fühlte sich waghalsig und kühn! Schon häufig hatte er sich nach einer solchen Gelegenheit gesehnt. Er war es der Hebamme schuldig.

 

»Eine gewagte Idee, aber sie könnte funktionieren«, bestätigte Michel, nachdem ihm von der Wehr sein Vorhaben verdeutlicht hatte. »Das Wichtigste ist, dass Ihr keine Zeit verliert, wenn ich Euch rufen lasse. Sicher haben wir die größte Chance während der Wachablösung. Wenn die einen bereits fort sind und die Nachfolgenden noch nicht über alle Geschehnisse der vergangenen Schicht unterrichtet wurden.«

Johannes verstand und nickte.

»Jetzt benötigen wir nur noch einen zuverlässigen Boten«, überlegte Johannes laut. »Kennt Ihr den Bettler mit den auffallend grünen Augen?«

Michel nickte.

»Niemand wird Verdacht schöpfen. Bettler bewegen sich bisweilen beinahe unsichtbar. Doch das Wichtigste ist«, Johannes machte eine kurze Pause, »er ist Luzia mehr als wohlgesonnen und würde mit Sicherheit einen kurzen Botengang übernehmen.«

»Also gut! Ich sehe ihn häufig am Frauentor. Von dort ist es nicht weit bis zum Grünen Turm, und wenn es dunkel wird, öffne ich den kleinen Verschlag neben dem Eingang. Dort soll er heute Nacht auf mich warten.«

Johannes verabschiedete sich mit leichtem Gepäck von Michel. Hoffnung wiegt nicht schwer …