Die ersten Truhen waren bereits gepackt und weitere folgten.
Johannes lud alles auf den Wagen, dem zwei braune Kaltblüter vorgespannt waren. Während Luzia einen letzten Gang durchs ganze Haus antrat, stattete Basilius dem Bürgermeister einen Besuch ab.
»Ihr tut gut daran, wenn Ihr Eure Nichte eine Weile aus diesem verrückten Hexenkessel fortbringt. Noch besser wäre es, wenn sie dort unten am Bodensee die Frau des Medicus werden würde. Ihr wisst, einer verheirateten Frau kann nicht so leicht am Kittel geflickt werden«, sagte Ettenhofer und lächelte müde. Er saß hinter seinem mächtigen Schreibtisch und nahm einen Schluck aus seinem Weinbecher. »Den Vorwürfen ist fast nicht mehr beizukommen, und Kaplan Grumper drängt das Blutgericht, öffentliche Klage zu erheben. Er ist sich sehr bewusst, dass er ohne uns nichts ausrichten kann. Einzig dem weltlichen Gericht obliegt es, eine Verhandlung einzuberufen. Bisher konnten Ammann Jost und ich den eifrigen Gottesmann noch hinhalten, aber die Argumente gehen uns langsam aus.«
Basilius nickte sorgenvoll und lehnte sich in den Scherenstuhl zurück, den ihm der Bürgermeister angeboten hatte. Er nahm ebenfalls einen Schluck aus seinem Becher. Eigentlich war es noch viel zu früh für unverdünnten Wein, aber er wollte Ettenhofer nicht kränken. Sie sprachen noch über die Fahrt und das Wetter, ehe sich Basilius verabschiedete.
»Gehabt Euch wohl, und gute Reise. Ach ja, und entrichtet dem jungen Arzt meine besten Wünsche und sagt ihm, er möge auf Eure Nichte achtgeben. Sie ist ein verdammt hübsches Mädel und gescheit obendrein. Wenn einem als Mann so etwas vor die Flinte läuft, bei Gott, dann darf man nicht zögern.«
Ettenhofer schloss die Tür hinter dem Apotheker und sandte ein stilles Stoßgebet zum Himmel. Mochten die Schwierigkeiten mit dieser Hebamme doch nur endlich vorüber sein!
Als das Fuhrwerk durch Ravensburg rumpelte, verkündeten die Bläser die neunte Stunde. Das Letzte, was Luzia sah, bevor sie die Stadt durch das Untertor verließen, waren die Bettler. Unter ihnen befand sich auch der Verkrüppelte mit den grünen Augen. Als das Fuhrwerk vorüberfuhr, nickte er zum Gruß.
Mit gemischten Gefühlen saßen Luzia und ihre Begleiter auf dem Planwagen, den Johannes für die Fahrt gemietet hatte. Jeder von ihnen ließ etwas anderes zurück. Basilius seine Apotheke, Johannes seine Patienten und Luzia die Frauen und Kinder, die trotz der Gerüchte und Beschuldigungen an sie glaubten. Dennoch hofften sie alle, das Richtige zu tun.
Der Reisewagen war gefüllt mit Truhen voller Lebensmittel und Leinen. Schließlich war Luzia nichts anderes übriggeblieben, als die Speisekammer vollständig auszuräumen. Alles Essbare musste regelmäßig auf Schädlingsbefall kontrolliert werden, sonst hielten die Maden ein Festmahl. Auch einige Meter Wolltuch hatte sie am Gespinstmarkt noch abschneiden lassen, ehe sie den Deckel der Kleidertruhe geschlossen hatte. Wolltuche waren kostbar und teuer und Elisabeth träumte schon lange von einem eisblauen Mantel, den sie mit einer Silberfibel schließen wollte. Deshalb hatte Luzia auch noch eine besonders schöne Brosche beim Silberschmied in der Wollgasse erstanden.
Die Reise versprach recht unbequem zu werden, denn es regnete bereits seit der vergangenen Nacht, und eine Wetterbesserung war nicht in Sicht. Überall stand das Wasser in den ausgefahrenen und unbefestigten Wegen. Johannes wählte den gleichen Weg zurück, den Luzia vor etwas weniger als einem Jahr gemeinsam mit Matthias gekommen war.
Außerhalb der Stadtmauern wirkte die Landschaft wie mit einer Sense niedergemäht oder dem Zorn Gottes ausgesetzt. Die Felder lagen brach und glichen eher Schlammlöchern als einer Heimat für die Ähren. Nicht eine Kornblume und kein Klatschmohn säumten ihren Weg, dafür lagen immer noch stark verweste Tierkadaver in den flachen Seen, die vor dem Unwetter saftige grüne Wiesen gewesen waren.
»Man sollte den Wasenmeister dafür zur Verantwortung ziehen. Schließlich ist es seine Aufgabe, verendete Tiere zu verbrennen oder zu verscharren. Dieser Gestank ist geradezu bestialisch!«, schimpfte Basilius leise vor sich hin.
»Nun, wahrscheinlich gibt es so viele tote Tiere, dass er seiner Arbeit nicht Herr werden kann«, antwortete Johannes.
»Im Korb hinter der Wolle habe ich ein paar Seifenstücke eingepackt, wenn du möchtest, halten wir an, damit du nicht so sehr leiden musst«, schlug er fürsorglich vor, als er Luzias wächsernes Gesicht sah, doch sie schüttelte den Kopf.
»Dann nimm wenigstens das«, sagte er und reichte ihr ein sauberes Tuch aus den Taschen seines Gewandrocks. Während sich Luzia das Leinen vor die Nase hielt, atmete sie den Duft von Verbene.
»Ist das Eisenkraut?«, fragte sie verwundert.
Johannes nickte. »Ja, die Franzosen lieben es. Es soll nicht nur gegen allerlei Verwünschungen zum Einsatz kommen, sondern wird dort auch als Likör getrunken.«
»Ich habe davon gehört. Die heilige Hildegard von Bingen empfahl das blühende Kraut bereits bei Steinleiden der Niere und der Galle und, etwas weniger dramatisch, bei Halsentzündungen und schlecht heilenden Wunden. Darüber hinaus habe ich in einer uralten Schrift, die mir in Basilius’ Bibliothek in die Hände fiel, gelesen, dass unsere Vorfahren mit seiner Hilfe in die Zukunft sahen«, sagte Luzia, während sie über eine Brücke rumpelten.
»Die Wurzel wird bevorzugt von Mitte Juli bis Mitte August geerntet, während der Hundsstern aufgeht und weder die Sonne noch der Mond am Himmel stehen. Allein Sirius darf dabei zusehen, wenn die hochwirksame Wurzel mit einem eisernen Werkzeug ausgegraben wird«, ließ sie Basilius an seinem Druidenwissen teilhaben. Ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. Er freute sich über ihre angeregte Unterhaltung. Luzia hatte sogar den Gestank darüber vergessen und wirkte lange nicht mehr so bleich wie noch zuvor.
Doch die Freude war von kurzer Dauer, denn bald zogen Obstbäume an ihnen vorbei, die weder Blätter noch Früchte trugen.
»Dabei wären jetzt die ersten wilden Zwetschgen reif, und Äpfel gäbe es auch schon bald«, flüsterte Luzia traurig.
Die gesamte Landschaft war in Mitleidenschaft gezogen. Selbst im Wald hatte der Sturm eine breite Schneise aus umgestürzten Bäumen hinterlassen.
Sie trafen auf ein paar Männer, die noch immer die umgeknickten Stämme der Fichten und Kiefern zersägten.
»Johannes, bitte halte die Pferde an, ich möchte die Bauern etwas fragen«, bat Basilius.
Der Medicus nickte und lenkte die Braunen an den Wegrand, wo Basilius abstieg und über dicke Baumstämme kletterte.
»Gott zum Gruße!«, begann Luzias Onkel. »Da habt ihr bei Gott eine schwere Arbeit zu verrichten.«
Die in einfache braune Kittel gekleideten Männer nickten und stimmten dem Apotheker zu. Sie waren argwöhnisch und blickten etliche Male über die Schulter hinter sich, ehe sie ihre Arbeit erneut aufnehmen wollten, doch Basilius ließ nicht locker.
»Sind die Schäden auf den Sturm zurückzuführen?«, fragte er vorsichtig. Ihm entging nicht, dass die Leute nicht mit ihm sprechen wollten. Als fürchteten sie sich vor etwas, ging es Basilius durch den Kopf.
Der Jüngste, ein schlaksiger Bursche, der weniger misstrauisch wirkte als die anderen, legte die Axt beiseite und rieb sich die schmutzigen Hände am Kittel sauber.
»Hört, ich weiß nicht, wer Ihr seid, aber Ihr solltet sehen, dass Ihr weiterkommt. Hier geht der Teufel selbst um«, gab der Mann zur Antwort.
»Wie kommt Ihr denn darauf?«, wollte Johannes wissen, der ebenfalls vom Wagen gestiegen war.
»Wir bewirtschaften die Höfe um Ravensburg herum, und der Sturm hat uns alles genommen, womit wir unsere Familien hätten ernähren können. Einzig das Holz können wir noch verkaufen und ein paar Ziegen sind uns geblieben, aber der Rest …« Die Hände des jungen Mannes vollführten eine vernichtende Geste, ehe er langsam weitersprach. »Kaplan Grumper ist zu uns hinausgekommen, um uns zu erklären, wie die Wettermacherin den Hagel mithilfe des Teufels auf der Kuppelaue und an der Schussen herbeigerufen hat. Angeblich hat sie verfaulten Salbei in den Fluss geworfen und ein paar Kinder getötet, deren Blut sie erst getrunken und dann das Fleisch gesotten hat«, berichtete der Mann und zog seine blaue Kappe vom Kopf, um sich zu kratzen. »Dieses Weib hat uns alles genommen!«
Luzia erschrak zu Tode, die Furcht fuhr ihr wie ein glühender Dolch in die Eingeweide. Sie zog ihr Tuch vor der Brust zusammen.
Basilius und Johannes nickten nachdenklich, sie hatten genug gehört. Basilius drückte dem dürren Kerl ein paar Münzen in die Hand.
»Hab Dank für deine Auskunft, und Gott schütze dich.«
Der Bursche starrte auf die Münzen.
»Gott schütze Euch!«, rief er ihnen nach, ehe er seine Arbeit wieder aufnahm.
Als sie weiterfuhren, sprach eine Weile lang niemand ein Wort. Der Weg führte sie an drei nebeneinanderstehenden Bäumen vorbei, der Blitz hatte sie gespalten und sein schauriges Werk zurückgelassen. Die verkohlten Hälften wirkten so beklemmend, dass Luzia eine Gänsehaut wuchs.
Irgendwann brach Johannes dann doch das Schweigen.
»Vielleicht solltest du darüber nachdenken, Ravensburg für längere Zeit fernzubleiben. Dieser Grumper ist in der Tat unberechenbar«, sagte er, an Luzia gewandt, doch sie blieb ihm die Antwort schuldig.
Langsam ließen die Verheerungen nach und das Gras wirkte nicht mehr wie von der Erde verschluckt. Hier und da erkannten sie sogar ein Kornfeld. Selbst der Regen ließ mehr und mehr nach, und der Himmel klarte auf. Mit den tiefhängenden Wolken wich auch ein wenig von dem beklemmenden Gefühl, das seit dem Gespräch mit den Bauern ihre Stimmung beherrscht hatte. Auf einer kleinen Anhöhe zwischen Markdorf und Bermatingen entschied Johannes, dass es nun Zeit für eine Pause wäre. Er lenkte den Wagen vom Feldweg und half Luzia beim Absteigen.
Gemeinsam tranken sie den Wein, den Luzia eingepackt hatte, und aßen ein wenig Brot und Käse. Wann immer sie Johannes’ liebevollen Blick auf sich spürte, sah Luzia rasch zu Boden. Die Zweifel hatten sie wieder fest im Griff. War es überhaupt recht gewesen, die Reise in Johannes’ Begleitung zu unternehmen? Was sollte sie zur Antwort geben, wenn Jakob sie auf ihr Verhältnis zu Johannes ansprach? Wenn ich doch nur wüsste, woran ich mit ihm bin, … und seit dem Kuss blickt er mir noch tiefer in die Augen, dachte Luzia mit einem leisen Seufzen.
»Lasst uns aufbrechen, ich möchte Seefelden heute noch erreichen!« Die Worte des Onkels rissen sie aus ihren Gedanken.
Schnell packten sie zusammen und setzten ihren Weg fort. Diesmal ging die Fahrt sehr viel zügiger, als es bei ihrer Abreise im letzten Sommer der Fall gewesen war. Pferde zogen den Wagen bedeutend schneller, als Ochsen es vermochten. Bald kam die massive Wehranlage der Burg Meersburg in Sicht. Dort wurde gerade Markttag abgehalten.
Luzia bat Johannes, den Wagen anzuhalten. Er tat es mit Freuden, als er sah, wie Luzias Augen leuchteten. Johannes war verunsichert. Luzia war in sich gekehrt und hatte ihre Unbeschwertheit durch die Ereignisse in Ravensburg verloren. Seit ihrem Kuss schien sie ihm aus dem Weg zu gehen. Erleichtert stellte Johannes fest, dass es Luzia besser ging, je näher sie dem Bodensee kamen. Noch in Seefelden würde er Luzia fragen, ob sie seine Frau werden wollte.
Nachdem sie der Torwache erklärt hatten, dass sie lediglich den Markt besuchen wollen, ließ der Mann sie ohne Zoll passieren. Gemeinsam schlenderten sie durch die engen Gassen und begutachteten die angebotenen Waren, die lautstark angepriesen wurden. Das Angebot war hier in Meersburg reicher und bunter, als es in Ravensburg der Fall gewesen war. Sie rochen duftendes Brot und Gesottenes. Ein paar Männer brieten ein ganzes Schwein am Spieß. Während sie weitergingen, kamen sie an mehreren Marktständen vorüber, an denen Bäuerinnen gelbe Augustbirnen und frühe Zwetschgen verkauften. Das hatten sie in Ravensburg in diesem Jahr noch gar nicht gesehen. Sie kauften ein paar goldgelbe, nach Honig duftende Kürbisstücke, die ein altes Weiblein über einem offenen Feuer garte. Weiter unten erstanden sie noch eine Handvoll blutroter Wildkirschen. Ein paar Hühner flogen gackernd davon, sie hatten sich aus ihrem Käfig befreit und nutzten die unerwartete Gelegenheit zur Flucht, ehe sie der Marktaufseher wieder einfing. Bei einem Zuckerbäcker kaufte Luzia weiche, mit Apfelmus gefüllte Törtchen, die sie sich einpacken ließ, bevor Johannes alle gegessen hatte.
Sie fragten eine ältere Frau, die ihnen mit einem Laib Brot unter dem Arm entgegenkam, nach dem fürchterlichen Hagelunwetter.
Die Alte bekreuzigte sich rasch. »Plötzlich wurde es dunkel. Der Wind schob eine schwarze Walze aus Wasser und Eis über den See herein. Das Wasser brodelte wie in einem Wurstkessel und verschluckte einige Fischer, die gerade dabei waren, ihre Netze einzuholen. Gelbe Blitze zuckten vom Himmel, und der Donner dröhnte weit übers Land!«
»Und die Schäden?«, wollte Johannes wissen.
»Die haben sich Gott sei Dank in Grenzen gehalten. Sicher gibt es auch hier einige Felder und Weinberge, die dem Unwetter zum Opfer gefallen sind. Schlimmer ist es, glaube ich, weiter oben, bei den Markdorfern oder in Ravensburg gewesen. Unlängst erzählte ein Wanderprediger, dort stehe kein Stein mehr auf dem anderen und kein Feld sei heil geblieben. Dort oben hungern sie bereits.«
Johannes bestätigte das Gesagte für Ravensburg und verabschiedete sich. Der Eindruck hatte nicht getäuscht, dass es hier ein wenig glimpflicher abgegangen war.
Luzia wollte unbedingt noch über die steile Steigstraße zum See hinunter, ließ sich aber von Basilius umstimmen. Der alte Mann hatte genug von der Reise, er wollte sich endlich in einen bequemen Stuhl setzen und sich einen Becher Bodenseewein munden lassen.
Nach Meersburg ging es weiter am Bodenseeufer entlang, Richtung Seefelden. Mittlerweile hatte es die Sonne vollends geschafft, sich gegen die Wolkendecke durchzusetzen, und verwandelte das vormals graue Wasser in einen glitzernden, in allen Blautönen schimmernden Saphir. Letzte Wolkenschleier gaben den Blick auf die schneebedeckten Eisriesen im Osten frei, die sie willkommen hießen.
Sie hatten bereits die lichten Wälder, die Seefelden umgaben, erreicht, als einige Schwäne von einem entlegenen Weiher über ihre Köpfe hinwegflogen, ehe sie auf dem See landeten.
Hinter der nächsten Biegung erblickte Luzia bereits den Kirchturm von St. Martin. Ihr Herz sprang ihr vor Freude fast aus der Brust, es hämmerte wie wild gegen ihre Rippen.
Johannes spürte ihre lebendige Freude und suchte nach ihrer Hand, was Luzia auch gestattete. Das warme Gefühl des Heimkommens erfüllte auch ihn, und sogar Basilius wagte noch ein Lächeln, obwohl er endgültig genug hatte vom Gerumpel der Fahrt.