21

Kies knirschte unter den Hufen ihrer Pferde. Sie hatten das Ufer des Rheins erreicht. Dichter Nebel lag über dem Strom.

Gabriela blickte zurück zum Drachenfels. Sie hielt die Silbermünze in ihrer Linken, die der Fährmann abgelehnt hatte. Dies war ihr Tag! Sie spürte es. Kalt wie Eis lag die Münze in ihrer Hand. Sie hatte immer davon geträumt, eine der großen Rollen in einem Musical zu tanzen … Es hatte nicht sollen sein. Aber ohne ein großes Solo gehabt zu haben würde sie nicht abtreten.

»Fährmann!« Till war aus dem Sattel gesprungen, stand am Ufer und rief in den Nebel hinein.

Gabriela hatte keinen Zweifel, dass der schweigsame Schiffer sein Wort halten würde. In jeder Hinsicht! Sie sollte besser nicht mehr hier sein, wenn er kam. Die anderen würden es nicht akzeptieren, wenn er sie nicht an Bord ließe, und es blieb keine Zeit mehr, um zu streiten. Es war schon ein Wunder, dass sie so weit gekommen waren.

»Ich werde jetzt gehen.« Die Tänzerin sprach leise und so beiläufig, als säßen sie alle in der Küche der Villa Alesia und würden sich über irgendwelche Banalitäten unterhalten.

Rolf blickte auf. Er schien als Einziger gehört zu haben, was sie gesagt hatte. »Was?«

»Ich werde nicht mehr in unsere Welt zurückkehren«, sagte sie bestimmt. »Mein Platz ist hier.«

»Als Drachenfutter oder was? Das ist jetzt wirklich nicht der Ort, um sich zu streiten. Wir fahren mit dem verdammten Kahn über den Fluss und dann sehen wir weiter.« Inzwischen waren auch die anderen auf sie aufmerksam geworden.

»Was gibt’s?«, fragte Till ohne seinen Blick vom nebelverhangenen Fluss abzuwenden.

»Was wohl?«, schimpfte Rolf. »Unsere Primaballerina hat sich wieder einmal den passendsten Augenblick ausgesucht, um eine ihrer Extratouren zu reiten. Stell dir vor, sie will nicht mit über den Fluss.«

»Sie wird den Fluss nicht überqueren!«, verbesserte Gabriela Rolf und dachte, dass sie es möglicherweise vermissen würde, sich mit ihm zu streiten.

»Der Fährmann!« Oswald deutete auf einen Schatten, der durch den Nebel glitt.

Die Tänzerin zog den Zügel ihres Rappen herum. »Dies hier ist meine Welt, mehr als es die Welt, die uns auf der anderen Seite des Tores erwartet, je gewesen ist. Versucht nicht mich aufzuhalten.« Sie drehte den gae bolga zwischen den Fingern, sodass seine Klingen zischend eine Acht in die kalte Luft schnitten. »Ich gehöre hierher.«

»Ist sie verrückt geworden?«, fragte Wallerich in einem Tonfall, der eher interessiert als erschüttert klang. Der Heinzelmann saß in Decken gehüllt in einem Körbchen, das vor Tills Sattel hing, und betrachtete sie mit einem Gesichtsausdruck, als habe er gerade ein unbekanntes Insekt entdeckt, von dem er noch nicht wusste, ob es stechen würde oder andere unerfreuliche Eigenschaften aufwies.

»Vielleicht schaffe ich es, die Dunklen ein wenig abzulenken! Ich wünsche euch Glück! Vielleicht sehen wir uns …« Sie gab ihrem Rappen die Sporen und preschte in Richtung des Drachenfelsens.

Ohne zu zögern riss Rolf Martin die Zügel seiner Stute aus der Hand, sprang in den Sattel und folgte der Tänzerin.

Gabriela beugte sich tief über den Hals ihres Hengstes und trieb ihn erbarmungslos vorwärts. Doch der blonde Ui Talchiu holte schnell auf. Zurückblickend sah sie, wie der Fährmann das Ufer erreichte und ihre Kameraden wild gestikulierend auf den großen Mann mit dem Schlapphut einredeten.

Plötzlich stieß ihr Hengst ein schrilles Wiehern aus, strauchelte und stürzte dann in den Schnee. Sie wurde aus dem Sattel geschleudert, rollte sich zur Seite und kam leicht benommen wieder auf die Beine. Grelle Lichtpunkte tanzten ihr vor den Augen. Undeutlich sah sie ein Kaninchenloch im aufgewühlten Schnee.

Rolf parierte neben ihr die Stute und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm. Hast du vergessen? Einer für alle und alle für einen! Wenn wir schon Umwege machen, um ein paar Heinzelmänner abzuholen, dann werden wir erst recht nicht ohne dich gehen.«

»Es geht nicht. Ich …« Ihr saß ein Kloß im Hals. Ausgerechnet Rolf. Von ihm hätte sie am wenigsten erwartet, dass er ihr folgte. Sie zog die Silbermünze aus dem Lederbeutel an ihrem Gürtel und zeigte sie ihm. »Für mich gibt es kein Zurück mehr. Der Fährmann wird mich nicht ans andere Ufer bringen. Er wollte meine Münze nicht.«

»Ein Irrtum!«

»Nein«, sie schüttelte den Kopf. »Es war mir von vornherein bestimmt, nicht zurückzukehren.« Sie reckte ihr Kinn vor und bemühte sich endlich diesen verdammten Kloß im Hals loszuwerden. »Kehr zu den anderen zurück. Die Zeit drängt!«

»Heißt das, du wirst …«

»Ich werde einfach nicht mit euch zurückkehren! Geht das nicht in deinen Dickschädel? Bitte lass uns nicht im Streit auseinander gehen und mach meinen Abgang nicht zu einer billigen Seifenoper. Wenn ich dir etwas bedeute, dann wirst du jetzt zurückreiten und verhindern, dass mir einer der anderen folgt.« Sie drückte ihm die Hand. Plötzlich fielen ihr noch tausend Dinge ein, die sie ihm hätte sagen können. Stattdessen stieg sie in den Sattel. Ihr Rappe hatte den Sturz offenbar unbeschadet überstanden.

Langsam ritt sie an und hielt wieder auf den Drachenfels zu. Auf einem flachen Hügel drehte sie sich ein letztes Mal um und sah zurück. Rolf hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Noch immer blickte er ihr nach.

»Lebe wohl«, flüsterte sie in den Wind, der die Rabenfedern auf ihrem Umhang rascheln ließ. »Lebe wohl!«

Sie würde nicht mehr zurückblicken! Über den Berg vor ihr zogen zerrissene, graue Wolken, gleich riesigen Standarten, die einem unsichtbaren Heer voran in die Schlacht getragen wurden. Erste, vereinzelte Schneeflocken trieben wie Späher den dunklen Wolken voraus. Und dann sah Gabriela ihn. Zunächst war es nur ein flüchtiger Schatten. Ein Stück manifestierter Dunkelheit, das sich schneller bewegte als die Wolken, hinter denen es sich verbarg. Der Drache! Mit weit ausgebreiteten Flügeln im Sturmwind am Himmel segelnd wirkte er noch größer und Ehrfurcht gebietender als in der Höhle.

»Heho, du hässlicher Riesenlurch!« Die Tänzerin schwenkte ihren Speer über dem Kopf und schrie dabei aus Leibeskräften, um den Drachen auf sich aufmerksam zu machen. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wie ein besoffener Albatros fliegst? Beim Kampf bist du wahrscheinlich so geschickt wie eine einbeinige Ameise!«

Der Drache schwenkte ab, flog einen weiten Bogen und setzte dann zum Sturzflug an. Seine Flugmanöver waren so schwerfällig, dass Gabriela reichlich Zeit hatte, in aller Ruhe abzusteigen und ihrem Rappen über die Nüstern zu tätscheln. »Lauf weg, mein Schöner. Das hier ist kein Platz für dich.«

Der Hengst schnaubte, so als wolle er ihr antworten, und machte keine Anstalten davonzulaufen.

Mit weit ausgebreiteten Flügeln landete der Drache keine zehn Schritt von Gabriela entfernt. »Du wirst langsam sterben«, drohte er mit leiser Stimme. »Damit du reichlich Zeit hast, es zu bedauern, dich mit mir angelegt zu haben.« Sein Schwanz peitschte unruhig und zerwühlte den Schnee. Plötzlich schoss eine Stichflamme aus seinem Maul.

Gabrielas Rappe wieherte und preschte in wilder Panik davon. Die Tänzerin schaffte es gerade noch, sich mit einer Rolle in Sicherheit zu bringen. Kaum war sie wieder auf den Beinen, peitschte der mächtige Drachenschwanz in ihre Richtung. Sie machte einen Satz und entging dem Angriff.

Das Ungeheuer lachte. »Tanz für mich, du eingebildete Närrin!« Er fächerte seine mächtigen Flügel auf und wirbelte den feinen pudrigen Schnee in die Luft, der wie Nadelspitzen in Gabrielas Gesicht stach. Sie riss die Arme hoch, um ihre Augen zu schützen. Blinzelnd erkannte sie gerade noch, wie der meterlange Schwanz wieder vorschnellte. Fluchend warf sie sich zur Seite und rollte sich über ihre linke Schulter ab. Sie musste angreifen! Wenn sie den Drachen weiter seine Spielchen mit ihr treiben ließ, dann war sie so gut wie tot. Es musste doch möglich sein, dieses Ungeheuer aus dem Konzept zu bringen. Sie schnellte vor, machte einen Salto und versuchte dem Drachen den gae bolga in den Unterleib zu rammen.

Mit einer eleganten Drehung brachte die Echse sich in Sicherheit und verpasste ihr gleichzeitig mit der Flügelspitze einen Schlag auf den Rücken.

»Olé!«, rief der Drache amüsiert, während Gabriela mit dem Gesicht voran in den Schnee stürzte.

Die Tänzerin drehte sich um, riss ihren Speer hoch und verhinderte so im letzten Augenblick, dass ihr der Drache seinen krallenbewehrten Vorderfuß auf den Rücken setzte. Diesmal zuckte das Reptil zurück. Trotz aller Großsprecherei schien der Drache Angst vor dem gae bolga zu haben. Mit einem Satz war sie auf den Beinen und stürmte entschlossen vor.

Der Drache stieß einen erschrockenen Schnauber aus und Ruß schoss aus seinen Nasenlöchern. Wie ein aufgeschrecktes Huhn flatterte er mit den Flügeln und machte einen grotesken Hüpfer, um der Speerspitze zu entgehen. Gabriela setzte noch einmal nach, doch dann beendete ein lodernder Flammenstrahl ihren Angriff. Zischend verwandelte sich der Schnee vor ihr in kochenden Wasserdampf. Ein peitschender Schwanzhieb traf ihren Arm und glühender Schmerz schoss ihr bis in die Schulter hinauf. Ein zweiter Schwanzhieb entriss ihr den gae bolga. Der Speer segelte etliche Meter durch die Luft und fiel in eine Schneewehe am Ufer eines kleinen Baches, der nur ein Stück entfernt in den Rhein mündete.

»Ende der Vorstellung«, grollte der Drache mit leiser Stimme. Er schlug mit den Flügeln und entfesselte einen kleinen Schneesturm, der Gabriela weiter von ihm forttaumeln ließ, bis sie in das eisige Wasser des Bachs stürzte.

»Was glaubst du, wie bist du bekömmlicher? Gekocht oder gebraten?« Das Reptil entblößte grinsend seine dolchlangen Zähne. Dann stieß er einen weiteren Flammenstrahl aus, der das Wasser vor Gabriela in siedenden Dunst verwandelte.

Strauchelnd rettete sich die Tänzerin ein Stück das Bachbett hinauf. Der Speer war noch immer außerhalb ihrer Reichweite. Wieder blähten sich die Nüstern des Untiers, so als wolle es erneut einen Flammenstrahl ausschnauben und die Sache endgültig zum Ende bringen.

Gabriela warf sich längs in das kniehohe Wasser. Die Eiseskälte raubte ihr fast die Besinnung. Einen Moment lang glaubte sie zu fühlen, wie ihr Herzschlag aussetzte. Wenn sie nur an den Speer herankäme! Damit, dass sie hier sterben würde, hatte sie sich schon an jenem grauen Nachmittag abgefunden, als der unheimliche Fährmann ihre Münze abgelehnt hatte. Doch dass es ein völlig sinnloser Tod sein würde, das mochte sie nicht hinnehmen. Wenn sie jetzt starb, dann hätte sie den Drachen nicht einmal fünf Minuten lang aufgehalten. Das war zu wenig. Er würde ihre Kameraden mitten auf dem Fluss erwischen, wo es keine Möglichkeiten zur Flucht gab. Sie musste noch durchhalten, koste es, was es wolle!

Ein Flammenstrahl schoss über das Wasser hinweg und ersetzte die Todeskälte für einen Augenblick durch wahre Höllenglut. Schreiend stieß Gabriela den Kopf durch das Wasser. Sie würde sich nicht kochen lassen! Mochte dieser überdimensionierte Lurch doch an ihr ersticken!

»Na, geht dir die Puste aus?«, spöttelte der Drache. »Suchst du vielleicht das hier?« Er hob den gae bolga hoch. »Das scheint heute nicht dein Tag zu sein.« Das Ungeheuer schleuderte die Waffe davon, die steil in den Himmel flog und dann im Nebel über dem großen Fluss verschwand. »Das war es dann wohl.« Geifer tropfte ihm vom Maul.

Gabriela versuchte sich aufzurichten. Ihr Widerstandswille war gebrochen. Das Einzige, was sie noch wollte, war im Stehen zu sterben, doch selbst das schien ihr verwehrt zu bleiben. Der Rucksack auf ihren Schultern hatte sich voll Wasser gesogen und war bleischwer geworden.

»Ich denke, jetzt ist der Augenblick für ergreifende letzte Worte! Fällt dir etwas Geistreiches ein?«

Die Tänzerin ließ den Rucksack von den Schultern gleiten. Sie erinnerte sich dunkel an ein Experiment in einer Physikstunde. Woran man so dachte, wenn man den Tod vor Augen hatte … Mit Fingern steif vor Kälte nestelte sie an den Verschlussriemen des Rucksacks herum.

»Nun?«, gurrte der Drache mit fast schon freundlicher Stimme.

Endlich öffnete sich der Rucksack. »Verdammt, mein Schminkspiegel ist in tausend Stücke!« Die Tänzerin drehte den Rucksack herum und ließ seinen Inhalt ins eisige Wasser purzeln. »Das bedeutet sieben Jahre Unglück!«

Der Drache lachte. »Weibchen, ich verspreche dir, deine Leiden abzukürzen, du wirst nicht einmal mehr sieben Minuten Unglück haben.«

Er riss sein Maul weit auf, um sie mit einem letzten, vernichtenden Flammenstrahl zu töten. Gabriela tauchte ihren Rucksack in den Fluss. Tief im Rachen des Drachen konnte sie die glühende Lohe flackern sehen. Mit einem Ruck riss sie den Rucksack wieder hoch und schleuderte ihn dem Ungeheuer entgegen. Im Reflex schnappte der Drache danach und schluckte ihn herunter. Verblüfft verdrehte er die Augen. Dann schoss kochender Wasserdampf aus seinen Nüstern und sein Leib begann sich zu blähen.

Gabriela trat stolpernd ein paar Schritte zurück. Immer weiter schwoll der Leib des Ungeheuers an. Der Drache stieß einen zischenden Laut aus. Dann gab es einen Knall. Heißer Dampf schlug der Tänzerin entgegen. Ein Schlag traf ihr Bein und sie stürzte. Einige Herzschläge lang war sie benommen. Der Dampf hatte sie geblendet. Sie fühlte sich sehr müde.

Lichtpunkte tanzten Gabriela vor den Augen, trotzdem konnte sie erkennen, dass der Drache verschwunden war. Sie lächelte matt. Wer hätte gedacht, dass die langweiligen Physikstunden längst vergangener Schultage ihr einmal das Leben retten würden. Einen Drachen zu töten, indem man eine »Kesselexplosion« herbeiführte, war zwar nicht sonderlich ritterlich, doch dafür umso effektiver. Sie hatte gesiegt und der Fährmann hatte sich geirrt. Sobald sie einen Weg über den Rhein gefunden hätte, würde sie zu ihren Freunden zurückkehren und sich als Drachentöterin feiern lassen.

Mit dem wohligen Gefühl des Erfolgs überkam sie eine angenehme Schläfrigkeit. Selbst die Kälte erschien ihr nun nicht mehr so schneidend wie zuvor. Sie musste nur aus dem Wasser heraus. Vielleicht konnte sie ein kleines Feuer machen und … Ihr rechtes Bein knickte kraftlos zur Seite, als sie versuchte sich aufzurichten. Aus ihrem Oberschenkel ragte ein armlanger Knochensplitter. Blut spritzte pulsierend aus der Wunde. Noch im Tod hatte der Drache auch sie besiegt.

In Panik schnallte sie den Gürtel ab, den sie um die Taille trug, und versuchte die Blutung zum Stillstand zu bringen. Doch ihre Kräfte reichten nicht aus, um die improvisierte Aderpresse stramm genug zu ziehen.

Mit jedem Herzschlag ließen ihre Kräfte nach und die Versuchung wurde größer, sich einfach zurückzulehnen. Allein in dem eisigen Bachbett aufrecht zu sitzen kostete sie schon ungeheure Willenskraft.

Sie lachte. Einen Drachen mit einem Sack voller Wasser zu töten, um dann durch eine Drachenrippe getötet zu werden, das war eine Farce! Immerhin hatte sie ihren Freunden Vorsprung verschafft. Es war nicht vergebens gewesen …

Immer schneller tanzten die grellen Lichtpunkte vor ihren Augen. Und dann kam ein schwarzer Punkt dazu, der schnell größer wurde. Er schien ihr entgegenzufliegen. Das war das Ende. Erschöpft ließ sie sich zurücksinken. Das eisige Wasser spürte sie nicht einmal mehr.

*

»Nichts als Ärger hat man mit euch«, schimpfte Mozzabella und scheuchte eine Ziege zur Seite. »Abgesehen von den traditionellen Angriffen zu Samhaim sind wir mit den Dunklen gut ausgekommen. Und jetzt …« Sie warf Wallerich und Birgel einen finstren Blick zu. »Kaum lümmeln zwei Heinzelmänner am anderen Flussufer herum, haben wir einen ausgewachsenen Krieg am Hals!«

»Wir haben aber …«, setzte Wallerich an, doch die Älteste schnitt ihm mit einer barschen Geste das Wort ab.

»Ich will gar nicht wissen, was ihr drüben angestellt habt! Vor ein paar Stunden hat es eine gewaltige Erschütterung des magischen Gleichgewichts in unserer Welt gegeben. So etwas ist noch nie geschehen, solange ich lebe! Und nun passiert es ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ihr beiden Tunichtgute, die ihr für Magie nichts übrig habt, euch drüben herumgetrieben habt. Versucht nicht zu behaupten, dass das ein Zufall ist! Ihr verschwindet jetzt und ich und meine Freundinnen werden dafür sorgen, dass hier alles wieder in Ordnung kommt.«

»Du solltest mich wirklich anhören«, versuchte es Wallerich erneut. Seit sie vor einer halben Stunde von Alben gejagt die Tore der Colonia erreicht hatten, hatte Mozzabella sie nicht einen Augenblick zu Wort kommen lassen, sondern war mit ihnen auf direktem Wege zu den Ziegenställen geeilt, hinter denen das Tor in die andere Welt lag.

»Eine Kameradin von uns ist zurückgeblieben«, sagte Rolf leise. »Könntest du vielleicht in Erfahrung bringen …«

»Schöne Helden seid ihr! Eine Frau zurückzulassen! Ich werde sie schon auftreiben. Aber es sollte mich nicht wundern, wenn sie mit euch nichts mehr zu tun haben will! Männer! Es ist doch immer das Gleiche mit euch, egal wie groß ihr seid!« Inzwischen hatten sie die hinterste der Höhlen erreicht und vor ihnen lag das schmucklose Portal, durch das sie nach Hause gelangen würden. Mozzabella schnippte lässig mit den Fingern und die mächtigen Torflügel schwangen auf. Doch statt einem Gang, der in die Finsternis führte, lag hinter dem Tor eine glatte Felswand.

Wallerich eilte an der Ältesten vorbei und tastete ungläubig über den Stein. Das konnte nicht sein! Manchmal gab es Störungen, wenn man von einer Welt in die andere wechseln wollte, doch dass ein Tor einfach so verschwand, davon hatte er noch nie gehört.

Mozzabella zeichnete mit ausgestreckten Händen ein unsichtbares Muster in die Luft und starrte minutenlang auf den Fels. Abgesehen vom gelegentlichen Meckern der Ziegen, die diese Katastrophe augenscheinlich kalt ließ, herrschte beklemmende Stille in der Höhle. Schließlich rieb sich die Älteste nachdenklich die Nase. »Ein Fluch. Aber es muss noch mehr geschehen sein.« Wieder bedachte sie Wallerich mit einem finsteren Blick. »Der technische Firlefanz, mit dem ihr an den Toren herumexperimentiert habt … Da muss irgendetwas kaputt sein. Ein Fluch allein könnte niemals ein so altes Tor verschwinden lassen.«

»Ausgeschlossen!«, entgegnete Wallerich energisch. »Alle Vorrichtungen sind dreifach gesichert. Nicht einmal ein Erdbeben könnte das Tor gefährden. Wir haben an alles gedacht!«

»Das sieht man!«, zischte die Älteste. »Ich hätte nicht übel Lust, euch beide Taugenichtse an die Dunklen auszuliefern.«

»Gibt es denn keinen anderen Weg nach drüben?«, fragte Till. »Ich meine, das kann doch nicht das einzige Tor sein.«

Mozzabella schüttelte den Kopf. »Ihr müsstet mehrere Tage reisen. In Anbetracht der Tatsache, dass ihr ganze Heerscharen von Verfolgern auf den Fersen habt, halte ich das für keine gute Idee. Ihr sitzt hier fest. Es sei denn …« Sie sah ihn nachdenklich an. »Bist du dir Neriellas Liebe wirklich sicher?«

*

Feines Wurzelgeflecht streifte Tills Gesicht und verfing sich in seinen Haaren. Dieser verdammte Fluchttunnel mochte für Heinzelmänner bequem zu passieren sein, aber für Menschen war er eine Tortur. Seit mehr als einer Stunde krochen sie nun schon durch den gewundenen Gang, der laut Mozzabellas Worten in einem kleinen Wald weit vor den Toren Colonias enden sollte.

Sie hatten die Pferde und alle schwere Ausrüstung in der kleinen Stadt zurückgelassen. Sollte der Plan der Ältesten fehlschlagen, waren sie geliefert. Ohne Vorräte und warme Decken würden sie es niemals bis hinauf in die Schneeeifel schaffen, wo sich das nächste Tor befand.

»Frauen!«, brummte Wallerich, der ein kleines Stück vorausging und eine Blendlaterne hochhielt. »Sie hätte das melden müssen … Und dann dieser Tunnel. Ohne Verschalung und Stützbalken. Würde mich nicht wundern, wenn uns der ganze Mist hier jeden Moment auf den Kopf fällt.«

»Könntest du freundlicherweise den Mund halten?« Almats Stimme klang zittrig. Der Ui Talchiu kroch unmittelbar hinter Till. Er litt unter Klaustrophobie und es war nur einem Zauber Mozzabellas zu verdanken, dass er überhaupt in diesen Tunnel gekrochen war.

Wallerich pfiff leise durch die Zähne. »Was haben wir denn hier?«

Der Gang hatte sich ein wenig erweitert. Hinter einem Wurzelgeflecht konnte Till eine runde hölzerne Tür entdecken. Rechts und links daneben standen zwei eisenbeschlagene Kisten. Der Heinzelmann beugte sich bereits über eine von ihnen und hatte den schweren Deckel hochgeklappt. Neugierig kroch Till näher.

»Frauen!«, schnarrte der Heinzelmann erneut. »Kein Heinzelmann würde auf so eine Idee kommen!«

Jetzt sah auch der Student, was ihren Führer so in Rage gebracht hatte. In der Kiste befand sich ein reichhaltiges Sortiment von Kleider- und Schuhbürsten.

»Macht endlich die verdammte Tür auf und lasst mich hier raus«, fluchte Almat und versuchte sich an Till vorbeizudrängeln. »Nie wieder setze ich einen Fuß in einen Heinzelmännchenfluchttunnel.«

Wallerich stieß die Tür auf und Augenblicke später war Till im Freien. Der Ausgang des Tunnels wurde durch ein Brombeerdickicht verborgen. Es war dunkel geworden und dichter Nebel verhüllte den Blick zum Sternenhimmel.

»Weiß jemand, wo wir sind?«, fragte Oswald. Er hatte sich eine der winzigen Kleiderbürsten mitgenommen und säuberte gerade seine bestickte Leinenhose.

»Ich kann kaum meine Nasenspitze sehen«, beschwerte sich Birgel und schnupperte demonstrativ. »Wir sind an einem Ort, wo es im Umkreis von mindestens hundert Metern niemanden gibt, der gerade ein Abendessen zubereitet, wie es sich für diese Uhrzeit gehören würde.«

Wallerich baute sich vor Till auf, schob seine Mütze in den Nacken und sah herausfordernd zu dem Studenten hinauf. »Na, dann zeig uns mal, wo dieser sagenhafte Baum steht. Ich bin gespannt, wie du ihn finden willst. Wahrscheinlich wirst du uns geradewegs in die Arme der Dunklen führen.«

Till zog das dünne Lederband über den Kopf, an dem der seltsame Stein hing, den Neriella ihm zum Abschied gegeben hatte. Sie hatte gesagt, wann immer er Nebenan den Weg verlieren würde, könne der Stein ihm helfen, und auch Mozzabella hatte behauptet, dass der Stein sie retten könnte, wenn er und die Dryade einander in aufrichtiger Liebe zugetan seien. Till hielt den Splitter vom Herzen des Baumes in seiner Hand und drehte ihn unschlüssig. Er fühlte sich warm an und ein angenehmes, mattgrünes Leuchten ging von ihm aus. Hätte Neriella ihm nur gesagt, wie er zu verwenden ist!

»Nun? Was passiert jetzt?«, fragte Wallerich herausfordernd.

Der Student zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« War seine Liebe vielleicht nicht groß genug, um das Wunder zu wirken, zu dem der Stein angeblich fähig war? Mozzabella hatte behauptet, der Splitter könne sie geradewegs zu einem verborgenen Tor führen. Sie hatte jedoch nicht gesagt, wo es lag, und überhaupt hatte sie aus dem Stein und dem Tor ein großes Geheimnis gemacht.

»Gib mir das Ding mal!« Wallerich streckte Till die Hand entgegen.

Zögernd reichte der Student ihm den Stein. Doch kaum dass Wallerich die Lederschnur in die Hand nahm, verblasste das magische Glühen und Neriellas Morgengabe sah plötzlich aus wie ein ganz gewöhnlicher dunkler Bernstein.

»Jetzt hast du ihn kaputtgemacht, du Banause!« Oswald riss dem Heinzelmann das Artefakt aus der Hand und gab es Till zurück. »Du kleiner Pedant weißt doch gar nicht, was wahre Liebe ist! Untersteh dich den Stein noch einmal anzufassen!«

Wallerich biss die Zähne zusammen, sodass sich Muskelstränge auf seinen kahl rasierten Wangen abzeichneten. Seine Augen jedoch schimmerten feucht. Er wandte sich ab und stapfte ein paar Schritte in die Dunkelheit davon.

Als Till den Talisman in die Hand nahm, glühte der Stein erneut auf. Ohne dass der Student sich bewegt hätte, begann das Lederband hin und her zu pendeln.

»Er will uns eine Richtung weisen«, raunte Martin.

Das schien offensichtlich, doch war sich Till keineswegs darüber im Klaren, welche Richtung. Das Pendel schwang in gerader Linie vom Ausgang des Stollens weg. Also mussten sie entweder in den Nebel hinaus oder aber in den engen Fluchttunnel zurück, weil sie dort vielleicht etwas Entscheidendes übersehen hatten. Aber konnte es richtig sein, wie die Ratten durch die Erde zu kriechen?

Nicht weit entfernt erklang ein unheimliches Heulen. Rolf zog seine Schwerter und sah sich gehetzt um.

Dies war eine Welt der Sagengestalten, entschied Till, und ein überzeugendes Finale konnte niemals in einem Tunnel stattfinden, in dem die Helden auf allen vieren kriechen mussten. Ihre Rettung oder aber das letzte Gefecht mit den Dunklen würde hier draußen im Nebel stattfinden. Auch er zog seine Waffe. »Folgt mir!«, rief er mit fester Stimme und niemand stellte seine Entscheidung infrage.

Bald waren ihre Stiefel und Hosen vom hohen Schnee durchnässt. Eiseskälte kroch ihre Waden empor. Wallerichs Blendlaterne war verloschen und allein der leuchtende Stein wies ihnen den Weg in einer Welt, die nur noch aus Dunkelheit und Nebel zu bestehen schien.

Manchmal hörten sie Geräusche weit hinter sich. Ein Heulen oder auch einen Ruf. Ihre Verfolger schienen ihre Spur gefunden zu haben, doch wurden auch sie durch den Schnee behindert.

Es mochten Stunden vergangen sein, seit sie den Fluchttunnel verlassen hatten, als sie einen großen Wald erreichten. Die Bäume hier waren seltsam gebeugt. In ihren Ästen hingen Tuchfetzen und Amulette aus Knochen und Federn.

Noch immer wies das Pendel geradeaus, doch begann der Stein nun noch intensiver zu leuchten. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto wärmer wurde es. Bald wich der Schnee eisigem Schlamm, dann ließen sie die Spuren des Winters gänzlich hinter sich. Auch der Nebel lichtete sich. Ein leichter Wind wehte ihnen entgegen und ließ die Knochenamulette in den Ästen leise klackernd aneinander schlagen.

»Das muss ein heiliger Hain sein«, raunte Oswald, »so wie der Steinbruch, in dem meine Hütte steht. Gewiss hat das kleine Volk hier seine zauberkräftigen Steine errichtet.«

»Wir sind das kleine Volk«, brummte Wallerich missmutig, »auch wenn mir diese Bezeichnung überhaupt nicht gefällt. Und ich kann dir versichern, dass wir mit solchem Hokuspokus nichts zu tun haben.«

»Dann gibt es hier ein Wesen von großer Macht«, beharrte Oswald. »Oder vielleicht einen Sagendichter, der seine Phantasien vom locus amoenus Wirklichkeit werden ließ.«

»So wie du in deinem Tal?«, fragte Wallerich.

»Der Feenstein und all die blühenden Bäume waren schon dort, als ich kam.«

»Vielleicht waren sie auch da, weil du kommen würdest«, entgegnete der Heinzelmann. »Doch zugegeben, zu deinem Naturell würde eher ein verkommenes Wirtshaus passen als dieser alte Steinbruch.«

»Was weißt du schon von mir?«, entgegnete der Ritter.

»Schon viel zu viel«, nörgelte Wallerich. »Mir wäre es auch lieber, wir hätten uns nie getroffen.«

Schweigend gingen sie weiter, während sich der Wald um sie herum mehr und mehr veränderte. Bald prunkten die Bäume mit leuchtendem Frühlingsgrün und schneeweißen Blüten. Es duftete nach wilden Rosen und Löwenzahn.

Schließlich erreichten sie eine Lichtung, in deren Mitte ein himmelhoher Baum stand. Seine weit ausladenden Äste trugen zugleich Früchte und zarte rosafarbene Blüten. Manche Zweige waren auch dürr, wie abgestorben. Es schien, als seien alle vier Jahreszeiten zugleich in diesem absonderlichen Baum vereint. Während sie noch staunend auf der Lichtung standen, trat plötzlich eine schlanke Frauengestalt aus dem Stamm. »Till, endlich bist du in Sicherheit!« Die Dryade breitete die Arme aus und lief dem Studenten entgegen, um ihn stürmisch an sich zu drücken. Ein Hauch von Frühling und Apfelblütenduft schien sie zu umgeben. Ihre Küsse ließen Till alle Sorgen vergessen, bis ein lautes Räuspern ihn in die Wirklichkeit zurückholte.

»Holde Dame, es fällt mir schwer, die sich erfüllende Minne zu stören, doch ich fürchte, dass unsere Verfolger uns nur allzu bald einholen und dass sie weniger Skrupel haben werden, als ich sie habe. Darf ich mich im Übrigen vorstellen, Oswald von Wolkenstein.«

Neriella löste unwillig ihre Umarmung und musterte die bunte Schar, die Till begleitete. »Ich kann euch beruhigen. Niemand vermag diese Lichtung ohne meine Erlaubnis zu betreten, es sei denn, er besitzt einen Splitter vom Herzen meines Baumes. Doch außer meinem Geliebten habe ich noch niemals jemandem ein solches Geschenk gemacht. Nun folgt mir, ich werde euch nach Hause bringen und …« Sie sah Oswald an und blickte dann zu Wallerich. »Was ist mit ihm? Darf er unsere Welt verlassen?«

Der Heinzelmann vermied es, zu Neriella aufzublicken, als er antwortete. »Er kann im Moment nicht hier bleiben. Die Dunklen sind nicht so gut auf ihn zu sprechen.«

»Dann soll er mitkommen. Ihr müsst einfach nur in den Baum hineintreten. Leider bin ich nicht dazu gekommen, aufzuräumen. Ihr kamt etwas überraschend. Schert euch also nicht um das Laub vom Vorjahr und … ach ja, vielleicht fällt es euch leichter, den Baum zu betreten, wenn ihr die Augen schließt, während ihr den Schritt in den Stamm hineinmacht. Falls ihr zu sehr daran zweifelt, dass es möglich ist, einen Baum zu betreten, könnte es sonst zu unschönen Unfällen kommen. Es mit geschlossenen Augen zu versuchen erleichtert die Sache.«

Abgesehen von Almat, der es erst beim dritten Versuch in den Stamm hinein schaffte, gelang es den Gefährten ohne Schwierigkeiten, der Dryade zu folgen. Als Letzter betrat Till den Baum. Deutlich hatte er zuvor am Rand der Lichtung huschende Schatten gesehen. Fünf oder sechs Alben hatten sie eingeholt. Doch keiner von ihnen hatte es gewagt, die Lichtung zu betreten.

Als Till in den Baum trat, schien es ihm, als zerrten dünne Äste an seinen Kleidern. Sobald er die Augen öffnete, war er allein mit Neriella. Über ihnen flackerte grünlich das Herz des Baumes. Der Stein war auf kaum mehr als Walnussgröße zusammengeschrumpft.

»Was ist geschehen?«

»Nichts, was deine Liebe nicht wieder heilen könnte. Euch von Nebenan hierher zu bringen hat mich sehr viel Kraft gekostet und ich könnte es so schnell nicht noch einmal tun. Ihr wart viele. Mit der Zeit wird der Stein jedoch wieder wachsen. Er ist lebendig, so wie der Baum, der ihn umgibt.«

Till konnte immer noch nicht begreifen, wie es der Dryade möglich gewesen war, nach Nebenan zu kommen.

Neriella zog ihn zu sich heran und küsste ihn zärtlich. Dann flüsterte sie: »Stell mir nicht zu viele Fragen. Eine Frau sollte das eine oder andere Geheimnis bewahren dürfen. Kennst du nicht die Geschichte der Melusine? Doch lassen wir das! Deine Freunde waren so freundlich schon vorzugehen.« Sie lächelte verführerisch. »Ich fürchte, du wirst dich verspäten.«