9

»Wie konntest du das tun, Nöhrgel?«

Der Älteste ignorierte den jungen Heinzelmann, der wie ein aufgeschrecktes Huhn in seiner engen Kammer auf und ab lief und alle paar Schritte über Computerkabel stolperte. Nöhrgel prüfte noch einmal den Inhalt des kleinen Koffers, den er gepackt hatte. Die meisten Anzüge würde er zurücklassen müssen. Er seufzte. Dort, wo er nun hinging, würde er keine Anzüge mehr brauchen. Er trug jetzt eine speckige, schwarze Lederhose, eine dunkelgrüne Lodenjacke mit Hirschhornknöpfen und dazu einen roten Borsalino, den er seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr aufgesetzt hatte. Die alten Sachen hervorgekramt zu haben, das half. In ihnen fühlte er sich jünger.

»Ich hätte bei der Sache mit dem Werwolf sterben können, nicht wahr?«

Birgel war unglaublich, dachte der Älteste. Während er von seinem möglichen Tod sprach, stand er in der Tür, fingerte nervös an seiner Zipfelmütze herum, die er mit Händen vor seinen Kugelbauch gepresst hielt, und starrte dabei verlegen auf seine Stiefelspitzen, als sei er es, der einen Fehler gemacht hatte.

»Ich hatte vor dem Unternehmen mit dem Aktenkoffer den Wahrscheinlichkeitskalkulator befragt, Junge. Das war der Grund, warum ich dich ausgewählt hatte. Von allen Heinzelmännern, die infrage kamen, warst du der einzige, für den der Rechner als größte Gefahr des Tages eine akute Zwiebelkuchenvergiftung vorhergesagt hat.«

»Nach Aussagen wie der über Sharon Stone traust du diesem verdammten Rechner noch!« Wallerich versetzte dem Computer einen Fußtritt, der den Bildschirm aufflackern ließ. »Du hast uns die ganze Zeit nur benutzt, ohne uns zu verraten, worum es eigentlich ging.«

»Stimmt!«, gab Nöhrgel unumwunden zu. »Wenn ich dich eingeweiht hätte, hättest du nicht mitgemacht. Und was Birgel angeht, er hätte zwar zu mir gehalten, wäre aber vor Gewissensbissen fast um den Verstand gekommen, weil der Hohe Rat niemals gebilligt hätte, was wir tun.«

»Ach! Und mit dem Prozess ist jetzt alles besser gelaufen? Warum hast du dich denen selbst ans Messer geliefert? Du hattest Laller in der Tasche! Was du gemacht hast, war völlig überflüssig!«, fluchte Wallerich.

Der Älteste klappte den Koffer zu. »Es musste sein. Ich lass euch beiden ein Geschenk zurück. Ein Abenteuer.«

»Ein Abenteuer?«, fragte Birgel leise. »Werde ich den Werwolf etwa wieder treffen?«

»Wenn ich dir das verrate oder euch beiden sage, was zu tun ist, würde ich euch ein Stück eurer Zukunft stehlen. Das ist es doch, was du mir vorhältst, Wallerich. Nun kannst du frei entscheiden!« Nöhrgel nahm den Lorbeerkranz, den er in der Ratsversammlung getragen hatte, und legte ihn oben auf den Bildschirm des Wahrscheinlichkeitskalkulators. »Der Rechner ist mit einem anderen Computer vernetzt, über den ich unter Goldfluegel@hznet.de zu erreichen sein werde.«

»Wohin wirst du gehen?« Birgel trat zur Seite, als der Älteste zur Tür kam.

»An einen Ort, wo nur das Auto eines Träumers parken kann. Keine Sorge, ich bin noch in der Stadt und werde ein Auge auf euch haben. Dennoch ist es besser, wenn ich in meinem Exil vorerst allein bleibe. Ob ihr es glaubt oder nicht, wir haben die Kreise der Dunklen gestört. Nun ist es wichtig, dass ich nicht dort bin, wo sie mich erwarten.« Nöhrgel drückte die Klinke herab, trat durch die Tür und ging den dunklen Gang hinunter, der dahinter lag. In der Kammer, die er jetzt verließ, hatte er die letzten fünfzig Jahre verbracht. Es war wirklich an der Zeit, neue Wege zu beschreiten! Er drückte den Knopf für den verborgenen Aufzug, den er in ein stillgelegtes Abwasserrohr gebaut hatte. Hinter der Aufzugtür ächzten Seilzüge. Als Nöhrgel sich umdrehte, sah er die beiden jungen Heinzelmänner als zwei Schatten im erleuchteten Rechteck seiner Zimmertür. »Du solltest den neuen Freund von Neriella in Ruhe lassen, Wallerich. Es könnte der Tag kommen, an dem du auf seine Hilfe angewiesen bist.«

»Ich soll auf einen Menschen angewiesen sein?« Wallerich schnaubte verächtlich. »Bevor ich mir von einem Langen helfen lasse, lass ich mir lieber den Bart scheren und gehe in Sack und Asche! Und übrigens … Wolltest du nicht aufhören dich in unsere Zukunft einzumischen, Alter?«

Nöhrgel zuckte mit den Schultern. »So schnell kommt man halt nicht aus seiner Haut, Junger.« Die Aufzugtür öffnete sich. Der Älteste schob den Koffer hinein und drehte sich dann noch einmal um. Mit würdevoller Geste nahm er den roten Hut ab und verbeugte sich. »Es war mir eine Ehre, dass ihr meine Freunde wart. Ihr habt mein Leben reicher gemacht.«

Birgel erwiderte den Gruß, nur Wallerich stemmte trotzig die Hände in die Hüften, genau, wie Nöhrgel es von ihm erwartet hatte.

*

Cagliostro massierte sich mit beiden Händen die Schläfen. Er war müde, hatte Kopfschmerzen und war nass bis auf die Knochen. Wären sie doch bloß nicht hierher gekommen! Mariana stand neben dem qualmenden Feuer und wiederholte schon zum achten Mal ihr Samhaim-Ritual, doch es öffnete sich kein Tor.

Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Sie hatten bei der Zentralmensa von einem windigen Osmanen ein Auto gekauft. Der Muselman war der Einzige gewesen, der statt des üblichen schmutzigen Papiergeldes ohne Fragen zu stellen einen Beutel voller Goldmünzen genommen hatte. Und dann hatte Mariana eine Idee gehabt. Sie hatte vorgeschlagen in die Eifel zu fahren, um ihr Ritual zu wiederholen.

So kam es, dass sie seit Stunden am Rand einer schlammigen Wiese im Regen standen. Das Mädchen hatte Ausdauer, so viel musste man ihr lassen. Cagliostro zog ein Spitzentüchlein aus dem Ärmel und schnäuzte sich. Mariana zitterte vor Anstrengung und Kälte. Die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengekniffen, versuchte sie sich zu konzentrieren. Dann hob sie die Hände in großer Geste zum Himmel.

Wenn er noch im gleichen Geschäft wie vor zweihundert Jahren gewesen wäre, hätte sie eine gute Assistentin abgegeben, dachte der Graf melancholisch und schnäuzte sich noch einmal. Er schien sich in der Tat einen Schnupfen geholt zu haben.

Baldur blickte auf und blinzelte mitleidig. Der Werwolf war der Einzige, der seinen Spaß an diesem Ausflug hatte. Cagliostro würde niemals begreifen, warum es Glücksgefühle vermittelte, sich in Kuhfladen zu wälzen und rohes Kaninchenfleisch samt Fell und Knochen zu fressen. Aber er war ja schließlich auch kein Werwolf.

»Du bist nicht bei der Sache«, lallte Mariana gereizt. Sie hatte im Laufe des Nachmittags schon drei Tollkirschen zu sich genommen und sprach in einer seltsam gedehnten Art, die Laien unerklärlicherweise immer mit magischen Ritualen in Verbindung brachten. »So wird das nie was! Du musst dich konzentrieren!«

Der Graf schmunzelte amüsiert. Sie wollte ihm also das Zaubern beibringen! »Eben hast du mir noch erklärt, dass dein Assistent bei der Beschwörung auch nicht bei der Sache war. Vielleicht war er es ja, der das Tor geöffnet hat?«

»Dieser Trottel weiß nicht mal, wann es für einen richtigen Mann an der Zeit ist, seinen Hosenstall zu öffnen!«

Cagliostro nickte mitfühlend. »Dennoch ist es so, dass weder Potenz noch Intelligenz in irgendeinem Zusammenhang mit magischer Begabung stehen. Hat er vielleicht eine auffällige Geste gemacht oder etwas Besonderes gesagt?«

»Der Stiefel!« Marianas Augen leuchteten auf. »Das muss es gewesen sein!«

»Stiefel?«

Die Druidin schilderte dem Grafen die Umstände der Beschwörung. Cagliostro blickte sehnsüchtig zum Auto. Es war der einzige trockene Platz im Umkreis von mindestens einem Kilometer. »Du erwartest also, dass ich jetzt meine Stiefel ausziehe und mich barfuß in den Schlamm stelle?«

»Ein Stiefel würde genügen. Stell dich nicht so an, als seist du aus Zucker. Du bist doch ein ganzer Mann.« Mariana beugte sich vor und warf einen weiteren Grillanzünder in das kümmerliche Feuer.

Was sollte man zu dieser Argumentation noch sagen? Cagliostro dachte wehmütig an sein warmes Italien und setzte sich in den kalten Schlamm, um seinen engen Schaftstiefel vom Fuß zu bekommen. Baldur hatte von seinem Kaninchen abgelassen und nutzte die Gelegenheit, ihm die Seidenstrümpfe abzulecken.

»So, jetzt nimmst du den rechten Stiefel in die linke Hand, steckst deinen rechten Arm in den Stiefelschaft, machst ein dummes Gesicht und beginnst mit der Anrufung!« In ihrer gedehnten Art zu sprechen brauchte die Druidin mehr als eine Minute, um die Anweisungen herunterzuleiern.

Cagliostro unterdrückte mit Mühe sein Zähneklappern und versuchte jeden Gedanken an das Sauwetter aus seinem Geist zu bannen. »Ich rufe die lodernde Macht, die Hitze und Glut entfacht, und …«

»Neeein! Du machst das zu gut. Du musst die Beschwörung stammeln.«

Cagliostro riss endgültig der Geduldsfaden. Wütend schmiss er den Stiefel in den Schlamm. »Ich bin der Großkoptha! Anrufungen zu intonieren ist meine besondere Begabung. Ich bin der Vorsitzende der Ägyptischen Loge. Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Erzähl mir nicht, wie man ein Ritual vollzieht. Ich bin es meinem Ruf schuldig, dabei nicht herumzuschlampen!«

Die Druidin sah zum Werwolf. »Wirst du es verraten, wenn Cagli bei dieser Beschwörung herumstottert?«

Baldur wedelte mit dem Schweif und machte Männchen.

»Na schön«, knurrte der Graf unwillig und bückte sich nach dem Stiefel. »Eine Beschwörung ist kein Kinderspiel. Wenn wir Mist bauen und ein Dämon auftaucht, der sich sämtliche Knochen gebrochen hat, weil er durch ein schlüssellochgroßes Tor aus seiner Existenzebene gezerrt wurde, dann werde ich nicht damit hinter dem Berg halten, wer an diesem verkorksten Zauberspruch schuld ist.«

»Damit werde ich klarkommen«, antwortete Mariana gedehnt. »Was ist mit dir?« Baldur hatte irgendwo einen Knüppel aufgetrieben, den er der Druidin vor die Füße legte. Dann machte er wieder Männchen und gab ein erwartungsvolles »Wuff« von sich.

»Ich denke, er ist meiner Meinung«, kommentierte die Druidin und begann erneut mit der Anrufung der alten Götter.

Cagliostro starrte in die schwächlich tänzelnden Flammen und lauschte dem Regen. Weißer Schaum bildete sich an den Schnittstellen der nassen Holzscheite. Ein Käfer flüchtete vor dem Feuer und verschwand im zertretenen Gras. Der Graf spürte, wie Kälte seine Waden hochstieg. Er zeigte nicht gerne seine Beine. Für sein Empfinden waren sie zu dünn geraten. Hoffentlich war diese Farce von Beschwörung bald zu Ende. Marianas Stimme hatte etwas Einschläferndes. Cagliostro dachte an ihr Hotelzimmer. Es war schön, wirklich zaubern zu können. Im Grunde hatte er dem Erlkönig viel zu verdanken. Wo der Kerl wohl gerade steckte?

»Cagli!« Marianas Stimme schreckte ihn aus seinen Tagträumen. »Dein Einsatz«, erklärte sie gedehnt.

»Ähm …« Die Flammen änderten schlagartig die Farbe. Eine grüne Lichtsäule wuchs aus dem dichten Qualm.

»Das Tor!«, flüsterte Mariana ergriffen. »Wir haben es geschafft.«

Nur leider wissen wir nicht, was auf der anderen Seite liegt, dachte Cagliostro und hob den Koffer auf. »Du weißt, was du zu tun hast?«

Baldur klemmte den Schwanz zwischen die Hinterläufe und machte Anstalten, sich hinter Mariana zu verstecken.

»Es ist die Zeit für heldenhaftes und entschlossenes Handeln. Die Stunde der wahren Patrioten. Baldur, dies ist nur ein kleiner Schritt für dich, doch es wird ein großer Schritt für alle Geknechteten Nebenan werden.«

Der Werwolf winselte kläglich. Diesmal würde der Trick mit dem Stöckchen nicht mehr klappen, dachte der Graf ärgerlich. Er würde schweres Geschütz auffahren müssen. »Du weißt, wohin du gehen musst!« Cagliostro schleuderte den Koffer durch das leuchtende Tor ins Nichts und zog seinen linken Seidenstrumpf aus. Baldur sprang hinter Marianas Rock hervor, tänzelte aufgeregt um den Grafen und schnappte nach dem Strumpf. »So ist’s brav!«

Cagliostro holte weit aus und warf den schmutzigen Seidenstrumpf durch das Tor. Mit freudigem Kläffen machte Baldur einen Satz und war im grünen Licht verschwunden.

Der Graf wischte sich das nasse Perückenhaar aus der Stirn und atmete erleichtert auf. »Es geht doch nichts über treue Domestiken.«

»Versteh ich nicht!« Die Wirkung der Tollkirschen schien noch lange nicht vorüber zu sein. Die Druidin machte einen unsicheren Schritt in Richtung der Flammen. »Schnell, bevor das Tor sich schließt«, stammelte sie gedehnt.

Cagliostro erhaschte gerade noch einen Zipfel ihres Mantels und riss sie mit aller Kraft zurück. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Wir haben doch keine Ahnung, wohin das Tor führt und wer auf der anderen Seite steht. Bist du schon einmal einem unausgeschlafenen Drachen auf den Schwanz getreten oder einem übellaunigen Dämon in die Arme gelaufen? Wir bleiben schön hier. Wenn Baldur den Koffer dort abliefert, wo ich es ihm befohlen habe, müsste er in drei oder vier Tagen zurück sein. Bis dahin müssen wir nur eine Kleinigkeit aus dem Dom abholen. Haben wir erst einmal das Elfenbein, dann können wir alle Tore öffnen, die die tyrannischen Zwerge besetzt halten.«

*

Mit einem markerschütternden Rülpser brachte Mazzi die aufgeregte Ratsversammlung zur Ruhe. »Laller, würdest du uns bitte den Sachverhalt schildern!« Der korpulente Heinzelmann blickte in die mürrischen Gesichter der übrigen Standesvertreter am langen Ratstisch. »Und euch würde ich darum bitten, unserem Ältesten zuzuhören. Anschließend wird jeder Gelegenheit haben, sich zu Wort zu melden.«

Laller spielte nervös an einem seiner Bartzöpfe und räusperte sich. »Am frühen Abend ist es zu einer weiteren Anomalie in der Eifel gekommen. Offensichtlich ist wieder ein Tor nach Nebenan geöffnet worden. Ich habe bereits unsere Brüder Nebenan benachrichtigt. Zur Stunde werden unsere sämtlichen Spitzel, die in Kontakt mit den Dunklen sind, zurückgezogen. Nach dem Verlust der Namensliste ist es zu gefährlich, sie weiterhin im Einsatz zu belassen. Dies wiederum bedeutet, dass wir gerade jetzt, in einer kritischen Phase, kaum weitere Informationen über das Vorgehen der Dunklen bekommen werden.«

»Und der Wahrscheinlichkeitskalkulator?«, warf Motzki, der wie üblich griesgrämig dreinblickende Vertreter des Clans der Taschenstopfer, ein. »Hat denn hier keiner auch nur für einen Groschen Verstand? Warum benutzen wir nicht diese Maschine, um die Dunklen auszuspionieren?«

»Weil der Computer nach irdischen Parametern programmiert ist!«, erwiderte Laller scharf. »Ich habe ihn heute Nachmittag getestet und nach der durchschnittlich zu erwartenden Größe eines zweihundertjährigen Höhlendrachen gefragt. Als wichtigste Quelle zur Beantwortung dieser Frage nannte er mir ein Kinderbuch, bei dem es um einen Lokomotivführer geht, der ein Findelkind großzieht. Nach dieser Antwort erübrigen sich weitere Fragen über Nebenan

»Könnte es vielleicht sein, dass du nicht in der Lage bist, mit dieser Maschine richtig umzugehen?«, hakte Motzki nach.

»Da der Umgang mit einem Computer für einen halbwegs gebildeten Heinzelmann ungefähr so kompliziert wie Nasenbohren ist, habe ich keine Probleme damit. Deine Frage, lieber Motzki, impliziert doch wohl, ob wir Nöhrgel nicht lieber zurückholen sollten. Daraus wiederum lässt sich nur schließen, dass du ein Parteigänger des verbannten Hochverräters bist. Du weißt, was die Gesetze des Rates über den Umgang mit Sympathisanten von Aufwieglern vorschreiben? Da wäre zunächst einmal Paragraph 17, Absatz 3 der Querulantenverordnung von 1703, wo es wörtlich heißt: Wer aber der Thätigkeit …«

»Genug, Laller!«, schnauzte Matzi erbost. »Auf diese Weise kommen wir nicht weiter! Wir sollten uns auf das Wesentliche beschränken. Eine Gruppe junger Heinzelmänner ist in die Hocheifel geflogen, um sich unter dem regionalen Kleinwild umzuhören und eine Beschreibung der Personen zu bekommen, die das Tor geöffnet haben. Wir haben außerdem …«

»Entschuldige, wenn ich dich noch einmal unterbreche, Vorsitzender, aber ich habe mich mit dem Problem bereits beschäftigt und dazu die Akten Nöhrgels eingesehen.«

»Hast du auch eigene Ideen?«, brummte Motzki.

Laller ließ sich von dem Einwurf diesmal nicht aus dem Konzept bringen und fuhr in sachlichem Tonfall fort: »Wir haben einige Namen von Menschen, die mit dem plötzlichen Auftauchen der Dunklen in Verbindung gebracht werden können. Außerdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass Wallerich und Birgel einen wesentlichen Teil der Schuld daran tragen, dass die beiden Dunklen nicht wieder eingefangen werden konnten.«

»Das wissen wir alle«, wandte Matzi ein. »Aber da unsere Spitzel nun einmal alle aufgeflogen sind, können wir

Nebenan nichts mehr tun. Die Dunklen wissen genau, welchen Zwergenvölkern sie trauen können und welchen nicht. Wir werden in absehbarer Zeit keine V-Männer mehr bei ihnen einschleusen können. Uns sind die Hände gebunden. Wir müssen warten, bis sie herüberkommen und sie von hier aus wieder zurückschlagen.«

»Und genau das ist nicht richtig!« Laller erhob sich und ordnete mit einem raschen Griff seine Bartzöpfe. »Die Langen haben in solchen unangenehmen Situationen einen Lösungsansatz, der ebenso einfach wie genial ist. Sie nennen es das Verursacherprinzip. Man sucht sich einen Sündenbock und überlässt es ihm, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Man findet einen Schuldigen, setzt ihn unter Druck und lässt ihn den Mist wegkehren, der angerichtet wurde.« Der neue Älteste sah zu Matzi und erwischte den Ratsvorsitzenden dabei, wie er gerade ganz in Gedanken versunken in seiner Nase bohrte. Ertappt richtete sich Matzi ruckartig auf, was beinahe zu einem schmerzhaften Unfall geführt hätte, griff nach dem kleinen Holzhammer, der vor ihm lag, und schlug damit dreimal auf den Tisch. »Meine lieben Brüder, lasst uns über Lallers Vorschlag abstimmen!« Er blickte in die Runde und hörte, wie sich Motzki räusperte. Doch noch bevor der Heinzelmann etwas sagen konnte, schlug er erneut mit dem Hammer auf den Tisch. »Damit ist der Vorschlag angenommen.«

Die meisten der Versammelten nickten zufrieden. Nur Motzki brummte vor sich hin. »Verursacherprinzip! Als ob von den Langen jemals etwas Gutes gekommen wäre.«

*

Mit einem tänzelnden Schritt schaffte es Till, der Klinge auszuweichen, die nach seiner Kehle gezielt hatte. Er spürte den Luftzug des Schwerts, als es kaum mehr als drei Fingerbreit an seinem Hals vorbei durch die Luft schnitt. Mit einer halben Drehung kam er in den Rücken des Schotten und rammte ihm seinen linken Ellenbogen ins Fleisch. Der Krieger stöhnte auf, torkelte ein kleines Stück vorwärts, ging aber nicht zu Boden. Stattdessen drehte er sich behände um und hob sein Schwert, um sich gegen einen erneuten Angriff abzuschirmen.

Einige Augenblicke umkreisten die beiden einander.

»Hack ihm die Rübe ab«, grölte jemand in der Finsternis jenseits des Rings.

Till versuchte gegen das helle Scheinwerferlicht anzublinzeln, um zu sehen, was dort vor sich ging. Schweiß tropfte ihm von den Brauen, fand einen Weg in seine Augen und blendete ihn nun vollends. Der Student machte einen raschen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Seile, die den Ring abgrenzten.

Wie ein silberner Halbmond schnitt die Klinge des Schotten durch die Luft. Till riss sein Schwert hoch. Kreischend schrammten die Waffen aneinander vorbei. Er hatte zu spät reagiert! Ein abgebremster Hieb traf ihn seitlich in die Rippen. Er spürte keinen Schmerz. Etwas lief warm bis zum Gürtel hinab, staute sich dort einen Moment und schwappte dann auf den Oberschenkel, um sich einen Weg bis zu den Stiefeln zu suchen. Till presste die Hand auf die Seite und zog sie hastig wieder zurück. Die ganze Handfläche war dunkelrot verschmiert.

»Mach ihn alle, Schotte!«, schrie eine Frauenstimme aus der Finsternis. »Schneid ihn in Scheiben!«

Der Student versuchte sein Schwert zu heben, als der berockte Krieger erneut angriff. Sein Gegner brauchte nur einen Schlag, um ihm die Waffe aus der Hand zu prellen. Mit einer Fußangel und einem gleichzeitigen Stoß vor die Brust brachte ihn der Schotte zu Fall.

Kreischende Stimmen forderten den Krieger auf, die Sache zu Ende zu bringen. Doch statt darauf einzugehen stellte sich der Schotte breitbeinig über Till und fächelte ihm grinsend mit seinem Rock ein wenig Luft zu.

»Gnade«, wimmerte der Student. »Gib mir den Stahl, aber nicht das!« Seine Stimme ging in schallendem Gelächter unter.

»Der Schotte Brian O’Cloud besiegte den Scheich Ahmed ibn Saif Ramassud«, verkündete der DJ der Show mit sich überschlagender Stimme. »Nun ist es an euch, zu bestimmen, ob der Scheich noch einmal in den Ring steigen soll, weil er sich tapfer geschlagen hat und ihr ihn wieder kämpfen sehen wollt, oder ob Brian seinen Kreuzzug nun beenden soll.« Der Discjockey zog in diesem Moment die ersten Takte von Who wants to live forever von Queen hoch. Rolf, der Schotte, grinste breit und hob sein Schwert über den Kopf. Die Menge grölte immer lauter und der Moderator übertönte das Geschrei noch. »Halten wir es wie die Römer. Wer will, dass Ahmed bleibt, hebt den Daumen.«

»There is no time for us …«, hallte Freddie Mercurys Stimme aus Dutzenden von Lautsprechern, und die Scheinwerfer ließen ein Blitzlichtgewitter auf den Boxring niedergehen.

»Tja, ich fürchte, es sieht schlecht für dich aus, Scheich«, höhnte der DJ. »Ich sehe hier kaum jemanden, der für dich stimmt. Schotte, mach Schluss!«

Rolf hob sein Schwert und stieß es hinab. Till spürte einen leichten Druck auf der Brust und sah, wie ein großer dunkelroter Fleck auf seinem weißen Gewand erblühte. Widerliches Zeug, dieses Kunstblut, dachte er.

»Als Nächste erleben wir den von allen gefürchteten Magyaren aus den undurchdringlichen Wäldern Transsilvaniens, der die düstere Morrigan aus dem grünen Irland fordert. Aber nun zeigt unserem Schotten noch einmal, was ihr von einem echten Krieger haltet!«

Hunderte aufgepeitschter Jugendlicher schrien los und ließen Rolf hochleben. Triumphierend drehte er sich im Boxring und hob immer wieder sein Schwert über dem Kopf, während Martin und einer der Türsteher der Disco mit einer Trage kamen, um den Scheich von der Bühne zu schaffen.

Till hasste diesen Teil der Show! Einen Toten zu simulieren fand er ausgesprochen abgeschmackt, und über die Idee mit dem Kunstblut wollte er auch noch ein paar Takte mit Almat reden. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich in dem engen Gang zu den Künstlerkabinen ankamen und er wieder von den Toten auferstehen durfte. Im Gegensatz zur Disco, wo man an nichts gespart hatte, waren hier die Wände aus nacktem Beton und es roch so, als wären die beiden kleinen Toiletten neben der Umkleide schon seit Wochen nicht mehr gesäubert worden.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Martin ehrlich besorgt.

Till griff wütend nach einer Colaflasche, die neben der Tasche mit seinen Straßenkleidern stand, und betrachtete gleichzeitig die großen Blutflecken auf seinem Gewand. Er wünschte, Almat wäre mit in die Umkleide gekommen. Mit Martin konnte man sich nicht richtig streiten. Er war einfach zu nett!

»Ich habe meine Blutkapsel verschluckt«, brummte der Student missmutig.

Der Türsteher grinste breit und lehnte die Trage an einen leeren Spind.

»Was gibt’s da zu lachen? Bin ich vielleicht komisch? Stimmt irgendetwas nicht mit mir?« Er setzte die Colaflasche mit einem Knall auf den Tisch. »Wenn du willst, können wir uns gerne zwei Schwerter nehmen und die Sache draußen auf dem Parkplatz ausdiskutieren!«

Der Türsteher sah aus, als sei er geradewegs dem Werbeschild eines Bräunungsstudios entstiegen. Seine Haut war von gleichmäßig künstlicher Farbe, und seine regelmäßigen, strahlend weißen Zähne verrieten auf den ersten Blick, dass er einen nicht unerheblichen Teil seines Gehalts zum Zahnarzt getragen hatte. Obwohl der Kerl einen Brustkorb wie der junge Schwarzenegger hatte und sich seine Jacke unter der linken Schulter verdächtig ausbeulte, wich er einen Schritt zurück. Wahrscheinlich hätte er Till schon mit einem Fingerschnippen eine Rippe brechen können, aber vor Schwertern und Leuten, die damit umgehen konnten, hatten selbst solche Gestalten einen Heidenrespekt. Wie gut, dass es asiatische Actionfilme gab, dachte der Student und baute sich breitbeinig mitten in der Künstlerkabine auf. Neben den Spinden lehnten sieben Schwerter.

»Na los, du hast die Wahl der Waffen!«

Der Türsteher blickte unsicher zu Martin und suchte in dessen Gesicht nach einem Indiz dafür, dass Till einen Scherz machte. Doch Martin zuckte nur mit den Schultern. »Er kann doch nichts dafür, dass du diese dämliche Kapsel verschluckt hast.«

»Genau«, bestätigte der Fleischberg. »Cool, Kumpel. Cool. Ich bring euch was zu trinken … Natürlich auf Kosten des Hauses.«

Till bedachte den Muskelprotz mit einem letzten abfälligen Blick und drehte sich dann zu den Schminkspiegeln um. »Weißt du überhaupt, wie spät es ist, Martin? Ich werde meine Verabredung nicht mehr schaffen. Verdammt, sie wartet auf mich!«

Schwerfällige Schritte entfernten sich über den Flur.

»Eines Tages triffst du einen, der dein Angebot zum Duell annimmt.« Es lag eine Spannung in Martins Stimme, die überhaupt nicht zu dem sonst so ruhigen Alesier passte. »Was machst du dann? Ihn aufschlitzen? Was macht man mit einem Typen, der ein Schwert in der Hand hält, die Hosen gestrichen voll hat und glaubt, du wirst ihn jeden Moment umbringen? Ich finde deine Spielchen ziemlich überflüssig!«

»Ich möchte dich mal sehen, wenn du um ein Rendezvous betrogen wirst«, fluchte Till. »Almat hatte versprochen, wir wären spätestens um Mitternacht wieder zu Hause. Jetzt ist es halb zwei!«

»Brauchst du jetzt einen neuen Sündenbock? Wie hätte Almat wissen sollen, dass der Discobesitzer wartet, bis die Bude hier richtig voll wird? Und hör auf, mit den Fingern auf dem Tisch herumzutrommeln. Das Geräusch macht mich wahnsinnig!«

Till hielt in der Rechten noch immer die Colaflasche und fingerte mit der anderen Hand an seinem kunstblutdurchtränkten Kostüm herum. Auch er hatte das rhythmische Ticken gehört und gedacht, es sei Martin. Sein Blick schweifte durchs Zimmer und blieb schließlich an dem winzigen Fenster über den Spiegeln hängen. Hinter der Scheibe war etwas Helles zu sehen.

Martin schien es im selben Augenblick wie er bemerkt zu haben. Der Musiker ging zum Fenster hinüber. »Unglaublich. Eine Möwe! Sie hämmert mit dem Schnabel gegen das Glas.« Martin machte eine hastige Bewegung mit der Hand, um sie zu verscheuchen, doch der Vogel blieb sitzen.

Beunruhigt stand Till auf und kletterte auf den Schminktisch, um möglichst dicht an das hoch gelegene Fenster heranzukommen. »Diese Möwe … Das ist das Mistvieh, das mir in der Eifel auf den Kopf geschissen hat.«

Martin lachte. »Wie willst du eine Möwe wiedererkennen?« Auch er stieg jetzt auf den Tisch, um das Tier näher zu betrachten.

»Sie hat denselben bösartigen Blick wie die Möwe in der Eifel«, erklärte Till. »Glaub mir, mit diesem Vogel ist etwas … Das kann kein Zufall sein, dass er hier ist.«

»Ich glaube eher, mit dir ist etwas. Pass auf, ich werde dir jetzt zeigen, dass an dem Vogel nichts Besonderes ist!« Martin griff nach dem Fensterriegel und zog ihn zurück.

»Nicht! Wenn du wüsstest …« Till wollte ihm in die Hand fallen, doch es war zu spät! Eine Windböe drückte das Fenster auf. Martin versuchte nach dem Vogel zu greifen und holte sich eine üble Schramme, als die Möwe nach seiner Hand hackte und dann über ihrer beider Köpfe hinweg ins Zimmer hüpfte, um mit weit ausgebreiteten Flügeln auf dem schäbigen Linoleumboden zu landen. Dabei stieß sie einen kreischenden Laut aus, der entfernt an triumphierendes Gelächter erinnerte.

»Ich sag doch, mit dieser Möwe stimmt was nicht«, beharrte Till und sprang vom Tisch. Der Vogel hüpfte ein Stück in Richtung Tür und blieb dann stehen, um die beiden mit schief gelegtem Kopf zu mustern.

Auch Martin war inzwischen vom Tisch geklettert und kramte in der Tasche, die er vor dem Spind abgestellt hatte, nach einem Pflaster für seine Hand. »Was machen wir mit dem Geier? Verdammt … Ich weiß gar nicht, ob ich noch eine gültige Tetanusimpfung habe. Klasse … Ich möchte nicht wissen, wo dieses Miststück von einem Vogel seinen Schnabel alles hineinsteckt. Ich muss zum Arzt.«

Die Möwe stieß ein protestierendes Kreischen aus und schlug mit den Flügeln, als hätte sie verstanden, was Martin sagte.

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich gegenüber meiner Möwe eines freundlicheren Tonfalls befleißigen könnten«, ertönte eine Stimme aus dem Nichts.

Till zuckte zusammen und sah sich um. Neben der Möwe nahm ein kleiner, ziemlich lächerlich aussehender Kerl Gestalt an. Er trug eine rote Zipfelmütze, eine grüne Jacke aus grobem Stoff, blaue Hosen und ein Paar blank geputzte Stiefel. Die Gestalt war ein wenig größer als die Möwe und hatte einen geradezu bombastischen Bart, der in drei Zöpfe gegabelt war, die er hinter seinen breiten Gürtel geschoben hatte. Noch grotesker wirkte der Schnauzer ihres Besuchers. Er ragte in zwei nadelspitzen Strähnen in unnatürlichem Winkel nach oben und reichte fast bis zum Mützenrand hinauf.

Martin rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, blinzelte und sah seinem Gesichtsausdruck zufolge noch immer, woran er nicht glauben mochte. Till hingegen hatte nach seinen Erfahrungen mit Neriella nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Gestalt neben der Möwe real war.

»Ich glaube, mir ist nicht ganz wohl«, murmelte Martin gepresst. »Ich muss Halluzinationen haben. Ich sehe einen Zwerg neben der Möwe …« Er lachte, doch es klang eher hysterisch als heiter. »Das gibt’s doch nicht. Ob die hier Ecstasy in ihre Drinks mischen?«

»Ich bin kein Zwerg, sondern Laller, der Älteste der Kölner Heinzelmänner«, erklärte die kleine Gestalt mit dem absurden Bart gereizt. »Das ist ein erheblicher Unterschied! Seien Sie gewiss, wenn Sie einen Zwerg beleidigt hätten, dann hätten Sie jetzt wahrscheinlich schon eine Spitzhacke in der Kniescheibe stecken. Wir Heinzelmänner sind gewöhnlich sehr geduldig im Umgang mit euch Langen, aber ich muss sagen, in Anbetracht eurer Vergehen bin auch ich mit meiner Geduld bald am Ende!«

»Vergehen?«, fragte Till. Ob der Kerl etwa gekommen war, weil er Neriella versetzt hatte?

Der Heinzelmann zog eine Schriftrolle hinter seinem Bart hervor. »Sehr richtig, Vergehen! Ich habe hier ein rechtskräftiges Urteil gegen die Anführer der Ui Talchiu.

Der Rat der Heinzelmänner zu Köln hat an diesem Abend beschlossen, dass Sie gemäß dem Grundsatz des Verursacherprinzips dazu verurteilt sind, den Schaden, den Sie in der Samhaimnacht angerichtet haben, wieder gutzumachen. In diesem Zusammenhang erwartet der Rat von Ihnen, dass Sie innerhalb der nächsten Tage nach Nebenan gehen werden. Näheres über diese Mission erfahren Sie zu gegebener Zeit. Laut der Nichtigkeitsverordnung von 1889 ist es Menschen nicht gestattet, gegen ein Urteil des Rates Widerspruch oder Berufung einzulegen. Mit dem Verkünden des Urteils ist es rechtskräftig geworden.«

»Kneif mich«, flüsterte Martin. »Ich glaube, ich bin dabei, den Verstand zu verlieren.«

Der Heinzelmann lachte gehässig. »Sie sind doch der Eigentümer der Villa Alesia. Bei menschlichen Gerichtshöfen mag es eine beliebte Ausflucht sein, auf geistige Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, aber da es nach den Maßstäben meines Volkes ohnehin keine geistig gesunden Menschen gibt, hat Ihre Befindlichkeit keinerlei Einfluss auf die Rechtskraft des Urteils.«

Till räusperte sich. »Dürfte man vielleicht erfahren, weshalb wir verurteilt werden?«

Der Kleine musterte ihn mit durchdringendem Blick.

»Ich weiß nicht, wie es bei euren Gerichten üblich ist, aber bei uns Menschen haben die Angeklagten durchaus das Recht zu erfahren, was sie verbrochen haben.«

Der Heinzelmann wurde rot. »Wollen Sie etwa behaupten, dass die Gesetze meines Volkes nicht gerecht seien?«

»Äh, nein. Natürlich nicht …« Till zögerte. »Es ist nur so, dass man einen Fehler besser bereuen kann, wenn man weiß, was man falsch gemacht hat.«

»Sie wollen also behaupten, dass Sie sich Ihrer Schuld nicht einmal bewusst sind!« Die Bartenden des Heinzelmanns zitterten wie die Zeiger eines Seismographen bei einem mittelstarken Erdbeben. »Sie haben mit Ihrem Ritual in der Samhaimnacht ein Tor nach Nebenan geöffnet und damit einem Werwolf und einem bösartigen Zauberer das Eindringen in Ihre Welt ermöglicht. Wir vermuten, dass diese beiden den Auftrag haben, noch weitere Tore zu öffnen. Können Sie sich vorstellen, was passieren wird, wenn sich in Köln auf dem Neumarkt ein launischer Drache breit macht oder ein räuberischer Riese den Hohenzollernring sperrt und von jedem Autofahrer Wegegeld fordert? Ich sage Ihnen, Ihre ganze Zivilisation würde binnen einer Woche in sich zusammenbrechen, wenn diese Nichtsnutze von Nebenan hierher zurückkehren und anfangen, sich wieder so zu benehmen wie früher.«

»Ich … ähm, darf ich dich einmal berühren?«, fragte Martin.

Der Heinzelmann schnaubte verächtlich und ging dann mit energisch ausgreifenden Schritten auf Martin zu. »Sie halten mich wohl für eine Halluzination! Nur weil Sie nicht glauben können, was Sie sehen, bin ich noch lange nicht bereit, mich von Ihnen begrapschen zu lassen. Ihr Langen glaubt immer, ihr könnt euch uns gegenüber alles herausnehmen. Aber diese Zeiten sind vorbei!« Laller hüpfte Martin auf den Fuß und trat ihm dann mit aller Kraft vor das Schienbein. »Ich hoffe, diese kleine Demonstration reicht aus, Ihnen zu beweisen, dass ich wirklicher bin als eine Halluzination oder ein Hirngespinst.«

Der Heinzelmann sprang wieder von Martins Fuß herunter und baute sich vor dem Musiker auf, wobei er die Hände in die Hüften stemmte und herausfordernd zu ihm heraufblickte. »Noch Fragen?«

Martin sah eingeschüchtert zu Till hinüber. »Ich habe ihn gespürt …« Er machte einen Schritt zurück. »Es gibt ihn wirklich!« Er war kreidebleich geworden. »Ich dachte immer, ihr Heinzelmänner seid freundliche kleine Kerle, die den Menschen zur Hand gehen und über Nacht alle unangenehmen Arbeiten erledigen.«

»Sehe ich vielleicht völlig verblödet aus?«, fragte Laller gereizt. »Warum sollte ich wohl Ihren Dreck wegfegen? Zugegeben, es gab Zeiten, in denen wir Heinzelmänner euch Menschen bewundert und aus lauter Dankbarkeit hin und wieder einen Gefallen getan haben, aber das ist lange vorbei! Ihr habt uns viel zu oft hinterhergeschnüffelt! Das ist das Kreuz mit euch. Ihr könnt niemals die Privatsphäre anderer Geschöpfe achten. Zum endgültigen Bruch ist es allerdings gekommen, als ihr vor rund hundert Jahren angefangen habt diese lächerlichen Statuen in eure Gärten zu stellen. Wir lassen uns von euch doch nicht verarschen!«

»Lächerliche Statuen?«, fragten Martin und Till wie aus einem Munde.

»Na, diese grellbunten Heinzelmänner mit den dämlichen Kulleraugen, die dümmlich grinsend Schubkarren durch eure Vorgärten schieben, Lampen hochhalten oder einfach nur in die Gegend glotzen! Was habt ihr Langen nach dieser Provokation eigentlich erwartet? Dass wir euch vor lauter Begeisterung auch noch die Klos putzen?«

Die beiden Discogladiatoren schwiegen verunsichert.

»Wir sind aus eurer Warte gesehen vielleicht klein«, fuhr Laller etwas weniger erhitzt fort, »aber wir sind keineswegs niedlich oder harmlos. Wenn wir uns das nächste Mal wieder sehen, werde ich eindeutige Instruktionen für euch haben, was ihr im Dienste der Heinzelmänner tun werdet, und ich rate euch, versucht nicht, euch zu drücken. Ihr könnt euch im Moment noch nicht einmal im Entferntesten vorstellen, was es heißt, sich die Feindschaft eines Heinzelmanns zuzuziehen. So, und jetzt macht das verdammte Fenster wieder auf. Ich habe nicht vor, mit Schnapper quer durch diesen Tanztempel zu fliegen, um wieder nach draußen zu kommen.« Der Heinzelmann schnippte mit den Fingern, worauf sich der Vogel auf den Boden kauerte und mürrisch mit dem Schnabel knirschte.

»Was übrigens eure Schwertkampfvorstellung angeht … Das sieht gar nicht mal übel aus.« Laller lachte boshaft. »Auch das ist ein Grund, warum wir euch für die Mission Nebenan ausgesucht haben. Und jetzt macht endlich das Fenster auf. Ich hasse es, mich zu wiederholen!«

Gehorsam sprang Martin auf den Schminktisch. Die Möwe erhob sich schwerfällig flatternd, schien einen Moment lang die Deckenlampe rammen zu wollen und schaffte gerade eben noch eine wackelige Landung auf dem Fensterbrett. Dann verschwand sie mit einem Hüpfer in der Finsternis jenseits des Sims.

Martin schloss das Fenster und atmete aus. »Das … das war alles nur eine sehr lebhafte Halluzination, nicht wahr?«

Till schwieg eine Weile und dachte an Neriella. Nein, Einbildung war das sicher nicht gewesen! Dann fiel sein Blick auf einen weißen Fleck, dort wo die Möwe gesessen hatte.

»Die haben uns hier irgendwelche Trips in die Cocktails gemischt, oder?«, fragte Martin beschwörend. »Das war so ’ne Art Horrortrip!«

»Nein«, sagte Till sehr leise und deutete zu dem Fleck auf den Linoleumfliesen. »Ich fürchte, Trugbilder scheißen nicht auf den Fußboden.«

*

Cagliostro schnäuzte sich in ein spitzengesäumtes Tüchlein und ließ es gleich darauf wieder in seinem weiten Ärmel verschwinden. »Verfluchtes Mistwetter! Wie kann man nur freiwillig in einem solchen Land leben!« Ein Windstoß blähte die Schöße seines weiten Gehrocks, und der Graf musste nach seinem Dreispitz greifen, damit er ihm nicht vom Kopf geblasen wurde.

»Hier oben auf der Domplatte ist es immer windig«, erklärte Mariana überflüssigerweise.

»Was du nicht sagst«, erwiderte Cagliostro spitz. Eine gallige Bemerkung zu ihrem außerordentlichen Scharfsinn lag ihm auf der Zunge, aber er schluckte sie hinunter. Es wäre dumm, seine kleine Muse zu sehr zu verärgern. In dieser verflixten Welt, in der nichts mehr so war, wie es sein sollte, würde er ihre Hilfe brauchen. Verdrossen legte er den Kopf in den Nacken und musterte das riesige Bauwerk. Grünliches Licht strahlte aus allen Richtungen auf diese gewaltige Ansammlung von Spitzbögen, verschnörkelten Strebepfeilern und Fratzen schneidenden Wasserspeiern. An einen der beiden Türme klammerte sich ein Gerüst wie eine riesige, vielgliedrige Spinne. An manchen Stellen schimmerten die Steine des Doms hell, als seien sie erst vor kurzem gereinigt oder erneuert worden. Doch je weiter man nach oben blickte, desto düsterer wirkte das himmelstrebende Gotteshaus. Das merkwürdige grüne Licht, das mit langen Fingern von den Dächern der umliegenden Gebäude nach dem Dom griff, tat ein Übriges dazu, den Bau unheimlich erscheinen zu lassen. Nicht einmal warmes Kerzenlicht spiegelte sich in den hohen Fenstern. Aber vielleicht verlor sich ja das Licht der kleinen Flammen in der weitläufigen Finsternis im Inneren dieses gewaltigen Gotteshauses.

Den Dreispitz tief in die Stirn geschoben, marschierte Cagliostro geradewegs auf das Hauptportal zu. Außer ihm und Mariana ließ sich niemand in dieser stürmischen Nacht in der Nähe der Kathedrale blicken. Alle übrigen Bewohner des Universums waren eindeutig vernünftiger als sie beide! Auch seine Gefährtin hatte den ganzen Abend über ihren Unwillen zur Schau getragen und brummte missmutig Verwünschungen vor sich hin. Der Graf war es gewohnt, dass man an seinem Genie zweifelte und seine Taten infrage stellte. Es war das Schicksal der Großen, in solchen Stunden stets allein zu sein! Aber als Großkoptha der Ägyptischen Loge würde er sich durch nichts mehr aufhalten lassen. Nicht jetzt, wo der Schlüssel zu einer neuen Welt zum Greifen nahe war!

Eine Windböe riss ihm den Dreispitz vom Kopf, als er die Hand nach dem schweren Kupferring am Hauptportal ausstreckte. Mattes Glühen spielte um das Metall und noch bevor er den Türring berühren konnte, schoss ein flammender Strahl hervor, wand sich um seine Finger und verschwand. Mit einem halb erstickten Schmerzensschrei auf den Lippen taumelte Cagliostro zurück. Seine Hand stank nach verbranntem Horn. Blut tropfte ihm von den halb versengten Nägeln.

Ungläubig starrte er auf die Verletzungen. »Bei den wogenden Brüsten Liliths, was war das?« Argwöhnisch musterte er die Gesichter der steinernen Heiligen, die in Nischen hoch über dem Portal wachten. Wie zu erwarten verzog keiner eine Miene.

»Lass uns gehen«, zischte Mariana. »Deine Hand muss versorgt werden.«

»Nein! Wer bin ich, dass ich mich so kurz vor dem Ziel aufhalten ließe!« Cagliostro nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat erneut vor das Portal. Diesmal streckte er die Linke nach dem Türgriff aus. Seine Hand zitterte. Ein Lichtblitz löste sich vom Kupferring.

Der Graf wurde zurückgeschleudert. Sein Gesicht war eine Grimasse von Schmerz und Enttäuschung. Seine rußgeschwärzte Linke krümmte sich wie eine vertrocknete Vogelklaue. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine und reckte die Hände drohend den steinernen Heiligen entgegen. »Ihr werdet mich nicht aufhalten!«

Auf dem Portal erschienen flammende Buchstaben:

Darunter bildete sich ein unscharfes Bild, das karikierte Fabelwesen mit Bocksbeinen und Hörnern und einen dümmlich dreinblickenden Hund zeigte.

»Könnte es sein, dass die Kirche sich gegen dich wehrt?«, fragte Mariana vorsichtig. »Vielleicht können Geschöpfe von Nebenan keinen heiligen Boden betreten.«

Cagliostro starrte lange das Domportal an. »Ich bin Sizilianer! Ich bin im Schatten von Kirchtürmen groß geworden. Habt ihr schon vergessen, dass ich erst 1783 drei goldene Louisdors für eine neue Glocke für Santa Maria Nascente gespendet habe? Außerdem bin ich bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr in die heilige Messe gegangen. Ihr habt kein Recht, mir den Zutritt zu verweigern. Ich meine … Warum sollte ich plötzlich nicht mehr in Kirchen dürfen? Ich war doch nur ein paar Jahre fort.«

»Mehr als zweihundert Jahre«, bemerkte Mariana. »Lass uns gehen, Cagli«, flüsterte sie und sah ängstlich zu der Tür, auf der die Flammenschrift langsam verglühte. »Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn man sich mit Kirchenportalen auf Diskussionen einlässt.«

»Wer bin ich denn, dass ich mich von einer Kirche aussperren lasse! Es ist mein gutes Recht, in dieses Gotteshaus zu gehen. Ich bin ein ordentlich getaufter Katholik!«

»Ein Katholik, der sich zum Großkoptha ausgerufen hat und der von der Inquisition in die Kerker der Engelsburg gesperrt wurde«, erinnerte ihn die Druidin.

»Nur weil ich diesem verstockten Papst Pius VI. und seinen schielenden Speichelleckern vom Inquisitionsgericht nicht klar machen konnte, dass Moses, Enoch und Christus die größten Logenmeister der Freimaurer waren, heißt das noch lange nicht, dass ich mich von einem besessenen Domportal daran hindern lasse, in eine Kirche zu gehen.« Cagliostro krempelte mit dramatischer Geste die Ärmel seines Gehrocks hoch und drohte dem Tor mit hoch gereckter Faust. »Was bist du schon, du … du Tor! Ein paar Balken aus windschiefen Bäumen. Ich werde dir zeigen, was es heißt, mit Giuseppe Balsamo Krieg anzufangen!« Eine Feuerkugel schoss von der Hand des Grafen dem Portal entgegen, prallte ab und wurde auf den Sizilianer zurückgeworfen.

Als die Flammen verflogen, hing sein Gehrock in verbrannten Fetzen, seine Perücke hatte Ähnlichkeit mit einem angesengten Wischmopp bekommen, und seine bebenden Nasenflügel erinnerten in Aussehen und Farbe an einen gut durchgebratenen Hähnchenflügel. Auf dem Kirchportal aber erschien eine flammende Faust, die einen Lidschlag lang den Mittelfinger vorstreckte und dann verblasste.

»Das also ist dein Niveau«, grollte der Graf und kam mit Mühe wieder auf die Beine. »Das soll dir mit gleicher Münze vergolten sein!«

Mariana brachte sich im Laufschritt in Sicherheit, während Cagliostro einen düsteren Sprechgesang anstimmte.

Knirschend schoben sich Steinplatten auseinander und vor dem Grafen wuchs eine Statue aus dem Boden. Sie zeigte einen kleinen, pausbackigen Jungen mit frechem Grinsen, der an ein berühmtes Brüsseler Standbild erinnert hätte, wären da nicht die Stummelhörnchen auf seiner Stirn gewesen und die krummen Bocksbeine, auf denen er stand. Cagliostro klatschte schallend in die Hände. Eine Sturmbö rannte gegen den düster aufragenden Dom an, und aus dem vorstehendsten Körperteil des Jungen schoss eine dünne Wasserfontäne, die in weitem Bogen auf das Hauptportal zielte.

»Wir sehen uns wieder!«, drohte der Graf, rutschte mit würdevoller Geste die versengte Perücke auf seiner Glatze zurecht und ging stolz erhobenen Hauptes in Richtung der Treppen, die zum Parkhaus unter dem Dom führten.