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Martin legte die Hand flach auf die Gitarrensaiten und griff nach dem tönernen Becher. »Erzählst du eine Geschichte?«
Till schüttelte müde den Kopf. »Nicht heute Nacht.« Seit mehr als einer Stunde starrte er in das Lagerfeuer, gebannt vom Tanz der Flammen. Seine Augen waren rot vom Rauch. Selbst auf dem Mond hätte er sich nicht weiter entfernt vom ausgelassenen Lärmen an den anderen Lagerfeuern fühlen können. Es war ein Fehler gewesen, zu kommen. Er war heute einfach nicht in der Stimmung für ein Samhaimfest. Laut keltischer Mythologie war es die Nacht, in der sich die Pforten zur Geisterwelt öffneten. Till lächelte zynisch. Für ihn war es heute wohl eher der Tag, an dem ihm Mukke für immer die Pforten ins wirkliche Leben verschlossen hatte. Er sah zum halb vollen Becher in seiner Hand. Nicht einmal Trinken half!
An den drei großen Feuern hatte sich der Clan der Ui Talchiu versammelt, und wäre ein nächtlicher Wanderer auf den abgelegenen Hügel irgendwo zwischen Blankenheim und Schneeeifel gestiegen, dann hätte er wohl den Eindruck gehabt, eine Barbarenhorde aus vergangenen Jahrhunderten sei zurückgekehrt. Um die Feuer hockten junge Männer mit wilden Bärten und schlammbespritzten Umhängen, prosteten sich mit Methörnern und Tonbechern zu und prahlten lauthals mit ihren Heldentaten bei den Schwertkampfübungen am späten Nachmittag. Hin und wieder verstummte das ausgelassene Grölen, dann ertönten Gitarrenklänge und eine einzelne, leise Stimme schlug alle für ein Lied oder zwei in ihren Bann.
Till spürte die Blicke der anderen auf sich lasten. »Nein, nicht heute Nacht«, erklärte er noch einmal laut. »Ich bin nicht in der Stimmung für eine Geschichte.«
»Vielleicht überlegt es sich dein Prof ja noch mal«, wandte Bambam ein und schob einen großen Scheit ins Feuer. Sein richtiger Name war eigentlich Rolf. Er war ein stämmiger Kerl, mit langem blonden Haar und klaren blauen Augen. Zu seinem Spitznamen Bambam war er an jenem Tag gekommen, an dem er zum ersten Mal mit zwei Macheten statt wie sonst mit einem Bastardschwert zu den Fechtübungen kam. Zunächst hatten sie ihn ausgelacht, doch am Ende des Sommers lachte keiner mehr und Bambams Ruf als Schwertmeister war legendär.
»Bevor Mukke seine Meinung ändert, fällt uns der Himmel auf den Kopf«, brummte Gabriela mürrisch und zog ihren Umhang aus schwarzen Rabenfedern enger um die Schultern. »Der hat auch meinen Ex über die Klinge springen lassen. Wenn der einen erst einmal auf dem Kieker hat, braucht man sich bei ihm nicht mehr blicken zu lassen.«
»Danke für den herzlichen Beistand«, knurrte Till. »Das ist genau, was ich jetzt hören möchte!«
Gabriela hob den Kopf und sah ihn geradewegs an. Mit ihrem scharf geschnittenen Gesicht, den hohen Wangenknochen und den funkelnden Augen wirkte sie wie ein wütender Raubvogel. Ein Windstoß bewegte ihr langes, schwarzes Haar und ließ die Federn auf ihrem Umhang rascheln. »Süßliches Gesäusel à la Es wird schon nicht so schlimm ist etwas für Weichlinge!« Sie warf Bambam einen spöttischen Blick zu.
»Könntest du vielleicht versuchen dich wenigstens heute Nacht nicht wie die Morrigan aufzuspielen? Glaubst du, dass du Till damit hilfst?«, mischte sich Martin ein. Normalerweise war der hünenhafte Gitarrenspieler eher still und so brachte sein plötzlicher Ausbruch für einen Moment alle zum Schweigen. Sie kannten einander zu gut, um jetzt noch weiterzustreiten. Till dachte daran, wie alles begonnen hatte. Seit sechs Jahren lebten sie zusammen. Martins Vater hatte ihnen eine alte Jugendstilvilla nahe der Uni überlassen, die sie noch immer gemeinsam bewohnten, obwohl die meisten von ihnen das Studium längst aufgegeben hatten, um andere Wege zu gehen.
In jenem Jahr, in dem sie gemeinsam anfingen zu studieren, hatten sie die Ui Talchiu gegründet, eine Truppe, die sie manchmal auch hochtrabend Celtic reinactment group nannten. Sie alle hatten sich schon am Gymnasium gekannt und in zahllosen Rollenspielnächten die phantastischsten Abenteuer im Geiste erlebt. Als sie zur Uni kamen, sollte alles noch größer und besser werden. Sie hatten begonnen sich Kostüme zu nähen, Schwerter gekauft und waren an den Wochenenden in entlegene Eifeltäler gefahren, um sich im Schwertkampf zu üben, nach verschollenen Kultplätzen zu suchen und wie die alten Kelten im Einklang mit der Natur zu leben.
Bald waren sie dabei auf Gleichgesinnte gestoßen und hatten an Heerlagern teilgenommen, zu denen Mittelaltergruppen aus halb Europa kamen. Sie waren als moderne Gladiatoren in den Schwertkampfarenen etlicher Mittelaltermärkte aufgetreten, hatten an nachgestellten Schlachten teilgenommen und an geheimen Treffen, wo Druiden vermeintlich keltische Rituale zelebrierten. Ihre Gruppe war gewachsen und zählte jetzt über dreißig Köpfe, doch sie waren immer der harte Kern gewesen: jene, die alles ausprobierten, die selbst im Winter im Zelt übernachteten und vor keiner Herausforderung zurückschreckten.
In letzter Zeit jedoch zeichnete sich mehr und mehr ab, dass sich ihre Wege bald trennen würden. Keiner sprach darüber, doch alle wussten es. Gabriela hatte ein Angebot, bei einem Musical in Hamburg zu tanzen, Rolf hatte einen Rollenspielladen eröffnet und war kaum noch zu Hause, Martin hatte eine Celtic-Rock-Band gegründet und interessierte sich mehr für Proben und Auftritte, Almat, der jetzt am Feuer fehlte, würde für ein halbes Jahr auf eine archäologische Expedition nach Syrien gehen und Till stand kurz davor, als Einziger von ihnen sein Studium zu vollenden – falls ihm Mukke keinen Strich durch die Rechnung machte.
Ihr kleines Haus an der Amalienstraße war still geworden und Martin hatte als Erster von ihnen die Befürchtung ausgesprochen, dass sie vielleicht begannen erwachsen zu werden. Als sicheres Indiz führte er an, dass schon seit einem halben Jahr keine Polizeistreife mehr bei ihnen vorbeigeschaut hatte, um irgendeiner Beschwerde von Nachbarn nachzugehen. Und was für Anzeigen sie früher bekommen hatten! In der WG-Küche hing eine Liste der Beschwerden, denen die Polizei nachgespürt hatte. Die Vergehen reichten von Lärmbelästigung durch Schwertkampfübungen bis zu der Behauptung, sie hätten einen heidnischen Kultplatz im Garten eingerichtet und würden in Vollmondnächten den Teufel anbeten.
Nach der ersten Anzeige hatten sie ihr Haus Villa Alesia getauft, denn sie fühlten sich von bürgerlicher Spießigkeit belagert, so wie das keltische Alesia einst von römischen Legionen eingeschlossen war. Sie hatten erfolgreich allen Konventionen getrotzt, hatten all das getan, wovor Eltern mit Schaudern in der Stimme warnten, und nun, da sie sich unbesiegbar wähnten, begann ihre Gruppe von innen heraus zu zerbrechen.
Martins Finger glitten über die Saiten der Gitarre. Er spielte Davids Song von Vladimir Costa. Das Lied war lange so etwas wie ihre Hymne gewesen, doch jetzt vertiefte die traurige Melodie nur das Schweigen am Feuer. Till beobachtete aus den Augenwinkeln seine Freunde, die jeder für sich ihren Gedanken nachhingen.
Bambam schnitzte mit seinem Dolch an einem Holzscheit herum. Sie beide kannten sich, seit sie vierzehn waren. Zum ersten Mal waren sie sich in einer Rollenspielrunde begegnet. Einen Elfen und einen Söldner hatten sie gespielt und zunächst hatten sie sich nicht riechen können, bis sie von Orks gefangen worden waren, um irgendeinem Gott geopfert zu werden, dessen Namen in erster Linie aus Konsonanten bestand. So etwas verbindet! Danach waren sie ein unzertrennliches Gespann geworden, und als sie das Tischrollenspiel aufgaben und Ui Talchiu gründeten, ließen sie ihre Phantasien wahr werden. Kaum ein Tag verstrich ohne gemeinsame Schwertkampfübungen im Garten der Villa Alesia, und als sie in ihre erste Schlacht auf einem Mittelaltermarkt zogen, waren sie ein Fechterduo geworden, das weder Tod noch Teufel fürchtete, höchstens vielleicht tschechische Stuntmen in Plattenrüstungen, die mit Zweihandschwertern jonglierten wie normale Sterbliche mit einem Brotmesser. Doch jetzt kamen sie immer seltener dazu, die Klinge zu kreuzen, und waren jeder für sich gezwungen Kämpfe auszufechten, bei denen man mit einem Schwert in der Faust nicht bestehen konnte.
Tills Blick wanderte zu Gabriela, die ins Feuer starrte und eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger aufrollte. Sie wirkte mürrisch und unnahbar, wie fast immer. Gabriela war schön wie eine Märchenfee, nur dass Feen in der Regel nicht Schwarz trugen oder sich das Gesicht weiß puderten, und auf gar keinen Fall benutzten sie so viel Eyeliner, dass ihre braungoldenen Augen wie Raubvogelaugen wirkten. Auch trugen Feen – zumindest in Tills Vorstellung – in der Regel eher eine Garderobe, die Assoziationen an Nachthemden weckte, und keine hautengen Catsuits oder durchscheinende Kleider, bei deren Anblick einem zum WG-Frühstück regelmäßig der Löffel ins Müsli fiel. Trotz aller Bemühungen, sich mit einer düsteren Aura zu umgeben, wirkte Gabriela eher wie ein ätherisches Geschöpf, zart und zerbrechlich. Dennoch war immer sie es gewesen, die die Energie aufbrachte, die verrücktesten Ideen der Ui Talchiu Wirklichkeit werden zu lassen. Sie hatte die meisten Kostüme geschaffen, die sie trugen, hatte sie gelehrt im Schwertkampf die Eleganz von Tänzern zu bewahren und hatte sie zu dem berüchtigten Zeltlager während der Wintersonnenwende überredet, vom dem alle mit einer ausgewachsenen Grippe in die Villa Alesia zurückgekehrt waren.
Wehmütig dachte Till an den Sommer, in dem sie fast ein Paar geworden waren. Erst hatte Gabriela sich in ihn verliebt, was sich vornehmlich darin geäußert hatte, dass sie noch unnahbarer erschien. Als er dann endlich begriff, was ihre morgendlichen Sticheleien bedeuteten, und er sich in sie verliebte, war es zu spät gewesen. Vielleicht war aber auch deshalb nichts daraus geworden, weil sich Gabriela nur an dem begeistern konnte, was unerreichbar schien?
Tills Blick glitt weiter zu Martin. Groß, breitschultrig und mit einem selbst gefertigten Kettenhemd gewappnet war er das Fundament, auf dem die Freundschaft ihrer kleinen Gruppe ruhte. Martin war eher zurückhaltend und seine Schüchternheit stand im krassen Gegensatz zum ersten Eindruck, den man von ihm haben mochte. Er sah aus wie ein amerikanischer Baseball-Star und wirkte wie jemand, den nichts umzuwerfen vermochte. In Wahrheit jedoch hatte er lediglich hohe Mauern um seine verletzte Seele errichtet.
Als sie jünger waren, hatte Till Martin oft beneidet. Er hatte immer alles bekommen: die neuesten Computerspiele, die angesagtesten Klamotten, ein Mofa, ein Motorrad, ein Auto. Das Einzige, was ihm fehlte, waren seine Eltern. Sie waren die meiste Zeit auf irgendwelchen Kongressen oder in dem Forschungslabor, das sie leiteten. Martin war umgeben von Kindermädchen und Hauspersonal in einer wunderschönen, kalten Villa in Rhodenkirchen aufgewachsen und er hatte sehr früh gelernt, dass die meisten Menschen, denen er begegnete, nicht zu ihm nett waren, sondern zum Geld seiner Eltern.
Till hatte heute noch ein schlechtes Gewissen, wenn er daran dachte, wie seine Freundschaft mit Martin begonnen hatte. Als Schüler hatten sie Martin von ganzem Herzen gehasst. Nicht nur dass er von allem immer mehr als genug hatte, nein, er schrieb auch noch eine Eins nach der anderen und war der zweitbeste Schüler der Klasse. Deshalb hatten sie beschlossen, es ihm einmal so richtig zu zeigen.
Sie waren alt genug gewesen, um zu merken, dass seine Freundschaften nur recht einseitig waren, und sie heckten den Plan aus, ihn zu ihren Rollenspielabenden einzuladen. Für sie waren diese Abenteuer im Geiste einfach das Größte. Man konnte all das sein, was für einen pubertierenden Teenager unerreichbar war. Ein Held, berühmt, reich und edel. Jemand, vor dessen Namen ganze Heere erzitterten. Sie wollten, dass Martin dieses Spiel kennen lernte und dass es ihm gefiel. Sie benahmen sich ausgesucht kameradschaftlich, ihr geheimes Ziel jedoch war es, Martins Helden im Spiel zu ermorden und Martin aus der Gruppe wieder hinauszuwerfen, sobald er sich richtig wohl fühlte. Sie waren vierzehn und hatten das für einen klasse Plan gehalten. Sie wollten Martin erleben lassen, was man für Geld nicht kaufen kann, und ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn er glaubte wirkliche Freunde gefunden zu haben.
Woran sie nicht gedacht hatten, war, dass sie vielleicht selber bestechlich waren. Es hatte immer das Problem gegeben, für ihre Spielabende einen Platz zu finden, an dem man sie in Ruhe ließ und wo sich am besten auch noch ein großer Tisch befand. Bei normalen Wohnverhältnissen kam es zwangsläufig zu Problemen, wenn eine Gruppe störrischer Teenager glaubte, ein- bis zweimal die Woche für eine halbe Nacht das ausschließliche Nutzungsrecht für den Küchentisch zu haben. Bei Martin war das nie ein Problem. Sie hatten den ganzen Partykeller für sich allein und obendrein gab es stets noch reichlich Chips, Cola und all die anderen Kalorienbomben, die sie in den unglaublichsten Mengen zu verdrücken pflegten, während ihre Helden die härtesten Entbehrungen erduldeten. Das war ein Luxus, den sie nie gekannt hatten und dem sie zunehmend verfielen.
Nach vier Wochen sprach niemand mehr davon, Martin – im wahrsten Sinne des Wortes – ins Messer laufen zu lassen, und nach drei Monaten hätte es jeder mit der Freundesclique zu tun bekommen, der versucht hätte Martin fertig zu machen. Till wusste nicht, wann genau es geschehen war, dass sie ihre Meinung änderten. Auf seine stille, unaufdringliche Art hatte es Martin geschafft, alle kindlichen Vorurteile unbedeutend werden zu lassen. Natürlich war es angenehm, von seinem Geld zu profitieren und in der Villa zu leben, die sein Vater ihnen als private Studentenförderungsmaßnahme zur Verfügung stellte, aber es wäre falsch gewesen, zu sagen, Martin hätte sie gekauft.
Zwischen Martin und Gabriela hatte eben noch Almat gesessen. Er kämpfte von ihnen allen den erbittertsten Kampf, um die Ui Talchiu zusammenzuhalten. Deshalb war er jetzt auch nicht da, sondern bereitete sich auf das festliche Ritual vor, das zum Höhepunkt des Abends werden sollte.
Almat war als Erster von ihnen auf einem Mittelaltermarkt gewesen und seine Begeisterung hatte auch in ihnen das Feuer geweckt. Nach sieben Jahren, die sie als Rollenspieler um ihren Spieltisch versammelt und die phantastischsten Abenteuer in ihrer Vorstellung erlebt hatten, hatte er sie in eine verzauberte Wirklichkeit geführt. Sie waren in eine Welt der Lagerfeuerromantik, ausgeflippter Aussteiger, Feuerspucker und moderner Bänkelsänger, Gladiatoren und Vaganten getreten. Die Welt des Hilbert Giller, des größten Organisators mittelalterlicher Märkte in Nord- und Mitteldeutschland. Er hatte es geschafft, aus Träumen ein Geschäft zu machen, und seine Märkte waren Attraktionen, die Zehntausende anlockten. Tagsüber wälzten sich Touristenströme über seine Festwiesen, nachts aber verwandelten sich seine Märkte in Reservate für Träumer, in denen die Künstler die Masken fallen ließen, miteinander feierten und in seltenen Momenten offenbarten, was nicht für die Augen der Massen bestimmt war.
Almat hatte die Ui Talchiu gegründet, um sie als Gruppe an die Gillermärkte zu verkaufen und ihnen so einen festen Platz unter dem modernen Gauklervolk zu verschaffen. Er hatte mit dem Clan in Regen und Schnee eine Schwertkampfchoreographie einstudiert, damit sie auf den Märkten im Sommer auch etwas zu bieten hatten, und er hatte mit Giller gefeilscht und gerungen, damit sie es nicht wie andere Neulinge ohne Gage taten. Die Organisation und all die tausend Kleinigkeiten, um die alle anderen sich herumdrückten, hatten stets auf seinen Schultern geruht. So war es auch in dieser Nacht. Während der Clan zechte, bereitete Almat den Rahmen, der diesen Abend unvergesslich machen würde, wenn das Schauspiel glückte.
Gabriela, Rolf, Martin und Till sollten die vier Elemente verkörpern und jeder mit genau festgelegten Worten die Geister der Ahnen begrüßen. Till zog noch einmal den zusammengefalteten Zettel aus dem Stiefelschaft und überflog seinen Text. Er hatte es schon in der Grundschule gehasst, Gedichte auswendig zu lernen, und sich regelmäßig blamiert. Aber all seine Versuche, sich um die festliche Kulthandlung herumzudrücken, waren vergebens gewesen. Almat und die Mehrheit hatten beschlossen, dass sie als die Gründer des Clans der Ui Talchiu das Ritual durchführen sollten.
Eine Windböe fuhr heulend durch den nahen Wald. Jemand warf ein dickes Scheit in die Glut und eine Fontäne glühender Funken stob in den dunklen Himmel hinauf, der in dieser Nacht den Mond verschlungen hatte. Einen Herzschlag lang war es still an den Feuern, dann klackten zwei Methörner gegeneinander und jemand rief laut: »Hört ihr Cernunos! Der Wächter der Unterwelt steht an der Pforte! Grüßt die Geister unserer Ahnen!«
Eine sommersprossige Hand legte sich auf Tills Schulter. »Ich weiß etwas, das deine Traurigkeit vertreiben wird«, flüsterte eine vertraute Stimme. Mariana, die selbst ernannte Druidin des Clans, beugte sich zu ihm herab und gab dabei tiefe Einblicke in ihr Dekolletee. Für Mariana waren Magie und Sinnlichkeit untrennbar miteinander verwoben, und obwohl sie im landläufigen Sinne keine Schönheit war, hatte sie eine erotische Ausstrahlung, der sich nur die wenigsten Männer entziehen konnten. Blass und sommersprossig, mit schulterlangem roten Haar, trug sie ein hochgeschlitztes Kleid, das nur von ihrem Gürtel und zwei Schulterspangen zusammengehalten wurde. Es war eines von jenen raffinierten Kleidungsstücken, die alles andeuteten, ohne wirklich etwas zu enthüllen, und es brachte Marianas üppige Formen auf das Vorteilhafteste zur Geltung. Obwohl die Druidin nicht zu den Gründungsmitgliedern der Ui Talchiu gehörte, war sie mittlerweile die einflussreichste Frau im Clan, denn im Gegensatz zu Gabriela legte sie größten Wert darauf, an allen Intrigen beteiligt zu sein und, was aktuellen Tratsch anging, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. Kurz gesagt war sie eine Frau, die stets dafür sorgte, dass man an ihr nicht vorbeikam.
Sie löste einen kleinen Lederbeutel von ihrem breiten, mit Amuletten verzierten Ledergürtel. »Getrocknete Tollkirschen«, hauchte sie Till ins Ohr. »In dieser Nacht werden sie dich den alten Göttern näher bringen und wer weiß wem sonst noch, wenn das Ritual abgehalten ist!« Sie lächelte verschwörerisch.
Till schob die Hand mit dem Beutel zurück. »Das ist nichts für mich!«
Die Druidin runzelte verwundert die Stirn. »Ich habe heute Abend schon zwei genommen. Glaub mir, sie befreien deinen Geist.«
Till starrte auf ihre Brüste und dachte einen Augenblick über Freiheit nach, dann schüttelte er entschieden den Kopf.
»Es ist nicht gut, sich immer von den anderen abzusondern und keine Hilfe anzunehmen«, zischte Mariana eingeschnappt, wich zurück und verhedderte sich mit ihrem Umhang an der Parierstange des Schwerts, das Till neben sich in die Erde gestoßen hatte.
»Der Stahl verletzt den Leib der Göttin!«, fluchte die Druidin entnervt. »Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihr keine Schwerter in die Erde rammen dürft. Ihr beschwört damit den Zorn der großen Göttin.«
Vom Rand des nahen Waldes ertönte Trommelklang. Mariana richtete sich ganz auf und schüttelte mit einer knappen Bewegung die Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. »Geht zum großen Feuerkreis! Das Ritual beginnt und ich hoffe, ihr wisst noch, was zu tun ist!«
Die trunkene Gemütlichkeit an den Feuern war dahin. Till fühlte, wie sich beim Gedanken an die dumme Litanei, die er immer wieder vergaß, sein Magen zusammenkrampfte. Alle anderen zogen gut gelaunt zum großen Feuer nahe am Waldrand. Selbst Gabriela und Rolf scherzten wieder miteinander. Till fluchte stumm und wünschte sich, er wäre ein anderer. Vielleicht Kurt, der Mathelehrer, der bei den Clanstreffen immer ein geflochtenes Lederband um die Stirn trug, um seine Geheimratsecken zu verbergen. Oder Uta, dessen dicke Freundin, die in der Tankstelle an der Berrenrather Straße als Mechanikerin arbeitete. Bettina, die Ethnologin im zwanzigsten Semester, Michael, der zum Clan geflüchtet war, um seinem tristen Alltag als Programmierer zu entgehen. Selbst mit Sebastian, dem katholischen Küster, dessen Arbeitgeber natürlich nichts von seinem heidnischen Hobby wussten, hätte er jetzt nur zu gerne getauscht.
Martin ließ ein paar aufmunternde Akkorde auf seiner Gitarre erklingen und nickte Till zu. »Komm, bringen wir den Pflichtteil des Abends hinter uns. Löschen wir die Feuer!« Er nahm einen großen Holzeimer und entleerte ihn über den Flammen. Rolf und Gabriela kümmerten sich um die übrigen Lagerfeuer.
Die Finsternis war vollkommen! Weit und breit gab es keine Straßenlaterne oder ein erleuchtetes Fenster eines Bauernhofes. Das Raunen der anderen, die schon zum Waldrand hinaufgegangen waren, war verstummt, und was Till noch vor wenigen Minuten als nette Legenden abgetan hatte, bekam in der Finsternis ein anderes Gesicht. Samhaim, das war die Nacht der Begegnung zischen den Lebenden und den Toten. Die Sidh, die Hügel, in denen die Elfen und die vergangenen Helden wohnten, öffneten sich und die Welten der Sterblichen und Unsterblichen vermischten sich für eine Nacht.
Am Waldrand waren Scheite für ein großes Feuer aufgeschichtet und der Clan hatte sich in weitem Kreis darum versammelt. In der Finsternis konnte man kaum seine Schuhspitzen sehen und so begriff Till erst, als sie die Stimme erhob, dass er sich ausgerechnet neben Mariana eingereiht hatte.
»Ihr Götter der Finsternis, Schatten der Verstorbenen, hört ihr mich? Wir sind gekommen euch zu opfern!«
Irgendwo am Waldrand krächzte eine Krähe. Die ganze Szene erinnerte Till an einen Horrorfilm aus den Sechzigern und ihm wäre gewiss mulmig zumute gewesen, hätte Mariana die Worte nicht so langsam und gedehnt gesprochen, als klebe ihr jede einzelne Silbe an der Zunge fest und sträube sich mit sämtlichen Vokalen und Konsonanten dagegen, über ihre Lippen zu gelangen.
»Nehmt den Wein, das Blut der Erde, als unsere Gabe!« Mariana nahm nun das größte Methorn des Clans, um eine ganze Flasche drittklassigen Chianti zu verschütten. Zufällig hatte Till früher am Abend gesehen, wie die Druidin mit ihren Priesterinnen zusammensaß und heimlich den teuren Burgunder becherte, der ursprünglich für das Ritual vorgesehen war. Danach füllten sie das Methorn mit einem dieser stapelbaren Weine, die in Milchtüten vertrieben wurden. Till grinste. Falls es tatsächlich irgendwelche senilen Götter aus alten Zeiten geben sollte, dann hatte Mariana sie mit diesem Auftakt zum Ritual wahrscheinlich dazu eingeladen, sich in einem Jahrhundertwinter auszutoben.
»Euch zu Ehren wurden alle Feuer gelöscht und die Welt in Dunkelheit getaucht. Nun segnet unsere Herdplätze, bevor wir die Flammen neu entfachen.«
Die Druidin kniete nieder und Till hörte das leise Knirschen eines Feuerzeugrädchens. Eine winzige Flamme erschien und verlosch sofort wieder. Mariana fluchte herzhaft und versuchte es erneut. »Wo zum Teufel stecken denn die Grillanzünder!« Sie zerrte die sorgfältig gestapelten Scheite auseinander. Wieder flammte das Feuerzeug auf und diesmal konnte Till die weißen Trockenspiritusblöcke erkennen, die zwischen dürren Ästen und welkem Gras unter den Holzscheiten versteckt waren. Auf einen Schlag stand der ganze Holzstoß in Flammen. Mariana zuckte erschrocken zurück. Vermutlich hatte jemand die Holzscheite sicherheitshalber noch mit Lampenöl oder Diesel getränkt, damit es beim rituellen Entfachen des Feuers zu keiner Panne kam.
Die Druidin hatte sich fast sofort wieder gesammelt und begann erneut damit, gedehnt feierlichen Wörterbrei abzusondern. »Ich grüße auch euch, Clan der Ui Talchiu, die ihr vollzählig erschienen seid, und möchte euch folgende Worte aus der Erzählung von der Geburt des Condobar in Erinnerung rufen: Jeder der Urates, der nicht zur Samhaimnacht erschien, wurde wahnsinnig, und bereits am nächsten Morgen wurden sein Tumulus, sein Grab und sein Grabstein errichtet!«
Till tastete nach dem Spickzettel, den er sich in den Stiefelschaft geschoben hatte. Gleich war er dran und er konnte sich an kein einziges Wort aus dem Ritualtext erinnern.
»Ehret die Geister dieser Nacht!«, forderte die Druidin und vom Waldrand erklang so passend der Schrei eines Käuzchens, dass Till sich fragte, ob Mariana dort eine Priesterin versteckt hatte, die einen Ghettoblaster mit einer Vogelstimmen-CD bediente. Indessen schob er die Hand immer tiefer in den Stiefelschaft, ohne den verdammten Spickzettel zu finden.
»Und nun grüßt die Geister der Elemente und ruft unseren besonderen Gast für diese Nacht! Älteste, führt das Ritual fort!«
Als sich alle Blicke zu Till wandten, hielt er gerade seinen rechten Stiefel in der linken Hand, während sein rechter Arm fast völlig im Stiefelschaft verschwunden war und sein rechter Fuß allen Zuschauern das Geheimnis preisgab, dass Tills wärmste Socken rot und weiß geringelt waren. Till hatte einmal gelesen, dass man mit selbstbewusstem und würdevollem Auftreten jede peinliche Situation überspielen könne. Also setzte er eine Miene auf, als sei es völlig selbstverständlich, zum Samhaimritual als Ältester einen Stiefel in der Hand zu halten. Möglicherweise wäre es ihm auch gelungen, die anderen zu täuschen, wenn er sich wenigstens ansatzweise an seinen Text erinnert hätte, doch so musste er improvisieren.
»Ich … äh … rufe die lodernde Macht, die Hitze und Glut entfacht, und …« Till spürte die Glut in seine Wangen steigen. Verdammte Reime!
Er hörte jemanden leise lachen und eine Frauenstimme flüstern: »Der beschwört wohl seine letzte Geliebte.«
Mariana hätte ihn am liebsten mit Blicken getötet. Sie nahm getrocknete Kräuter aus einem Lederbeutel an ihrem Gürtel und warf sie in die Flammen.
»… die Hitze und Glut entfacht«, wiederholte Till verzweifelt. Dann beschloss er auf die Reime zu verzichten und wenigstens dem Inhalt nach die Grußformel zum richtigen Ende zu bringen. »Ich rufe euch, Geister des Feuers. Seid uns gnädig in der Zeit der Kälte und tragt das Feuer in unsere Herzen … äh, Herde natürlich. Ich rufe dich, gehörnter Herr der Finsternis. Äh, ich rufe den Gehörnten. Tritt ins Licht, um …« Ein Ruf vom Wald unterbrach sein Gestammel. Zwischen den Bäumen erschien eine unheimliche Gestalt mit einer Hirschmaske. Sie war nackt bis auf ein Fell, das um die Hüften geschlungen war. Der ganze Leib war mit einem Muster aus blauen Spiralen und Schlangenlinien bedeckt.
Die anderen Clansmitglieder begrüßten den Cernunos mit ausgelassenen Rufen. Die Priesterinnen schlugen Trommeln und Kurt spielte auf seiner Flöte. In wildem Reigen tanzten sie um das Feuer.
Mariana nahm noch einmal eine Hand voll Kräuter aus dem Beutel am Gürtel, um sie in die Flammen zu streuen, und bedachte Till mit giftigen Blicken.
Almat, der den Cernunos spielte, war genau im richtigen Moment erschienen, um die peinliche Vorstellung zu beenden, dachte Till erleichtert und sah aus den Augenwinkeln, wie sich die Flammen des Feuers grün zu färben begannen. Er hielt noch immer den Stiefel in der Linken. Als er ihn überstreifen wollte, bemerkte er den Spickzettel, den er sich in den geringelten Socken geschoben hatte. Till seufzte. Wenn es Geister gab, die ihren Schabernack mit den Menschen trieben, dann war er heute gewiss ihr Lieblingsopfer gewesen. Er sah zu Mariana hinüber und wollte sich für den peinlichen Auftritt entschuldigen, doch sie beachtete ihn gar nicht mehr, sondern starrte stattdessen wie gebannt in die Flammen, deren Farbe an einen spätsommerlichen Gewitterhimmel erinnerten.
*
Der Erlkönig zog sich den Umhang enger um die Schultern. Es war ein lausiges Wetter in dieser Nacht und seine Laune war auf dem Tiefpunkt angelangt. Was hatte ihn nur geritten, als er sich mit diesem Scharlatan eingelassen hatte?
Missmutig blickte er zu dem untersetzten Kerl, der vor dem halb herabgebrannten Lagerfeuer stand, irgendwelches Kauderwelsch murmelte und sich zwischendurch affektiert in ein spitzengesäumtes Tüchlein schnäuzte. Gestern noch, als ihm diese Witzfigur mit Seidenstrümpfen und gepuderter Perücke ihren Plan auseinander gesetzt hatte, war ihm alles ganz einleuchtend vorgekommen. Dies war die Nacht der Nächte! Sie beide wussten, dass die Zwergenvölker so aufmerksam wie an keinem anderen Tag des Jahres ihre Tore bewachten. Und doch war es die Nacht, in der es am leichtesten fiel, in die Welt der Sterblichen zurückzukehren, wenn man nur den richtigen Weg wählte. Alle Tore, die aus dem Reich der Feenwesen in die Welt der Menschen führten, wurden von den tyrannischen Zwergenvölkern auf das Strengste bewacht. Nur wer ihre ausdrückliche Erlaubnis hatte, durfte hinüber, um sich in der Welt der Sterblichen ein wenig zu amüsieren. Natürlich konnte man auch versuchen durch Zauberei ein Tor zu öffnen, doch gelang dies nur, wenn man einen Ort fand, von dem aus eine Verbindung zu einem Tor in der Menschenwelt bestand. Leider waren auch diese Tore sämtlich von den Zwergenvölkern besetzt. So bestand unter normalen Umständen nicht die geringste Hoffnung, die Feenwelt verlassen zu können.
In der Samhaimnacht aber galt diese Regel nicht. Es war eine Nacht voller wilder, ursprünglicher Magie, in der die von den Zwergen erzwungene Ordnung ins Wanken kam. Nur in dieser verwunschenen Nacht konnte es geschehen, dass unwissende Sterbliche aus Versehen einen Übergang in die Feenwelt öffneten. Um daraus jedoch Nutzen ziehen zu können, musste man wissen, wann und wo es zu einem solchen Unfall kommen würde. Soweit der Erlkönig wusste, war es bisher noch niemandem gelungen, eine Verbindung zwischen zwei Weltentoren herzustellen, ohne dass es vorher Absprachen gegeben hatte. Dies galt bis vor einer Woche, als Graf Cagliostro uneingeladen auf einem Thing, einer Versammlung der Anführer der Dunklen, erschienen war und behauptet hatte, er habe die genauen Koordinaten eines sich spontan öffnenden Tores berechnet. Der Graf hatte etwas von Kabbalismus, Freimaurertum und altägyptischer Astrologie erzählt und irgendwie hatten sich damals seine Ausführungen ganz plausibel angehört. Das war der Grund, warum der Erlkönig in dieser Nacht auf einem einsamen Hügel stand und auf ein Wunder wartete.
Cagliostro streute ein wenig Pulver in die Glut und die Flammen verfärbten sich grün. Baldur, ein Werwolf, der gleichzeitig das Schoßhündchen und den Leibdiener des Grafen abgab, heulte erschrocken auf und verkroch sich hinter dem Umhang seines Herren. Obwohl Baldur in seiner Wolfsgestalt recht eindrucksvoll aussah, legte er ein durch und durch hündisches Verhalten an den Tag.
Der Erlkönig schnaubte verächtlich. Billige Taschenspielertricks! Das mochte vielleicht reichen, um einen verblödeten Werwolf zu beeindrucken, aber mit wirklicher Magie hatte das nichts zu tun!
Der Fürst deutete in Richtung des Kläffers und wollte gerade einen bissigen Kommentar abgeben, als ihm Cagliostro energisch auf die Hand schlug. »Lass das! Das mag Baldur nicht. Du kannst von Glück sagen, dass er es nicht gesehen hat. Er ist sensibler, als er aussieht!«
»Sensibel?« Der Elbenfürst musterte den struppigen Wolf, der seinen Blick nun mit großen blauen Augen erwiderte.
»Er mag es nicht, wenn man mit Fingern auf ihn zeigt. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber seit ich ihn kenne, haben es schon mindestens zwei Dutzend Leute bereut, auf ihn gezeigt zu haben. Weißt du, es gibt ein sehr hässliches Geräusch, wenn die Fingerknochen zwischen seinen Fängen knacken und …« Der Graf unterbrach sich und sah fast erschrocken zum Feuer. Die grüne Flamme begann zu wachsen.
»Das Tor!«, rief Cagliostro triumphierend. »Bei den Göttern Ägyptens, es ist vollbracht!«
Der Erlkönig begutachtete die Flammensäule misstrauisch. Sie war inzwischen mehr als mannshoch und auch gut einen Schritt breit. Deutlich spürte er die magische Aura, die von ihr ausging. Das konnte tatsächlich ein Tor sein. Aber wohin würde es führen?
»Nun, mein Baumkönig«, der Zauberer lächelte ironisch und deutete auf die Flamme. »Ich würde sagen: Alter vor Schönheit.«
»Ich möchte Euch nicht um den Ruhm Eurer Tat bringen, Graf. Großmut ist das Privileg der Könige. So gewähre ich Euch, als Erster den Weg in die Freiheit zu beschreiten.«
Cagliostros Lächeln erstarrte. Sein linkes Augenlid begann zu zucken. »Mich jetzt vorzudrängeln wäre Majestätsbeleidigung. Ihr wisst, welchen Respekt ich vor Euch empfinde.«
So konnte das nicht weitergehen! Wahrscheinlich würde sich das Tor in wenigen Augenblicken wieder schließen, wenn es denn wirklich ein Tor war und nicht nur eine gleißende Flamme. Der Erlkönig bückte sich und griff nach einem trockenen Ast. »Schau her, Baldur. Schönes Stöckchen!«
Der Werwolf legte die Ohren an und begann treuherzig mit dem Schwanz zu wedeln.
»Komm, mein Guter! Bring’s zu Herrchen!« Mit einer knappen Bewegung aus dem Handgelenk schleuderte der Erlkönig den Stock durch das vermeintliche Portal. Der Werwolf war mit einem Satz auf den Beinen und stürmte ohne zu zögern hinter dem Stock her durch die grünen Flammen.
»Es scheint ihn nicht umgebracht zu haben«, murmelte Cagliostro nach einem Moment des Schweigens.
»Zumindest nicht sofort«, stimmte der Elbenfürst zu.
Die Flamme wurde kleiner. Wenn sie jetzt nicht handelten, dann war die Gelegenheit verpasst. Entschlossen packte der Erlkönig den Grafen am Arm. »Wir gehen zusammen!«
Cagliostro schluckte, leistete aber keinen Widerstand. »Bei Isis und Osiris! So sei es!«
Statt Hitze spürte der Erlkönig einen eisigen Luftzug, als sie durch die grünen Flammen schritten. Es dauerte kaum einen Herzschlag und sie standen neben einem anderen großen Feuer, um das sich rund dreißig junge Männer und Frauen versammelt hatten. Verblüfft sah er sich um. Die Männer trugen Schwerter und Dolche um die Hüften gegürtet. Etliche hielten Trinkhörner in den Händen. Bei den Gerüchten, die in ihrer Welt die Runde machten, hatte er erwartet, dass sich ein wenig mehr verändert hatte. Es sah fast aus wie früher … Abgesehen davon, dass hier sowohl Männer als auch Frauen Röcke trugen.
Die Feiernden schienen sie nicht zu bemerken. Etwas stupste an sein Knie. Baldur hatte den Stock vor seine Füße gelegt und hechelte erwartungsvoll. Der Erlkönig tätschelte dem Werwolf geistesabwesend den Kopf und sah in die Runde. Niemand reagierte auf ihre Ankunft. Stattdessen richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf einen nackten Tänzer mit einem Hirschgeweih. Obwohl … Ein rothaariges Mädchen starrte ihn und Cagliostro mit offenem Mund an.
»Keine Sorge, meine Liebe.« Der Graf lächelte charmant. »Es ist eine Freude, zu sehen, welch entzückende Geschöpfe diese Zeit hervorbringt. Wisst Ihr, dass Ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit der Marquise de Pompadour habt?« Cagliostro stieß einen schmachtenden Seufzer aus, bei dem sich dem Erlkönig fast der Magen umdrehte. Sie waren noch keine fünf Minuten hier und schon schien der geile Bock vergessen zu haben, was ihre Aufgabe war.
Das rothaarige Mädchen blinzelte, als wolle es sich vergewissern, dass dies alles nicht nur eine Halluzination war, dann öffnete es den Mund, als wolle es etwas sagen, schloss ihn aber gleich wieder, ohne dass ein Laut über seine Lippen gekommen wäre.
Ich habe schon intelligentere Fische getroffen, dachte der Erlkönig. Es war an der Zeit, hier zu verschwinden. Das Fest ringsherum ging weiter und es war vielleicht nur eine Frage von Augenblicken, bis noch jemand auf sie aufmerksam wurde.
Der Graf machte eine stutzerhafte Verbeugung und wedelte dabei mit seinem Dreispitz herum. »Gestatten, Madame, Alessandro Graf von Cagliostro, zu Ihren Diensten. Die mürrische Gestalt in dem grünen Umhang hinter mir ist niemand anderes als seine Majestät, der Erlkönig. Und zu seinen Füßen kauert mein Dien… ähm, ich meine Baldur, mein Hund.«
»Angenehm«, flüsterte die Rothaarige noch immer sichtlich verwirrt.
»Ihr habt doch nichts dagegen, uns ein Stück weit zu begleiten?« Ohne auf eine Antwort zu warten legte Cagliostro ihr seine Hand um die Hüften und zog sie vom Feuer fort.
Misstrauisch blickte der Erlkönig in die Runde. Niemand schien darauf zu achten, dass das Mädchen ging. Alle waren ganz im Bann des Mannes mit der Hirschmaske und tanzten um ihn herum. Eigentlich ein hübsches Fest, dachte der König beiläufig, während er den anderen folgte. Die alten Götter waren also doch nicht ganz vergessen. Das würde ihnen bei ihren Plänen helfen!
Sie gingen ein Stück den Hügel hinab und gelangten zu einer langen Reihe merkwürdiger Karren. Verwirrt sah sich der Albenfürst um. Nirgends waren Pferde oder Fuhrknechte zu sehen.
Das Mädchen und Cagliostro kicherten albern. Erstaunlich, wie schnell die beiden miteinander vertraut geworden waren! Sie gingen auf eine grüne Kutsche zu, als die Rothaarige zwei silberne Schlüssel aus ihrem Dekolletee angelte und den Verschlag aufsperrte. Die Sitze waren zwar nicht mit Leder bezogen, aber sehr weich.
Cagliostro komplimentierte ihn nach hinten und der Erlkönig ließ es mit sich geschehen. Er spürte eine ungewöhnliche Anspannung in der Natur. Selbst für eine Samhaimnacht gab es außerordentlich viele, ungebundene magische Energien. Etwas hatte sich drastisch verändert, seit er das letzte Mal in der Welt der Sterblichen gewesen war!
»Welches Jahr haben wir eigentlich?«
Die Rothaarige hörte auf zu kichern. »Ihr beide … seid ihr wirklich Geister?« Ein Unterton beginnender Panik schwang in ihrer Stimme mit.
Cagliostro legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. »Fühlt sich so ein Geist an?«
Sie kicherte.
»Hättest du die Güte, meine Frage zu beantworten?«, wiederholte der Elbenfürst ruhig.
»Na, es ist das Millennium, ihr zwei Spaßvögel. Das Jahr zweitausend. Ein neues Zeitalter!«, trällerte sie euphorisch und beugte sich dann zu Cagliostro, um dem Stutzer etwas ins Ohr zu flüstern.
Ein neues Zeitalter, beileibe! Zweihundertfünfzig Jahre waren vergangen, seit der Erlkönig aus der Welt der Sterblichen verbannt worden war. Er dachte an die bärtigen Männer mit den Schwertern, die er am Lagerfeuer gesehen hatte. Zumindest einiges war in dieser Zeit besser geworden. Es schien, dass die Pfaffen ihren Einfluss verloren hatten und …
Die Kutsche brüllte auf wie ein verwundeter Löwe. Der Erlkönig wurde in die Sitze gepresst. Im Reflex griff er nach seinem Schwert. Vor der Kutsche schnitt plötzlich gleißendes Licht durch die Finsternis.
Cagliostro hatte versucht von seinem Sitz aufzuspringen, war mit dem Kopf heftig gegen die niedrige Decke gestoßen und benommen auf den Sessel zurückgesunken. Seine Perücke hing ihm schief in die Stirn, was die Rothaarige mit albernem Gelächter quittierte. Dann begann die Kutsche loszufahren, ohne dass ein Knecht gekommen war, um Pferde anzuspannen.
Die Finger des Erlkönigs krallten sich in den zähen Stoff der Rückbank. Offenbar hatte sich doch mehr geändert, als gut war, dachte er nicht zum letzten Mal in dieser Nacht.