12

»Warum ausgerechnet hier?« Cagliostro betrachtete amüsiert den Neubau mit dem Leuchtschild Das Bordell. Gelbe Neonlampen brannten über den Fenstern und waren in seinen Augen der Tod jeglicher erotischer Phantasien. Auf der anderen Straßenseite lag das Pascha, ein Hochhaus, das in verschiedenen Blautönen gestrichen war und von pinkfarbenen Leuchtstoffröhren illuminiert wurde. Er schielte zu der zweiflügeligen Glastür. Ein älterer Mann mit einem Dackel kam vorbei. Eine merkwürdige Gegend war das hier!

»Los, komm schon rein!« Mariana stand im Eingang der kleinen Pommesbude. Sie hatte den Kragen hochgeschlagen, um sich gegen den eisigen Regen zu schützen.

Der Graf warf einen letzten Blick auf das Pascha. Zu seiner Zeit hatte er viele Etablissements dieser Art gesehen, aber keines, das so groß war wie dieses. Er fragte sich, ob die Bordelle von innen heutzutage wohl anders aussahen. Gerne hätte er einen Blick hinter die Glastüren geworfen, aber Mariana würde wahrscheinlich kein Verständnis für seine Neugier haben. Schließlich folgte er ihr in die Pommesbude.

Die Druidin stand am Tresen und besprach etwas mit einer älteren Frau in einem rosa Putzkittel. Die Inhaberin der Pommesbude hatte falsche rote Haare. Sie taxierte Cagliostro kurz mit einem abschätzenden Blick und reichte Mariana dann zwei Dosen über die Theke.

»Könnten wir Gläser haben, wenn es keine Umstände macht?«, fragte der Graf höflich.

Die falsche Rothaarige stülpte wortlos zwei Plastikbecher auf die Dosen.

Mariana gab ihm ein Zeichen, sich an einen der Stehtische zu stellen, dann flüsterte sie etwas der Bedienung zu. Die beiden Frauen grinsten. Cagliostro fühlte sich nicht wohl. Am liebsten wäre er sofort gegangen. Er sah zu der Uhr über den Toilettentüren. Es war Viertel nach acht.

Die Druidin kam zum Tisch hinüber und stellte die Dosen ab.

»Dein Wunderknabe kommt zu spät«, murrte Cagliostro.

»Er wird schon noch auftauchen.«

»Ich wüsste zu gerne, wie man auf die Idee kommen kann, sich an diesem Ort zu einer geschäftlichen Besprechung zu treffen. Sollen wir ihn hier vielleicht auf eine Portion frittierte Kartoffelstäbchen einladen und ihm ein köstliches Getränk aus einer Blechdose anbieten? Wer immer er auch sein mag, Stil hat er nicht!«

Ein Mann mit schulterlangem, blondem Haar kam herein. Er trug dunkle Kleider und hatte einen Schnauzbart wie ein ungarischer Husarenoffizier. Seine Kleidung war reichlich abgetragen.

Cagliostro blickte fragend zu Mariana.

»Nein!« Die Druidin schüttete sich dunkle, sprudelnde Flüssigkeit in ihren Becher. »Magst du spielen?« Sie deutete zu den leuchtenden Kästen, die neben den Klotüren hingen.

»Spielen?«, fragte der Graf irritiert.

Mariana seufzte gequält. »Das sind Spielautomaten.

Wenn man eine Münze hineinwirft und eine Reihe gleicher Symbole auf den sich drehenden Scheiben erscheinen, kann man ein Vielfaches vom Einsatz gewinnen.«

»Spielautomaten?« Cagliostro kostete das Wort auf der Zunge, als habe er von verdorbener Speise gegessen. »Ich habe einmal gegen einen Schachautomaten gespielt. Welchen Spaß macht ein Spiel, wenn man kein Gegenüber hat, das man beobachten kann.«

Die Druidin verdrehte die Augen, sagte aber nichts.

Eine Viertelstunde verstrich, ohne dass der geheimnisvolle Kerl erschien, von dem Mariana so begeistert erzählt hatte. Cagliostro überlegte, ob er nicht ein paar magische Veränderungen an diesem trostlosen, kleinen Lokal vornehmen sollte. Wahrscheinlich würde es gleich viel gemütlicher aussehen, wenn er den Herd in einen offenen Kamin verwandelte. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Frau hinter der Glastheke reagieren würde. Alberne Person! Wann immer er in ihre Richtung sah, begann sie prustend zu kichern und drehte sich zu ihren Bratwürstchen um. Sie sollte doch froh sein wenigstens einmal ein anständig angezogenes Mannsbild in ihrem Etablissement zu Gast zu haben. Wenn er sich den Langhaarigen in seinen abgewetzten Klamotten so ansah, konnte der Graf beim besten Willen nicht nachvollziehen, was an einem Gehrock aus feinstem Tuch, einer Brokatweste, Kniebundhosen und einer frisch gepuderten Perücke so komisch sein sollte!

Es war fast neun, als ein kleiner, schlanker Mann in langem, schwarzem Ledermantel eintrat. Obwohl es dunkel war, trug er eine Sonnenbrille. Er nickte der Rothaarigen hinter dem Tresen zu, die ihn offenbar kannte, und kam dann zum Stehtisch hinüber. Ohne Cagliostro auch nur eines Blickes zu würdigen wandte sich der Fremde an Mariana. »Du hast nach mir fragen lassen.«

Die Druidin lächelte unsicher. »Eigentlich sollte ich nur vermitteln. Mein Freund hier sucht dich.«

Der Fremde bedachte Cagliostro mit einem flüchtigen Blick, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich wieder an Mariana. »Ist dein Freund ein Schauspieler auf Drehpause oder ein durchgedrehter Junkie?«

»Der Freund ist der Geldgeber, und wenn Sie für mich arbeiten wollen, sollten Sie wenigstens ein bisschen so tun, als würden Sie sich für mich und unser Unternehmen interessieren.« Cagliostro kannte diese Sorte von arroganten Nichtsnutzen und fragte sich, ob er es wert war, noch weiter Zeit mit ihm zu verschwenden.

»He, Mann, ich bin so was wie ein Söldner. Leg Geld auf den Tisch, dann hast du meine Aufmerksamkeit. Ansonsten hat deine Süße hier mehr zu bieten.« Er schenkte Mariana ein anzügliches Lächeln.

Der Graf drehte sich so, dass er mit dem Rücken die Sicht zur Theke versperrte, und legte eine schwere Geldkatze neben die leeren Coladosen. »Das ist ein Kilo Silber in Mariatheresientalern. Wenn Sie damit zu einem Münzhändler gehen, sind Sie ein gemachter Mann.«

Der Fremde drückte die Zigarette aus, zog die Brille in Richtung Nasenspitze und sah den Grafen über die dunklen Gläser hinweg nun zum ersten Mal richtig an. »Morde begehe ich nicht, damit das klar ist.« Er öffnete den schweren Samtbeutel und nahm einige der großen Silbermünzen heraus. »Sind die echt?«

»Falls Sie wissen möchten, ob sie von einem Zeitgenossen Maria Theresias gemacht sind, kann ich das nur mit einem entschiedenen Ja beantworten.«

Der Fremde runzelte die Stirn, ließ dann aber doch den Beutel in seiner Manteltasche verschwinden. »Ich heiße Roger. Roger Jäger. Meine besondere Begabung besteht darin, Dinge verloren gehen zu lassen, die eigentlich als gut verwahrt gelten.« Er grinste. »Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich bin weder Schauspieler noch bin ich blöd. Mariana hat mir von Ihren Fertigkeiten erzählt«, fügte der Graf in versöhnlicherem Ton hinzu. »Ich weiß nicht, was für einen Eindruck Sie von mir haben, aber über eines sollten Sie sich im Klaren sein. Wenn Sie versuchen mich aufs Kreuz zu legen, werden Sie es bereuen.«

Roger steckte sich eine neue Zigarette an. »Hört sich so an, als hätten Sie große Pläne. Ich hoffe, Sie glauben nicht, dass Sie mit einem Beutel Silber meine Honorarvorstellungen decken.«

»Nehmen Sie es als Vorschuss. Kommen wir lieber zur Sache! Sie kennen den Dom?«

»He, Mann, ich bin Kölner. Genauso gut könnten Sie einen Fisch fragen, ob er Wasser kennt.« Roger blies einige unregelmäßige Rauchringe in Richtung Tresen. »Die Schatzkammer gilt als absolut einbruchssicher. 1975 hat da ein Trio aus zwei Jugoslawen und einem Italiener abgeräumt. Seitdem hat man ’ne verdammte Menge für die Sicherheit des Domschatzes investiert. Um da hineinzukommen, müsste man sich in eine Fliege verwandeln!«

Cagliostro lächelte kühl. »Seien Sie gewiss, dass wir über außergewöhnliche Möglichkeiten verfügen. Ich kenne den Dom und seine Geheimnisse! Ich weiß von der netten Einbauwohnung des Küsters ganz in der Nähe der Schatzkammer und ich kann Ihnen sogar sagen, wo der Dom noch heute an der Balustrade oberhalb des Daches mit Hakenkreuzen geschmückt ist und wie die beheizbaren Abwasserleitungen der teuersten Toilette der Stadt laufen.«

Roger wirkte irritiert. »Was für’n Klo?«

»Es gibt eine Toilette im Dachstuhl«, erklärte Cagliostro gönnerhaft. »Sie gehört zu den Werkstätten, die die Dombauhütte dort oben unterhält. Damit die Rohre im Winter nicht platzen …«, Cagliostro grinste breit, »… und die ganze Scheiße dann an den Mauern des Doms hinabläuft, hat man die Abwasserrohre mit einer Heizung versehen.«

»Sie sind gut informiert.« Roger schnippte spielerisch die Asche von der Zigarette. »Aber die Kenntnis über Abwasserrohre wird mir bei einem Bruch nicht weiterhelfen. Und falls Sie jetzt auf den Ventilatorschacht kommen, durch den die Stümper vor fünfundzwanzig Jahren eingestiegen sind, dann vergessen Sie’s gleich wieder. Der ist viel zu gut gesichert!«

»Ein Sicherheitssystem, zu dem man sämtliche Blaupausen besitzt, ist vermutlich nur noch die Hälfte wert«, erklärte Cagliostro ruhig.

»Da haben Sie wohl Recht. Aber um an die Pläne zu kommen, müssten wir einen Einbruch in …«

»Die Pläne liegen im Wagen meiner Begleiterin.«

Roger drückte die Zigarette aus. »Das ist ein verdammt dämlicher Scherz.«

»Sehe ich aus wie ein Mann, der scherzt?« Cagliostro fragte sich wieder, wie Mariana darauf gekommen war, dass der Kerl der Richtige sein könnte. »Ich sagte doch, ich verfüge über besondere Mittel. Alles, was mir noch fehlt, ist ein mutiger und begabter Mann, der die Ausführung übernimmt.«

»Nun reden Sie mal nicht um den heißen Brei herum. Was wollen Sie?«

»Das Dreikönigsreliquiar. Es gibt da etwas, was dort eigentlich nicht hineingehört, und genau das sollen Sie mir holen. Es ist eine Knochenflöte. In dem Reliquienschrein gibt es ein Brett, auf dem die Köpfe der Heiligen so nebeneinander gereiht sind, dass man sie durch ein kleines Fenster sehen kann. Hinter den Schädeln verborgen liegt die Knochenflöte.«

»Sie meinen, ich soll einen Sarg knacken?« Roger hatte sich erneut eine Zigarette angezündet.

»Das ist doch sicher kein Problem für dich.« Mariana blinzelte kokett. »Du bist doch der beste Dieb der Stadt! Hast du etwa Angst vor ein paar Toten?«

»Natürlich nicht!« Roger antwortete eine Spur zu hastig, um überzeugend zu wirken. »Und Sie haben wirklich die Pläne zu allen Sicherheitseinrichtungen?«

Cagliostro nickte.

»Wer schickt Sie? Ich meine, da kommt man doch nicht einfach so dran. Sind Sie von der Russenmafia?«

»Sehe ich etwa aus wie ein Russe?«, empörte sich der Graf. »Ich komme aus Palermo!«

»Die italienische Mafia also … Ihr wollt die Heiligen zurück, nicht wahr? Auf dem Rechtsweg geht da nichts. Das ist alles längst verjährt. Es ist mehr als achthundert Jahre her, dass die Kölner die Heiligen aus Mailand geklaut haben. Versuchen Sie nicht mir was vorzumachen. Ich hab ein Buch gelesen, in dem es darum ging, wie drei Ritter die Heiligen nach Köln geschafft haben. Und jetzt wollt ihr Italiener sie zurück. Deshalb soll ich das Reliquiar aufbrechen …«

»Es geht nur um die Knochenflöte! Ich habe nicht das Geringste mit irgendwelchen sizilianischen Viehdieben zu tun. Ich bin Privatmann! Und Sie werden nur diese Flöte aus dem Sarg holen.« Cagliostro war nun endgültig mit seiner Geduld am Ende. Warum sollte er mit dem Kerl diskutieren, wenn er die Macht hatte, seine Gedanken zu manipulieren? Er konzentrierte sich und sah, was Roger im Innersten bewegte. Deshalb also hatten sie sich in der Nähe des Pascha getroffen. Der Graf musste schmunzeln. Er beschloss die Pläne des Diebs für diese Nacht ein wenig durcheinander zu bringen. Roger würde keine Gelegenheit haben, sein Silber ins Pascha zu tragen! Cagliostro hatte keine Lust, diesem Kerl lang und breit zu erklären, in welches Verwaltungsgebäude des Erzbistums er eingebrochen war, um an die Pläne der Alarmanlagen zu kommen, oder warum es ihm unmöglich war, den Dom zu betreten und den Einbruch selber durchzuführen. Er mochte den Kerl nicht, und je schneller diese Angelegenheit zu einem Ende gebracht war, desto besser! Roger würde in den Dom einsteigen, die Knochenflöte bekommen und so viel herbeigezaubertes Silber erhalten, wie nötig war, um ihn zufrieden zu stellen.

Cagliostro fragte sich, ob Mariana wohl ernsthaft erwartete, dass er nett zu ihrem Bekannten war. Jede Sekunde, die er mit diesem Stutzer verbrachte, war doch die reine Zeitverschwendung! Ob Roger wohl einmal eine Affäre mit Mariana gehabt hatte? Über so etwas sollte er sich keine Gedanken machen! Diese Sache musste jetzt zu einem Ende gebracht werden. Zum Glück gab es eine Möglichkeit, dieses lästige Gespräch abzukürzen. Er würde sich erlauben, ein wenig am Ehrgefühl des Diebes zu manipulieren. Die Kunst, den Geist eines Menschen zu beherrschen, war vielleicht die nützlichste aller magischen Fähigkeiten, über die er nun verfügte.

Wie sich zeigte, war Roger für derartige Eingriffe äußerst empfänglich. »Ihnen ist die Sache also zu riskant?«, fragte der Graf wie beiläufig.

»Zu riskant gibt’s für mich nicht!« Roger wirkte richtig glücklich, als er sagen durfte, was Cagliostro ihm eingegeben hatte.

»Und Sie würden sich auch sofort mit uns auf den Weg machen?«

»Klaro!« Er deutete auf ein kleines Auto, das vor der Imbissbude parkte. »Mein Werkzeug hab ich immer dabei! Liegt unter ’nem doppelten Boden im Kofferraum von meinem Mini.«

»Na, dann kann es ja losgehen.«

Im Hinausgehen drängte sich Mariana an Cagliostros Seite. »Wie hast du das geschafft?«, flüsterte sie.

Der Graf schenkte ihr sein gewinnendstes Lächeln. »Du weißt doch um meinen unwiderstehlichen Charme. Übrigens … Woher kennst du den Kerl eigentlich?«

»Er ist ein großer Fan meiner Pilze und bezieht gelegentlich auch andere Kräuter, die ihm helfen seinen Mann zu stehen.«

Cagliostro lachte. »In anderen Zeiten hättest du eine erstklassige Hexe abgegeben, meine gefährliche Verführerin.«

*

Die Friseuse stoppte den Wagen und deutete auf ein großes, blau gestrichenes Tor. »Dort wohnt Joe.« Gabi schaltete die Scheinwerfer ab. »Er will dich unbedingt kennen lernen. Aber sei vorsichtig. Er ist sehr misstrauisch. Er glaubt nicht, dass du ein Vulkanier bist.«

Der Erlkönig spreizte die Finger, so wie es Spock bei Raumschiff Enterprise tat. »Ich werde ihn überzeugen.«

»Wenn du wenigstens deine Uniform tragen würdest. Joe mag Uniformen, das würde vielleicht helfen …«

Der Elbenfürst ignorierte Gabis weitere Einwände und öffnete die Tür. Nach allem, was die kleine Friseuse erzählt hatte, war Joe ein interessanter Mensch. Ein wenig verbohrt und sonderbar vielleicht, aber vermutlich ein nützlicher Gefolgsmann.

Die Gegend, die Joe für sein Quartier gewählt hatte, gefiel dem Erlkönig. Es war ein altes Industriegebiet am Westrand von Köln. Überall überwucherten Brombeerbüsche bröckelnde Ziegelsteinmauern. Die Wurzeln der Bäume hatten den Asphalt der engen Straße aufplatzen lassen, die sich zwischen einzelnen Grundstücken wand. Bei Nacht schien hier alles wie ausgestorben. Die niedrigen Hallen mit den schäbigen Dächern aus altersgrauer Dachpappe oder rostigem Wellblech waren dunkel. Kein einziges Fahrzeug war ihnen auf der Straße entgegengekommen. Und doch waren es nur ein paar hundert Meter von hier aus zum Militärring, der mit gleich drei Autobahnzubringern verbunden war. Joes Unterkunft lag ideal für die Pläne, die der Erlkönig hatte. Die Einfahrt auf das Gelände war groß genug, um einen Lastwagen passieren zu lassen. Neben dem großen Tor gab es eine kleine Tür. Sie war nur angelehnt. Über einer Klingel war ein, vergilbtes Namensschild angebracht.

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Der Elbenfürst stieß die Tür auf.

»Nicht!« Gabi packte ihn am Arm und zog ihn zurück. »Du musst klingeln. Joe holt uns dann ab. Wenn du einfach reingehst, packt dich Blau!«

»Blau?«

Noch bevor Gabi antworten konnte, erklang ein drohendes Knurren jenseits der Tür. Steifbeinig stakste ein schwarz-weißer Bullterrier aus der Finsternis auf sie zu. Die Lefzen zurückgezogen, zeigte er zwei Reihen makellos mörderischer Zähne. Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung. Er sah zum Erlkönig auf, klemmte den Stummelschwanz zwischen die Hinterbeine und stieß ein erbärmliches Jaulen aus.

»Du wirst uns jetzt zu deinem Herren bringen«, sagte der Elbenfürst ruhig. Kein Tier vermochte sich seinem Willen zu widersetzen. Die meisten gehorchten ihm freiwillig. Nur selten musste er seine magischen Kräfte benutzen, um ein Geschöpf wie diesen hasserfüllten Hund zu beruhigen. Etwas stimmte mit Blau nicht. Der Erlkönig konnte die Gedanken von Tieren spüren. Und dieser Hund war sonderbar. Er schien Sehnsucht nach einem Farbtopf zu haben!

»Wie machst du das?«, fragte Gabi bewundernd. »Blau ist der reinste Killer. So friedlich ist er sonst nur, wenn Joe ihm etwas sagt.«

»Du weißt doch, ich bin Vulkanier«, entgegnete der Elbenfürst und trat auf den Hof hinter dem Tor. Ein großer Lastwagen, auf dessen Hänger ein Hai und ein Ziegenbock gemalt waren, stand auf dem Platz. Ein merkwürdiges Wappen, dachte der Erlkönig und sah sich aufmerksam um. Auf dem pockennarbigen Asphalt schillerten bunte Öllachen. Es gab zwei große Hallen. Aus einer flackerte unstetes Licht. Zwischen den Hallen stand ein vergammelter Wohnwagen mit einem Parabolschirm auf dem Dach. Irgendwo spielte leise Countrymusik.

Der Erlkönig umrundete den Lastwagen. Jetzt konnte er die Halle, aus der das Licht flackerte, besser sehen. Die ganze Vorderfront wurde von einem weiten, offenen Tor eingenommen. Ein kleiner, stiernackiger Mann stand über eine Werkbank gebeugt. Er hantierte mit einem Schweißgerät, das sternhelle Funken in die Dunkelheit stieben ließ. Neben ihm stapelten sich etliche zerdrückte Bierdosen.

»Joe?«, fragte der Erlkönig laut.

Der Mann am Schweißgerät zuckte zusammen. Er schob die dunkle Schutzmaske zurück und spähte blinzelnd durch das Tor.

»Ich bin es, Joe!«, rief Gabi. »Ich habe den Vulkanier mitgebracht, von dem ich dir erzählt habe.«

Joe stellte das Schweißgerät ab und sah missbilligend zu Blau, der eingeschüchtert neben dem Elbenfürsten kauerte.

»Was ist denn mit dir los, alter Knabe? Macht der Fremde dir Angst?« Der Hund trottete zu Joe und schubberte seine breite Schnauze am ölverschmierten Blaumann seines Herrchens.

»Blau ist ein seltsamer Name für einen Hund«, sagte der Erlkönig. Er war im Eingang zur Lagerhalle stehen geblieben und musterte Joes Refugium. Alles wirkte schmuddelig und alt. Nur die Werkzeuge waren gepflegt.

»Mein Hund ist nicht halb so seltsam wie Typen, die sich als Vulkanier ausgeben.« Joe blinzelte. »Du hast tatsächlich spitze Ohren! Ich nehme an, Gabi hätte gemerkt, wenn sie falsch wären. Mit Ohren kennt sie sich aus. Hast schon in genug hineingeschnitten, nicht wahr?«

Die Friseuse zog einen Schmollmund.

»Komm, Blau, ich hab was Feines für dich.«

Der Hund spitzte die Ohren und folgte aufgeregt Joe, der zu einer Werkbank an der Rückwand der Halle ging. Der hintere Teil des großen Arbeitsraums war mit einer Plane in Tarnmustern abgetrennt.

Joe nahm einen Farbtopf, stemmte den Deckel mit einem Schraubenzieher auf und stellte den Topf dann auf den Boden. Der Hund stieß ein freudiges Kläffen aus und hockte sich schnuppernd neben die Dose. Sein Herrchen ging zu einem Kühlschrank und holte drei Dosen Kölsch heraus. Mit lässiger Geste warf er dem Erlkönig eine der Dosen zu. Gabi drückte er ihre Dose lieber in die Hand. »Mit trockener Kehle redet es sich schlecht über Geschäfte.«

»Warum glaubst du, dass wir über Geschäfte reden sollten?«, fragte der Elbenfürst.

»Weil ein Typ wie du nicht mitten in der Nacht hierher kommen würde, nur um mir und Blau ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Gabi hat mir von dir erzählt. Du bist so etwas wie ein Kreuzritter. Hast eine Mission, nicht wahr? Kommst du wirklich von einem anderen Planeten?«

»Aus einer anderen Welt, würde ich eher sagen.«

Joe nickte. »Wenn man von hier aus nach Westen fährt, dann hat man das Gefühl, jede Welt ist besser.«

»Warum?«

»Zu viele Freaks! Es gibt Typen, die kommen nachts zum Dynamitfischen zu den Baggerlöchern!« Die Bierdose knirschte in Joes Faust. »Weißt du, ich bin Trucker. Ich halte viel von Freiheit, aber manche Dinge … Die Leute haben heute keinen Sportsgeist mehr. Ich hab nichts dagegen, wenn einer hundert Fische mit der Angel aus dem See zieht, aber Dynamit, das ist einfach nicht fair! Und dann die Sache mit den Riesenlöchern. Scheißbraunkohle! Sie ist der Fluch dieser Gegend! Hast du mal eines der Löcher gesehen, die sie hinter Köln in die Erde gerissen haben? Dreihundert Meter tief und ein paar Kilometer lang. Und die ganzen Kraftwerke! Wie ein Belagerungsring liegen sie um Köln. Ich wette, es regnet hier so oft, weil sie ganze Wolken aus verdampftem Kühlwasser in den Himmel pusten. Dutzende Dörfer mussten verschwinden, weil man an die Braunkohle wollte. Weißt du, was sie mit Alten machen, die nicht gehen wollen? Die Polizei kommt, um sie aus den Häusern zu zerren, in denen sie ihr Leben gelebt haben!« Joe zerknüllte die leere Bierdose zwischen seinen Fäusten und warf sie zu den anderen. Dann sah er zu der Plane mit dem Tarnmuster. »Mich werden sie nicht so leicht bekommen! Ich bin vorbereitet und ich werde mich wehren!«

»Wie es scheint, haben wir von einigen Dingen ganz ähnliche Vorstellungen. Allerdings … Reden ist immer leicht!«

Der Trucker zog die buschigen roten Augenbrauen zusammen. »Willst du etwa andeuten, ich sei ein Maulheld?«

»Das hat er nicht so gemeint!«, mischte sich Gabi ein. »Er ist doch nur ein Vulkanier! Er kennt sicher nicht die Feinheiten unserer Sprache.«

»Wie viel würdest du riskieren, wenn ich dir verspreche, wir löschen die Feuer in den verdammten Kraftwerken und knipsen in Köln die Lichter aus.«

Joe lachte. »Netter Traum! Gib mir einen Beweis, dass du mehr als ein Irrer bist, der zu viele Sciencefictionfilme gesehen hat, dann bin ich dein Mann.«

Der Erlkönig zog den verzauberten Ring von seinem Finger und wurde unsichtbar. Joe klappte der Unterkiefer herunter.

»Er hat sich sicher auf die Enterprise beamen lassen«, erklärte Gabi mit leicht zittriger Stimme. »In den Filmen machen sie das dauernd.« Dann fuhr sie stolz fort: »Ich hab dir doch gesagt, er ist ein Vulkanier!«

»Hast du heute schon Nachrichten gehört, Joe?«, fragte der Elbenfürst.

Der Trucker blickte sich misstrauisch um. »Der Energieminister. Das Attentat … Warst du das?«

»Attentat ist ein viel zu großes Wort«, spottete der Erlkönig. »Man könnte es ein Attentat nennen, wenn ich ernsthaft die Absicht gehabt hätte, Mager umzubringen. Und glaub mir, in dem Fall hätte ich nicht danebengeschossen. Ich würde diese kleine Demonstration eher als eine Warnung bezeichnen. Ich habe ihm ein Ultimatum gestellt, den Braunkohletagebau zu stoppen.«

»Du kannst jetzt mit deiner Show aufhören. Ich würd dich gerne sehen, wenn wir miteinander reden!«

Der Elbenfürst steckte den Ring auf den Finger zurück. Gabi stierte ihn an, als sei er ein Weltraummonster.

»Du glaubst nicht wirklich, dass Mager sich auf dein Ultimatum einlassen wird.« Joe spuckte aus und ging zum Kühlschrank hinüber, um sich ein neues Bier zu holen. »Mager ist ein verdammt harter Brocken. Um den zu beeindrucken, musst du dir schon was anderes einfallen lassen!«

»Ich weiß! Deshalb werde ich zuschlagen, bevor mein Ultimatum abgelaufen ist. Ich hab mir etwas ausgedacht, womit man Mager richtig Angst machen kann. Aber dafür brauche ich eure Hilfe!«

»Sind wir dann Terroristen?«, fragte Gabi verunsichert.

»Freiheitskämpfer sind wir, meine Kleine!«, rief Joe begeistert. »In hundert Jahren wird man uns Helden nennen, weil wir das einzig Richtige getan haben.« Blau kläffte, als wolle er die Worte seines Herrchens bekräftigen.

»Du hast gesagt, du seiest vorbereitet, wenn sie dich holen kommen, Joe. Was hast du damit gemeint?«

Der Trucker deutete in Richtung der Plane. »Wenn hier jemals die Bullen auftauchen sollten, dann werden sie eine verdammt unangenehme Überraschung erleben. Ich bin nämlich sozusagen kugelfest. Ich glaube nicht, dass irgendein Streifenwagen in diesem Lande etwas an Bord hat, womit man hiergegen anstinken kann.« Er zog die Plane zur Seite. Dahinter stand ein sechsrädriges, in dunklem Oliv gestrichenes Fahrzeug, das ein bisschen an einen überdimensionierten, stählernen Sarg erinnerte. »Ein Panzerspähwagen! Die Kiste hat kugelsichere Scheiben und auch gegen die Reifen kann man mit normalen Faustfeuerwaffen so gut wie nichts ausrichten.«

Der Erlkönig stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Wie kommt man denn an so was?«

Joe strahlte wie ein kleiner Junge unter dem Weihnachtsbaum. »Du glaubst gar nicht, was bei Manövern alles verloren geht … Ich hab ganz gute Verbindungen zu ein paar Unteroffizieren. Ich hab die Kiste einfach gegen tausend Freikarten für ein Heimspiel des FC getauscht.«

Der Erlkönig ging zu dem Panzerwagen hinüber. Die große Menge Stahl bereitete ihm Unbehagen. Im Gegensatz zu den meisten Elben war es ihm gelungen, seine Empfindlichkeit gegen Eisen und Stahl zu überwinden. Die beiden Metalle konnten ihn nicht mehr verbrennen, wenn er sie berührte. Doch fühlte er sich immer noch unwohl, wenn er ihnen zu nahe kam. Ob er den Wagen wohl benutzen konnte? Wenn er es schaffen würde, ihn unsichtbar zu machen, wäre ein Panzerwagen wohl eine so gut wie unbesiegbare Waffe. Leider war Eisen ein Metall, das zu unberechenbaren Nebeneffekten neigte, wenn man es mit Zaubern belegte.

Ein lang gezogenes Jaulen riss den Erlkönig aus seinen Gedanken. Blau heulte die Decke der Lagerhalle an. Er hatte die Augen verdreht, und soweit man Gefühle aus einem Hundegesicht ableiten konnte, wirkte er glücklich.

»Was hat dein Hund?«

Joe zuckte mit den Schultern. »Er ist high. Das dauert meistens nicht sehr lange, wenn er Farbe schnüffelt.«

»Du meinst, dein Hund ist süchtig?«, fragte der Elbenfürst ungläubig. Er hatte schon betrunkene Pferde gesehen, die unter Obstbäumen halb verfaultes Fallobst gefressen hatten, aber Hunde, die an Farbtöpfen schnüffelten, das war eine Marke für sich.

Der Trucker zog eine Grimasse. »Red nicht schlecht von meinem Hund!« Joe kniete sich neben Blau nieder und streichelte ihm den Nacken. »Mein Kleiner hatte ’ne schwere Kindheit. Ich hab ihn auf ’ner Müllkippe in ’nem Ölfass gefunden. Irgendein Schwein hat ihn da ausgesetzt. Blau war fast verdurstet. Trotzdem hat er versucht mir eine Hand abzubeißen, als ich ihn aus dem Fass geholt habe. Er war halt schon immer ein Hund mit Charakter!« Er gab dem Hund einen Knuff und Blau stieß ein zufriedenes Grunzen aus. »Ich hab ihn mitgenommen und hier in der Lagerhalle langsam wieder hochgepäppelt. Er hat in einem Körbchen mit Lumpen neben meiner Werkbank gelegen. Alle paar Stunden hab ich ihn mit kleinen Gulaschstückchen gefüttert. Leider hab ich erst nach zwei Wochen gemerkt, dass unter meiner Werkbank ein offener Farbtopf stand. Seitdem vermittelt der Geruch von Farbe meinem Kleinen das Gefühl, dass er geborgen ist. Wenn er an einem Farbtopf schnüffeln kann, wird er zahm wie ein Lämmchen. Und weil in dem Topf blaue Farbe war, habe ich mein kleines Beißerchen Blau genannt.«

Joe wirkte wie eine Mutter, die stolz erzählte, wie ihr Baby den ersten Zahn bekam. Der Erlkönig beschloss zu Blau freundlich zu sein. »Eine ungewöhnliche Geschichte. Aber Blau ist sicher auch ein ungewöhnlicher Hund.«

Der Trucker lächelte glücklich. Irgendwie sahen er und sein Hund sich in diesem Augenblick verdammt ähnlich. »Das kannst du wohl sagen! Blau ist der beste Wachhund, den ich je hatte. Du bist der Erste, der den Hof betreten durfte, ohne dabei von mir begleitet zu werden. Normalerweise ist Blau sehr misstrauisch gegenüber Fremden!«

»Betrachten wir das als ein gutes Omen, was unsere weitere Zusammenarbeit angeht. Doch kommen wir jetzt zur Sache! Kann ich mich auf dich verlassen?«

»He, glaubst du etwa, das Wort eines Truckers wär wie ein Furz im Wind? Wenn du gegen Mager was unternehmen willst, kannst du auf mich bauen!«

»Und du, Gabi?«

Die Friseuse legte die Rechte in pathetischer Geste auf ihre linke Brust. »Ich schwöre, mein Bestes zu geben.«

Der Erlkönig zwang sich zu einem Lächeln. Er hatte einige Zweifel, wie weit er mit seinem Team kommen würde. Auf der anderen Seite brauchte er für seine nächsten Aktionen Unterstützung. Wenn die beiden Mist bauten, konnte er sich ja immer noch von ihnen trennen.

»Wie du schon sagtest, sollten wir nicht davon ausgehen, dass der Energieminister sich an das Ultimatum halten wird, das ich ihm gestellt habe. Deshalb werde ich das auch nicht tun. Wir werden schon morgen erneut zuschlagen! Ich habe mir Folgendes gedacht …«