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»Also, ich finde seine Assistentinnen bemerkenswert hübsch.«
»Das sagst du schon zum dritten Mal«, erwiderte der Erlkönig und gähnte. Bisher war der größte Illusionist des Universums nur eine große Enttäuschung. Von wirklicher Magie konnte nicht die Rede sein!
»Ich sage dir, hübsche Assistentinnen sind das halbe Geschäft.« Der Graf seufzte schwärmerisch. »Wenn ich an meine Lorenza denke …«
Der Erlkönig musterte seinen Gefährten misstrauisch. Entweder war Cagliostro ein noch größerer Dummkopf, als er bislang angenommen hatte, oder aber der Graf hatte einen Weg gefunden, seine wahren Gedanken zu verbergen. Seit dem Frühstück beschäftigten nur noch Banalitäten und sentimentale Erinnerungen den Verstand des Grafen. Jedenfalls den Teil des Hirns, den der Elbenfürst einsehen und manipulieren konnte.
»Wir sollten hier verschwinden. Diesem Stümper noch länger zuzuschauen ist Zeitverschwendung!«
»Also, ich finde ihn amüsant. Außerdem steht in diesem Heftchen hier, dass gleich seine größte Nummer kommt. Er lässt sich selbst verschwinden! Schau mal, jetzt verlässt er die Bühne und …«
»Ruhe da vorne, verdammt!«, zischte ein Bass hinter ihnen.
Der Erlkönig drehte sich um. Er war sich sicher, dass es der Dicke zwei Reihen hinter ihm war, der geflucht hatte. Sie waren zwar unsichtbar, das hieß aber nicht, dass man sie nicht hören konnte. Und Unsichtbare konnte man auch beleidigen, dachte der Fürst wütend. Ihm reichte es! Dieser Abend war vergeudet. Er hätte bei den Lexika bleiben sollen!
»Tolles Theater, diese Kölnarena. Ich wünschte, ich hätte einmal auf so einer Bühne gestanden. Sieh dir nur an, wie viele Leute gekommen sind, um sich Philip Pirrip anzusehen. Das erinnert mich an den Tag, als ich Boulogne verlassen musste. Habe ich dir je davon erzählt? Tausende sind am Strand zusammengelaufen, um mich und Lorenza zu verabschieden. Das war einer der größten Tage meines Lebens und … Also so was! Hast du das gesehen?«
»Was?« Der Erlkönig redete sich ein, es sei das Beste, die ganze Sache als eine Studie menschlichen Verhaltens zu betrachten und die Vorstellung bis zum Ende durchzustehen. Als überlegenem Geist sollte es ihm gelingen, sich in Geduld zu üben.
»Der Kerl hat die dunkelhaarige Assistentin ein dämliches Flittchen genannt, nur weil sie einen kleinen Fehler gemacht hat. In dieser Zeit hat man wohl keine Ahnung mehr, wie man sich als Ehrenmann verhält!«
»Ruhe da vorne!«, polterte die Bassstimme hinter ihnen erneut.
»Wie kommst du darauf, dass er die Dunkelhaarige angeschnauzt hat? Er lächelt doch.«
»Du hast keine Ahnung von Bühnenauftritten, nicht wahr, mein Fürst? Ich hab diesen Pirrip genau beobachtet. Er trägt ein Ding, das seine Stimme lauter macht. Das hat er kurz abgeschaltet, als er mit der Hand über seine Brust gestrichen hat, und dann hat er die süße Dunkelhaarige beleidigt.«
»Wie willst du das wissen? Auf die Entfernung kann man doch kein Wort hören.«
Cagliostro lächelte durchtrieben. »Ich kann von den Lippen lesen. Das ist die zweite Gabe, die einen großen Magier auszeichnet.«
»Ach«, erwiderte der Elbenfürst und dachte daran, wie der Graf gegen seinen Willen Baldur hinausgeschickt hatte. »Es ist gut, einen Kameraden zu haben, der einen so offenherzig in die okkulten Künste einführt.«
»Das finde ich auch.«
In Cagliostros Stimme lag ein Unterton, der dem Erlkönig zu denken gab, doch bevor er sich darüber klar werden konnte, wie der Graf seine Antwort vielleicht gemeint haben mochte, ergoss sich eine Tüte Popcorn über einen Nachbarn zwei Sitze weiter links.
»Das tut mir aber Leid, du Quasselstrippe«, höhnte die Bassstimme.
»Wirklich amüsant, die moderne Theaterkultur«, kommentierte Cagliostro die Popcornschlacht, die neben ihnen entbrannte, bis drei Ordner in die ausufernde Debatte eingriffen.
Dem Erlkönig war es peinlich. Er begriff die Welt um ihn herum nicht. Zu viel hatte sich geändert seit seiner Zeit, aber er hoffte, dass er sie, sobald er die letzte Seite des Konversationslexikons gelesen hatte, besser verstehen würde. Im Augenblick erschien ihm alles voller Widersprüche. Selbst die Darbietung auf der Bühne. Jetzt stand dort ein Fremder und gab vor, der große Philip Pirrip zu sein. Dabei konnte doch jeder, der nur halbwegs einen Blick für die Aura eines Menschen hatte, sehen, dass es sich um einen Schwindel handelte! Aber vielleicht gehörte es ja zum Ritual solcher Zaubershows, dass man über das Offensichtliche einfach hinwegsah?
Auf der Bühne verschwand der vermeintliche Magier in einer Wolke von Nebel.
»So ein Betrüger«, murmelte nun auch Cagliostro. »Den Trick habe ich vor zweihundert Jahren schon gesehen.« Der Graf deutete auf einen großen Kasten, der zwischen den Zuschauerrängen stand. »Er ist schon dort. Es muss einen Tunnel oder so etwas geben.«
Dramatischer Trommelwirbel hallte durch die Kölnarena, in der es ansonsten mucksmäuschenstill war.
Der Erlkönig lehnte sich in seinem Sitz zurück und dachte daran, dass die Show nach diesem großen Auftritt vermutlich bald vorbei sein würde. Er sollte versuchen sich zu entspannen und das Verhalten der Menschen zu studieren. Wenn er jemals wieder Einfluss auf sie haben wollte, dann musste er wissen, was sie bewegte, und vor allem, was sie beunruhigte.
»Eine Schande für die ganze Innung«, brummte der Graf.
Mit einem Knall öffnete sich der Kasten zwischen den Zuschauerrängen. Dichter Nebel quoll hervor. Der Trommelwirbel verstummte. Es herrschte atemlose Spannung. Scheinwerfer schnitten helle Bahnen in die Dunkelheit und alle Lichtstraßen kreuzten sich inmitten des Nebels, der langsam verflog. Und dann sah man es … Oder genauer gesagt, man sah nichts. Trommelwirbel hallte aus den Lautsprechern und wurde abrupt unterbrochen, als auch die Tontechniker bemerkten, dass irgendetwas schief gelaufen war.
Wieder war es für einige Augenblicke still, dann erklang eine blecherne Stimme. »Meine Damen und Herren, wir bitten um Entschuldigung. Offenbar ist es bei der Durchführung des Zauberkunststücks zu einer Panne gekommen. Bitte bleiben Sie auf Ihren Sitzen und gedulden Sie sich noch einen Moment.«
Leises Rauschen tönte aus den Lautsprechern und dann die schrille Stimme einer Frau: »Nein, er ist wirklich fort! Wir haben schon überall nachgesehen.« Offenbar hatte jemand versehentlich das Mikro einer der Assistentinnen eingeschaltet.
Die zwei Sätze beendeten die angespannte Stille. Jemand begann hysterisch zu lachen und dann dauerte es kaum einen Herzschlag, bis sich die Kölnarena in einen tobenden Hexenkessel verwandelte.
Der Erlkönig sah zu Cagliostro. »Du?«
Cagliostro lächelte unschuldig und statt zu antworten erklang eine Stimme im Inneren des Elbenfürsten. »Im Grunde hast du mir gezeigt, wie es geht. Man fokussiert seine Gedanken, konzentriert sich allein auf eine Idee und nutzt die Macht, die im Überfluss vorhanden ist …«
»Und wo ist der Kerl jetzt?«
Als eine Gruppe panischer Zuschauer gleich einer durchgehenden Rinderherde durch ihre Sitzreihe pflügte, begann der Graf zur hohen Decke zu schweben.
Der Erlkönig beeilte sich ihm zu folgen. »Wo steckt Pirrip?«
Cagliostro zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Ich habe ihn mir nur fortgewünscht. Daran, wo er landen könnte, habe ich keinen Gedanken verschwendet. Muss denn jemand, der irgendwo verschwindet, zwangsläufig an einer anderen Stelle wieder auftauchen?«
*
Wallerich hatte schon das dritte Mal geklopft, bevor aus Nöhrgels Kammer ein gereiztes Herein! erklang. Der Älteste hatte sich ein Mikroskop bringen lassen und stand auf einem Stapel von Büchern, um durch eines der beiden Okulare blicken zu können. Neben ihm lag auf einem Schreibpult eine alte Handschrift mit merkwürdigen Illustrationen. Nöhrgel blickte nur kurz über die Schulter, um sich zu vergewissern, wer die Kammer betreten hatte. Dann wandte er sich wieder dem Mikroskop zu. »Könntest du dich so stellen, dass du auf keines der Bücher tropfst?«
»Danke für die Anteilnahme.« Wallerich schnallte sich die Pilotenkappe ab, warf sie auf den Lieblingssessel des Alten, wickelte den roten Schal ab und wrang ihn aus.
»Regnet es?«, fragte Nöhrgel ohne noch einmal vom Mikroskop aufzublicken.
»Schnapper hielt es für eine klasse Idee, auf dem Rückflug einen kleinen Imbiss zu nehmen. Leider hat er sich nicht die Zeit genommen, mich absteigen zu lassen, bevor er sich kopfüber in einen Fischteich stürzte. Ich wäre beinahe ertrunken!«
»Freut mich, dass du einen abwechslungsreichen Nachmittag hattest.« Nöhrgel schaffte es bei der Bemerkung nicht einmal, ironisch zu klingen. »Wenn du mir jetzt freundlicherweise berichten könntest, was du entdeckt hast …«
Ich habe entdeckt, dass man Schwimmen wieder verlernen kann, dachte der Heinzelmann gereizt, behielt es aber für sich. »In der Region um Bleialf gab es keine Hinweise auf eine Anomalie. Es wurde kein Vieh geraubt, es waren keine verwirrten Bauern aufzustöbern und es gab auch keine panisch flüchtenden Touristen. Erwähnenswert ist höchstens eine Gruppe von Ausgeflippten, die wohl so etwas wie ein Kostümfest veranstaltet hat.«
»Kostümfest?« Der Alte richtete sich auf und hüpfte von dem Bücherstapel herunter. Sein sonst so gepflegter Bart sah zerzaust aus, das Haar hing ihm in Strähnen in die Stirn und auf seinem weißen Hemd waren Espressoflecken. So mitgenommen hatte Wallerich den Ältesten schon lange nicht mehr gesehen. »Was war da los? Haben sich diese Verkleideten in irgendeiner Form auffällig verhalten?«
»Na ja, ein paar haben sich mit Schwertern geschlagen, andere hockten an Lagerfeuern, haben Fleischbrocken verbrannt und sich betrunken. Angezogen waren sie wie Barbaren. Ach ja, die Männer trugen Schottenröcke … War schon eine merkwürdige Truppe.« Dass er seinen Rivalen Till gesehen und Schnapper dazu überredet hatte, dem Studenten auf den Kopf zu scheißen, verschwieg er.
»Sie haben sich als Barbaren verkleidet …« Nöhrgel hatte eine Tasse Espresso hinter einem Bücherstapel gefunden und begann nachdenklich darin zu rühren. »Könnten sie letzte Nacht ein Ritual abgehalten haben? Glaubst du, sie wären dazu fähig, ein Tor zu öffnen?«
Wallerich war ehrlich verblüfft. »Es waren Menschen. Die haben keine Ahnung von Magie.«
»Dann sieh dir das einmal an.« Der Älteste winkte ihn zum Mikroskop. »Du siehst hier einen Längsschnitt durch einen dentus caninus, oder verständlicher, einen Eckzahn.«
Der jüngere Heinzelmann erklomm den Bücherstapel und warf einen flüchtigen Blick durch das Okular. »Ein Raubtierzahn?«
»Es ist weder ein Raubtierzahn noch ein Menschenzahn. Es ist … ein Zwitter. Für einen menschlichen Eckzahn ist er ungewöhnlich lang. Es gibt solche Fälle, aber diese Zähne sind niemals nach hinten gekrümmt. Für einen Wolfszahn, und dem sieht er noch am ähnlichsten, ist er zu dick. Wenn du jetzt das zweite Präparat unter die Linse schieben könntest …«
Als Nächstes sah Wallerich ein Präparat, das offenbar aus Muskelgewebe gewonnen war.
»Fällt dir was auf?«
»Äh … Ich bin kein Biologe. Ich sehe nur einen Haufen Zellen.«
»Sieh dir die Membranen an! Siehst du, wie faltig sie sind? Ihre Oberfläche sollte glatt, wie unter Spannung sein. Diese Zellen können sich dehnen!«
»Ja, und?«
Nöhrgels Augenbrauen zogen sich zu einem breiten Strich zusammen. »Komm da runter. Du tropfst ja immer noch und weichst die Bücher auf! Diese Zelle hat sich zusammengezogen. So etwas ist in der Natur normalerweise nicht vorgesehen, es sei denn …« Er machte eine Kunstpause und schien darauf zu warten, dass bei Wallerich der Groschen fiel. Als dieser jedoch keine Anstalten machte zu antworten, fuhr er gereizt fort: »Diese Zellen gehören zu einem Körper, der dazu geschaffen ist, sich in kurzer Zeit sehr stark zu verändern. Man könnte fast sagen, er quillt auf, aber es ist noch mehr …« Eine weitere Pause gepaart mit erwartungsvollen Blicken folgte.
»Und was bedeutet das?«
»Ein Werwolf! Dieser Zahn stammt von einem Werwolf, der sich heute Abend alle Mühe gegeben hat, Birgel die Kehle herauszureißen!«
»Du meinst …« Wallerich wartete auf eine Geste, die das Gesagte als einen makabren Scherz entlarvte, doch der Älteste blieb ernst. »Das kann doch nicht … Wie geht es ihm?«
»Abgesehen davon, dass er unmittelbar nach dem Zwischenfall darauf bestanden hat, siebzehn Stücke Zwiebelkuchen zu essen, gut. Er hat nur ein paar Schrammen abbekommen.«
»Und der Zahn hier?«
»Den hat sich der Mistkerl ausgebissen.«
»Du meinst, ein Werwolf hat Birgel angegriffen, hat sich einen Zahn ausgebissen, aber Birgel geht es gut?«
»Abgesehen von dem Zwiebelkuchen … Der Kerl hat Birgel nicht erwischt, sondern die Titankette des Aktenkoffers, den er trug. Daran hat er sich die Zähne ausgebissen.«
»Titankette? Aktenkoffer? Ich glaub, ich verstehe wirklich nicht …«
»Ich fange am besten von vorne an.« Nöhrgel fasste kurz die Ereignisse des Abends zusammen.
Wallerich schüttelte ungläubig den Kopf. »Ein Werwolf, mitten in Köln. Warum war der Koffer eigentlich mit einer Kette an Birgels Handgelenk befestigt?«
Der Älteste strich sich über den Bart, wollte zum Reden ansetzen und sah dann doch nur zur Decke hinauf, so als habe er plötzlich etwas ungemein Interessantes zwischen den Spinnweben dort oben entdeckt.
»Was war mit dem Koffer?«
Nöhrgel hüstelte verlegen. »Also, im Grunde war der Koffer doch gut gesichert. Du weißt, dass wir seit mehr als hundert Jahren keinen Werwolf mehr in Köln hatten.«
»Vor allen Dingen keinen so dämlichen! Wäre er intelligenter gewesen, hätte er vermutlich Birgels Handgelenk durchgebissen und seine Zähne behalten. Was zum Henker war also in dem Koffer, was so wichtig war?«
»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es um den Koffer ging. Weißt du, die Kette hat sich wohl zwischen den Zähnen von diesem räudigen Mistkerl verfangen. Er hat sogar versucht den Koffer wieder loszuwerden. Ich begreife auch nicht ganz, warum … Birgel muss irgendetwas getan haben, das den Werwolf gereizt hat.«
»Und der Koffer?«
»Tja, der Koffer …« Der Alte zog eine gequälte Grimasse. »Ich glaube, das war der größte Fehler meines Lebens, vielleicht abgesehen von der vorübergehenden Ehe mit Mozzabella. Aber wie sollte ich damit rechnen, dass auf dem Albertus-Magnus-Platz ein streunender Werwolf sein Unwesen treibt? Im Grunde waren die Sicherheitsvorkehrungen völlig überzogen … Die Kette und so … Es hat doch schon seit Ewigkeiten keinen Zwischenfall mehr gegeben und …«
Etwas an Nöhrgels Stimme klang falsch. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Wallerich das Gefühl, dem Ältesten nicht trauen zu können. »Was war in dem Koffer?«
Nöhrgel schien durch ihn hindurchzublicken. »Ein Werwolf auf dem Albertus-Magnus-Platz. Er muss letzte Nacht aus Nebenan geflohen sein. Diese Verkleideten in Bleialf … Hast du irgendwelche Spuren?«
»Die Autonummern. Die meisten von ihnen sind hier aus Köln. Aber wie sollte der Werwolf in nur einer Nacht von der Schneeeifel hierher gelangen? Meine Erfahrungen mit Werwölfen sind eher theoretischer Natur, aber fliegen können sie doch wohl nicht.«
»Gib mir die Liste«, knurrte Nöhrgel, der sich ein wenig gefasst hatte. »Ein Strohhalm ist besser als nichts. Ich werde mich in einen Polizeirechner hacken und einen Personencheck durchführen. Und was den Werwolf angeht … Vielleicht hat er sich als blinder Passagier in einen Wagen geschlichen, der schon gestern Nacht oder heute Morgen abgefahren ist. Übrigens, du solltest dich abtrocknen, Wallerich. Wir können uns nicht leisten, dass du dir eine Grippe holst. Ich habe morgen ein paar Aufgaben für dich.«
Der Heinzelmann hatte verstanden. Nöhrgels dezente Art, einem klar zu machen, dass man überflüssig wurde, war ebenso eindeutig wie unverwechselbar. Offensichtlich lief der Älteste wieder zu seiner gewohnten Form auf.
*
Der Termin kam Doktor Armin Salvatorius nicht gerade gelegen. Er hatte keine seiner Praxishelferinnen mehr erreichen können und eigentlich hatte er erwogen, sich noch ein bisschen nach hübschen Gestrandeten der Nacht umzusehen. Aber Patienten wie Marianas Eltern verdankte er seine Villa, seine Jacht und den Luxus, Autos zu wechseln wie andere Leute Anzüge. Zufrieden musterte er sich in dem großen Spiegel neben der Eingangstür. Dunkelhaarig, braun gebrannt und mit sinnlichen, grünen Augen sah er aus wie Omar Sharif zu seinen besten Zeiten. Gut, er war vielleicht ein bisschen kleiner, aber bei seiner Ausstrahlung fiel das nicht weiter ins Gewicht!
Der Doktor nahm einen seiner Mailänder Designerarztkittel aus dem Praxisspind, musterte kurz seine manikürten Fingernägel und stieß einen gedehnten Seufzer aus. Es war schon ein Kreuz, der angesagteste Zahnarzt der oberen Zehntausend zu sein. In seiner Patientendatei zu stehen war fast so gut wie ein Eintrag im Adelsregister.
Es klingelte und er musste einen Augenblick lang das Durcheinander von Knöpfen auf dem marmornen Empfangstisch studieren, bis er endlich den Türöffner fand. Er sollte den Schichtdienst seiner Assistentinnen besser organisieren. Dass er selbst die Tür öffnen musste, war schon lange nicht mehr vorgekommen. Was für ein Notfall das wohl sein mochte? Mariana hatte am Telefon so aufgeregt geklungen, dass er nicht ganz aus ihr schlau geworden war. Aber sie hatte darauf bestanden, unbedingt noch in dieser Nacht behandelt zu werden.
Selbstzufrieden ließ Doktor Salvatorius den Blick durch den marmorverkleideten Empfangsraum schweifen. Das hier war das Ergebnis von fünfzehn Jahren harter Arbeit. Es war weit mehr als nur eine Praxis. Dies war der hohe Tempel der Zahnmedizin!
Die Eingangstür schwang auf. Er hatte Mariana schon länger nicht mehr gesehen. Sie war älter geworden und einmal abgesehen davon, dass sie ein wenig zerzaust wirkte, sah sie gar nicht mal schlecht aus. Aber sie ist eine Patientin, rief er sich ins Gedächtnis. Nicht dass er großen Wert auf den Eid des Hippokrates legte, aber er hatte schon bittere Erfahrungen bei Affären mit Patientinnen gemacht. Wenn man ihrer überdrüssig war, konnte man sie nicht einfach so abservieren. Es gab böses Blut, endlosen Klatsch … Das konnte er sich nicht leisten.
»Nun, meine Liebe, wo drückt denn der Schuh?«
»Also, das ist so … Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll …«
»Mein Freund hat einige üble Zahnfrakturen, aber die sind nicht das eigentliche Problem«, erklärte eine Männerstimme.
Doktor Salvatorius blickte irritiert zur Tür. Mariana war allein!
»Ich bin hier, direkt hinter Mariana. Aber suchen Sie mich nicht, Doktor. Sie sind noch nicht in der richtigen Verfassung, um mich sehen zu können. Ein hübsches Haus haben Sie übrigens.«
Der Zahnarzt stand auf und ging zur Tür. Was zum Teufel bedeutete das? Ob draußen noch jemand wartete? Er spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte!
»Immer mit der Ruhe«, erklang wieder die Männerstimme aus dem Nichts. »Ich verspreche Ihnen, Sie werden heute ein Erlebnis haben, das Ihr Bewusstsein erweitern und Sie die Welt mit anderen Augen sehen lassen wird.«
»Mariana? Was …« Er sah sich wieder hektisch um. »Du hast ein Band dabei oder einen Lautsprecher. Die Stimme, das bist doch …« Jemand kniff Salvatorius in den Arm.
»Sie steht fast drei Meter von Ihnen weg. Das kann sie wohl nicht gewesen sein. Ich werde Ihnen jetzt helfen. Wir haben alles Nötige mitgebracht.«
Wie aus dem Nichts erschien ein Glas auf dem Empfangstisch und füllte sich mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
»Bester schottischer Whisky. Ich hoffe, das trifft Ihren Geschmack, Doktor.«
Salvatorius blickte Hilfe suchend zu Mariana. »Ich trinke nie!«
»Sehr gut«, lobte die Männerstimme, »das wird die Sache vereinfachen.«
»Mariana … Ich weiß nicht, was du hier treibst, aber der Spaß ist zu Ende. Ich bin sicher, wer auch immer dir hier hilft, sitzt irgendwo und lacht sich halb tot, aber jetzt ist es genug, ich …«
Das Mädchen sah ihn flehend an. »Trinken Sie, Doktor. Das ist kein Spaß. Die meinen es wirklich ernst.«
»Sie hat Recht, Doktor. Wollen Sie uns sehen? Dann trinken Sie.«
»Raus mit euch!« Salvatorius stürmte vor und griff nach Marianas Arm. »Los. Es ist mir ganz gleich, wie reich deine Eltern sind. Ich lass mich doch nicht von so einem verzogenen Gör verscheißern und …«
Etwas packte den Zahnarzt bei den Schultern und zog ihn zurück. Neben seinem Knie knurrte es bedrohlich, als sei auch noch ein großer Hund in der Praxis.
»Wir mögen es nicht, wenn man so grob zu unserer Wohltäterin ist«, hauchte die Männerstimme so nah an seinem Gesicht, dass Salvatorius warmen Atem auf der Wange spürte. »Jetzt trinken Sie, denn wenn ich böse werde, werde ich wiederkommen. Stellen Sie sich einmal vor, wie es ist, wenn Sie plötzlich jemand schubst, während Sie mit Ihren Skalpellen arbeiten. Ich kenne Männer wie Sie, Doktor. Sie leben von Ihrem guten Ruf, und glauben Sie mir, ich weiß, wie man einen guten Ruf ruiniert.«
Salvatorius schielte zu dem Telefon, das auf dem Empfangstisch stand. Die Polizei! 110! Wenn er …
»Lassen Sie die Gendarmen aus dem Spiel. Was wollen Sie ihnen sagen? Unsichtbare Stimmen bedrohen mich … Was, glauben Sie, wird passieren, wenn sich herumspricht, dass Sie Stimmen hören, Doktor?«
Der Arzt stützte sich schwer auf den Tisch. Er hatte nicht einmal etwas gesagt. Der Kerl wusste, was er dachte! Das konnte es doch nicht geben!
»Oh doch, das gibt es«, höhnte die Stimme.
Salvatorius griff nach dem Glas. Der Whisky schmeckte bitter und breitete sich mit brennender Wärme in seinem Magen aus. Er trank das Glas in einem Zug leer. Kaum hatte er es auf den Tisch gestellt, füllte es sich erneut.
»Mit zwei Gläsern sind wir auf der sicheren Seite, Doktor. Dann müssen Sie nur noch einen Moment Geduld haben. Ich denke, der Whisky wird schnell seine Wirkung tun. Wissen Sie übrigens, dass wir gewissermaßen den gleichen Beruf haben? Ich habe mich auch verschiedentlich als Zahnausreißer betätigt. Allerdings hatte ich nicht solch schöne Räumlichkeiten zur Verfügung. Später allerdings … Aber lassen wir das. Was langweile ich Sie mit meinem Leben.«
»Ich bin kein … Zahnausreißer.« Salvatorius spürte seine Zunge schwerer werden. Er hatte Schwierigkeiten, die Wörter deutlich zu formulieren. »Sich von mir behandeln zu lassen, wenn ich betrunken bin … Ich glaube nicht, dass Sie sich damit einen Gefallen tun.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Doktor. Mein Freund ist hart im Nehmen. Sie sollten lieber … Aber Baldur, so etwas tut man doch nicht!«
Salvatorius sah, wie sich neben dem Tisch eine gelblich schillernde Pfütze auf dem Boden bildete. Mariana kicherte hysterisch. »Ist das …«
»Ich versichere Ihnen, es tut mir aufrichtig Leid«, beteuerte der Unsichtbare. »Das ist sonst nicht seine Art. Glauben Sie mir, er ist gut erzogen. Das ist mir jetzt wirklich peinlich …«
Der Doktor sah verschwommen einen Mann mit einer gepuderten Perücke und einem Dreispitz neben sich stehen.
»Gestatten, der Graf von Cagliostro, und dies hier ist Baldur, mein Leibdiener.«
Salvatorius starrte auf den großen, struppigen Wolfshund hinter dem Grafen. Dem Tier hing ein Koffer an einer Kette aus dem Maul.
»Wie Sie sehen«, erklärte Cagliostro, »braucht mein Freund dringend Ihre Hilfe.«
Der Arzt sah zu dem Grafen, dann zu dem Hund und wieder zu dem Grafen. Salvatorius hatte das Gefühl, dass sein Verstand ihm entglitt. »Ich … äh … ich bin aber kein Tierarzt.«
»Natürlich nicht.« Der Graf lächelte breit. »Baldur, würdest du bitte …«
»Darf ich gehen?«, fiel ihm Mariana ins Wort. »Gibt es hier ein Klo? Ich möchte mir das wirklich nicht noch einmal ansehen. Das ist ja der reinste Horrortrip!«
»Horrortrip …«, wiederholte Salvatorius schwerfällig lallend, während sich der Schlüssel im Schloss der Patiententoilette drehte. Er sah zum Grafen und seinem Wolf – und begriff. Die Kreatur wand sich zuckend auf dem Rücken. Das dichte Haar des Wolfs verschwand. Die Glieder streckten sich. Knochen und Gelenke knackten. Zuletzt kauerte ein blonder Mann, der ein wenig verwirrt aussah, auf dem Boden. Auch ihm hing ein Koffer an einer Kette aus dem Mund.
Cagliostro hatte nachgeschenkt und reichte Salvatorius das bis zum Rand gefüllte Glas. »Unser Problem ist die Kette. Es scheint sich um ein äußerst widerstandskräftiges Metall zu handeln. Vermutlich irgendeine besondere Zwergenlegierung. Aber das soll nicht Ihre Sorge sein, Doktor. Entfernen Sie bitte die Kette.«
»Was ist das …?« Salvatorius konnte den Blick nicht von dem blonden, jungen Mann wenden, der sich nun schwankend erhob. »Das ist … Ist er etwa ein …?«
»Das sind doch nur Nebensächlichkeiten, lieber Doktor. Wo ist Ihr Behandlungszimmer?«
Salvatorius ließ das volle Glas stehen und geleitete die beiden in eines der angrenzenden Zimmer. Wie zufällig strich seine Hand über den Rücken des Nackten und zuckte sofort wieder zurück. Es gab ihn tatsächlich! In einem entlegenen Winkel seines Hirns, den nicht einmal Alkohol zu beeinträchtigen vermochte, begann es zu arbeiten. Er hatte Geld wie Heu und wahrscheinlich die modernste Praxis im Umkreis von hundert Kilometern. Nur eins war ihm bisher versagt geblieben: wissenschaftlicher Ruhm! Das lag natürlich daran, dass seine kleingeistigen Kollegen sich sperrten und es ihm verwehrten, über seine Entdeckungen zu publizieren. Aber das hier, das war so sensationell, das könnte keiner mehr unterdrücken. Wenn sich die Herausgeber der zahnärztlichen Fachblätter weigern sollten seinen Artikel über dieses Geschöpf abzudrucken, dann würde er ihn sogar ohne weiteres an die Tagespresse verkaufen können. Vor seinem Geiste sah er schon die Schlagzeilen der Boulevardpresse. BEGNADETER KÖLNER ZAHNARZT FERTIGTE DIE ERSTE PROTHESE FÜR EINEN WERWOLF.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich eine Kamera hole und ein paar Fotos mache?«
»Ka…mera?« Baldur wirkte unsicher und blickte zu Cagliostro.
»Das ist doch so eine Bildermaschine, nicht wahr? Der Erlkönig hat mir davon erzählt. Machen Sie ruhig Fotos, Doktor.«
Salvatorius sah im Geiste wieder die Schlagzeilen. Gespannt auf die Anatomie des Werwolfs beugte er sich vor. »Übel, ein Eckzahn ist an der Wurzel abgebrochen. Beide angrenzende Zähne sind beschädigt. Der Fremdkörper ist in mehrere Zahnzwischenräume gequetscht.« Er richtete sich wieder auf und sah zu dem Perückenträger, der offensichtlich die Entscheidungen traf. »Ich würde vorschlagen, wir versuchen es mit einer Brücke.«
»Brücke?« Cagliostro strich sich mit dem Zeigefinger nachdenklich über die Lippen.
»Issch will … nisscht …«, meldete sich Baldur panisch zu Wort. »Keine Brü…cksche … ischt doch kein Flusch …«
Der Graf trat von hinten an den Behandlungsstuhl und strich dem Werwolf beruhigend über den Kopf. »Der Doktor wird schon wissen, was er tut, mein Guter.«
»Das tut überhaupt nicht weh«, bestätigte Salvatorius und streifte sich Gummihandschuhe über. Aus einschlägigen Horrorfilmen wusste man schließlich, dass Werwölfe Lykanthropie übertrugen. Einen Moment lang überlegte er, ob er auch eine Bisssperre einsetzen sollte. Dann betrachtete er die verbogene Kette und ihm wurde klar, dass so etwas kaum helfen würde. Er musste dem Werwolf wohl vertrauen. In seinem Hinterkopf meldete sich bei diesem Gedanken eine leise, warnende Stimme. Doch Salvatorius dachte vor allem an die Schlagzeilen. Nein, keine Bisssperre, entschied er sich. Ein Arzt hatte doch keine Angst vor seinem Patienten! Er grinste. Auf einem Zahnarztstuhl waren alle gleich! Mit ruhiger Hand setzte er eine Trennscheibe auf die Turbine und beugte sich über Baldur. »Wenn Sie jetzt Ihr Mau… Ihren Mund ganz weit öffnen würden …«