13
Till hatte sich zwar keine konkreten Vorstellungen darüber gemacht, wohin die Heinzelmänner ihn und seine Freunde bringen würden, aber als sie direkt auf das Hauptgebäude der Universität zumarschierten, war er doch einigermaßen überrascht. Die Videokamera neben dem Albertus-Magnus-Sitzbild schwenkte brav zur Seite und filmte den leeren Vorplatz, als sie durch den Haupteingang marschierten. Laller winkte sie gleich dahinter eine Treppe hinunter und führte sie über einen Korridor zu einer Stahltür, hinter der eine weitere Treppe lag. Sie betraten ein wahres Labyrinth von weitläufigen Kellern. Immer weiter ging ihr schweigender Marsch, bis sie schließlich noch eine dritte enge Treppe hinabstiegen. Hier hingen merkwürdige, länglich ovale Lampen an den Wänden, die mit einem Gitterwerk aus Draht gesichert waren und gelbes Licht verbreiteten.
Am Ende der Treppe befand sich ein Gang, der von dicken, rostigen Stahlstreben gestützt wurde. Dicht an der Wand vorbei lief ein löchriges Förderband, das offensichtlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb war. In einer Seitenkammer sah man Presslufthämmer und anderes schweres Werkzeug.
»Wo sind wir hier?«, fragte Till entgeistert.
»Wonach sieht das denn aus?«, brummte Laller. »Wir sind in einem Bergwerksstollen.«
»Unter der Universität?«
»Natürlich unter der Universität. Ihr glaubt doch wohl nicht, dass wir euch ohne Vorbereitung auf das, was euch erwartet, nach Nebenan abschieben würden.«
Till sagte dazu nichts. »Aber ein Bergwerk …«
»Es gab früher an der Universität ein Institut, an dem Bergbauingenieure ausgebildet wurden. Damit die Sache nicht bloße Theorie blieb, hat man unter der Uni einen Versuchsstollen angelegt. Leider haben sie in die falsche Richtung gegraben und wären fast auf unser Hauptportal gestoßen. Unser ehemaliger Ältester, Nöhrgel, musste reichlich Intrigen spinnen, um diesen Unsinn zu beenden. Ich meine, wer hätte schon damit gerechnet, dass es euch Langen einfällt, hier mitten im rheinischen Tiefland einen Bergbautunnel anzulegen! Als schließlich das Institut geschlossen wurde, hat man auch den Stollen hier unten dichtgemacht. Heute verirrt sich fast nie jemand hierher. Wir benutzen den Stollen gerne als Ausgang, wenn wir jemanden herholen, der ein bisschen größer ist.« Laller blickte zu Rölps, der als Letzter in der Gruppe ging und die Ui Talchiu nicht aus den Augen ließ.
Sie folgten dem Bergwerksstollen vielleicht fünfzig Meter, bis sie zu einem Stapel großer Fässer gelangten. »Rölps, räum auf!«, kommandierte Laller.
Der Troll schob die Fässer und anderes Gerümpel zur Seite. Dann machte er sich an der Wand zu schaffen. Ein leises Summen erklang und ein Teil des scheinbar so massiven künstlichen Felsgesteins glitt zurück und gab den Blick auf einen mit blauem Licht ausgeleuchteten Gang frei.
»Darf ich bitten!« So wie Laller die Einladung aussprach, hörte sie sich wie ein Befehl an. Rölps versetzte Till einen sanften Stoß, der den Studenten in den Gang taumeln ließ. Schon nach wenigen Schritten weitete sich der enge Tunnel zu einer Höhle, deren Decke mindestens acht Meter hoch war. Überall wimmelten geschäftige Heinzelmänner herum. Eine Wand war ganz mit kleinen Bildschirmen bedeckt, unter denen ein Dutzend Heinzelmänner an Computertastaturen arbeitete. In einer anderen Ecke standen menschengroße Schaufensterpuppen, die mit merkwürdigen Kostümen behängt waren. Gegenüber dem Eingang, durch den sie gekommen waren, lag ein hohes, zweiflügeliges Holzportal, das mit breiten Eisenbändern beschlagen war. Sollte dies das Tor in eine andere Welt sein?, fragte sich Till. Er hatte etwas anderes erwartet. Vielleicht eine aufrecht stehende Wasserfläche, ähnlich wie bei Stargate, oder ein unheimliches, pulsierendes Licht, das es zu durchschreiten galt. Auch einen großen Spiegel mit merkwürdig verschnörkeltem Rahmen hätte er akzeptiert. Aber das hier … Dieses Holztor sah einfach zu banal aus! Aber vielleicht war auch gerade das der Trick, das Wunderbare hinter dem Banalen zu verbergen?
Ein leichter Geruch nach Bratkartoffeln hing in der Luft. Die meisten Heinzelmänner gingen völlig unbeeindruckt von der Ankunft der Ui Talchiu weiterhin ihrer Arbeit nach. Aus Richtung der Schaufensterpuppen jedoch kam ein seltsamer kleiner Kerl auf sie zugelaufen. So wie Laller trug er einen Bart aus drei Zöpfen. Sein Haupthaar war streng nach hinten gekämmt und nach Art der Mozartzöpfe mit einem Seidenbändchen umwickelt. Als er sich vor Till aufbaute, erkannte der Student, dass der kleine Kerl sogar winzige Zöpfchen aus den Haaren seiner Augenbrauen geflochten hatte. Der Heinzelmann trug einen Schottenrock, Schnabelschuhe und einen zitronengelben Blazer.
»Endlich seid ihr da«, begrüßte er Laller und die anderen aufgeregt. »Die Zeit wird langsam knapp, wenn ich den Langen meine Kreationen noch anpassen soll. Wir möchten doch nicht, dass sie Nebenan als die schlechtestgekleideten Helden auffallen. Das können wir uns ja wohl nicht leisten, wenn man bedenkt …«
»Genug, Luigi!« Laller winkte Birgel und Wallerich heran. »Ihr werdet die Langen jetzt in ihre Mission einweisen. Ich hab mit Matzi noch ein paar Dinge zu klären!«
»Jawohl, Chef!« Der dicke Heinzelmann salutierte ergeben und erntete dafür von seinem Kollegen Wallerich einen bösen Blick.
Till sah sich noch immer verwundert in der riesigen Höhle um. Etliche kleine Tunnel zweigten von hier ab, die gerade groß genug waren, um Heinzelmänner passieren zu lassen. Ständig kamen kleine Gestalten aus Seitengängen, erledigten etwas an den Computern und trugen Aktenstapel von einem Gang zum anderen. Neben den meisten Tunneln gab es Schilder mit kleinen, lateinischen Ziffern. Über einem hing sogar eine Tafel mit Leuchtbuchstaben. Till bückte sich, um die Schrift lesen zu können.
Nachtmahl ab 24 h:
Lachsfilet, gegrillte
Rosskastanien
und Bratkartoffel
»Tut mir Leid, aber zum Nachtmahl werdet ihr schon nicht mehr hier sein«, erklärte Birgel. Der Heinzelmann wirkte ein wenig verlegen. »Ich, ähm … ich muss euch nun bitten eure neuen Kleider anzuziehen, damit Luigi die letzten Verbesserungen vornehmen kann.« Er sah zu Gabriela. »Ähm … ich werde … ähm, veranlassen, dass niemand in diese Richtung schaut.«
»Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber ich muss auf das Entschiedenste protestieren. Und überhaupt, warum haben denn diese Kostüme da vorne rosa Umhänge? Das zieh ich nicht an!«, maulte Rolf.
Rölps baute sich drohend vor dem Ui Talchiu auf. Seine steinerne Stirn verzog sich knirschend in tiefe Falten. »Du umziehen, sonst kaputt!« Der Troll ballte die Fäuste.
»Ich fürchte, Laller hat unseren geschätzten Freunden eindeutige Befehle gegeben«, sagte Birgel und blickte verlegen zum Fußboden. »Normalerweise sind wir freundlicher zu Gästen.«
»Aber rosa Umhänge …« Almat schüttelte den Kopf. »Die Tuniken verstehe ich und die Bundschuhe mit den Fellbeinlingen, das ist ja alles ganz hübsch …«
»Was weißt du denn schon von Mode!«, mischte sich nun Luigi ein. »Du wirst die Ehre haben, den Wagenlenker des berühmten irischen Helden Cuchulain darzustellen. Er und sein Freund Fergus Mac Roy haben immer rosa Umhänge getragen. Nur weil du gegen diese durchaus attraktive Farbe voreingenommen bist, werde ich doch keine Heldengeschichten fälschen.«
»Das ist doch völliger Unsinn. Rosa ist keine natürliche Farbe, man hätte sie in keltischer Zeit gar nicht herstellen können«, beharrte Almat. »Ich weiß zwar nicht, was genau ihr von uns wollt, aber mit rosa Umhängen machen wir uns doch zum Gespött!«
Luigi stemmte wütend die Hände in die Hüften und richtete sich zu vollen dreißig Zentimetern auf. »Bist du jemals einem irischen Helden begegnet? Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest! Ich sag dir, ich hab vor ein paar Jahren bei einem Ausflug nach Nebenan Siegfried von Xanten getroffen, und ich kann dir versichern, er war überglücklich, als ich ihm einige rosa Seidenbänder überlassen habe, die er in die Mähne seines Schlachtrosses flechten konnte. Ihr Langen bildet euch immer ein alles besser zu wissen, dabei habt ihr in Wirklichkeit von nichts eine Ahnung! Cuchulain und seine Gefährten waren berühmt dafür, die Mode eines ganzen Zeitalters maßgeblich beeinflusst zu haben, auch wenn sie für meinen Geschmack manchmal etwas zu gewagte Farben kombinierten und sich zu sehr mit Schmuck behangen haben.«
»Vielleicht wäre es nun an der Zeit, unseren Gästen zu erklären, was Laller und der Rat überhaupt von ihnen erwarten«, schaltete sich Wallerich ein. »Wenn ihnen klar ist, dass ihr Überleben von rosa Umhängen und schlechtem Benehmen abhängen wird, werden sie sich gewiss fügen.«
»Tja, natürlich.« Birgel wischte sich mit einem weißen Taschentuch über die Stirn. »Also, ihr werdet nach Nebenan gebracht und sollt dort an einem geheimen Treffen der Dunklen teilnehmen, von dem wir Wind bekommen haben. Die übelsten Halunken, Schlägertypen und Ungeheuer aus mehreren Dutzend Kulturen werden sich in einigen Tagen treffen und wir müssen wissen, was sie ausbrüten. Ein so großes Treffen hat es noch nie zuvor gegeben. Bislang hat jeder von diesen Schurken mehr oder weniger sein eigenes Süppchen gekocht. Leider verfügen wir durch einen unglücklichen Zwischenfall über keine Spitzel mehr. Das ist der Punkt, wo wir euch ins Spiel bringen. Den irischen Leprechauns ist es gelungen, eine Gesandtschaft irischer Helden, die an diesem Treffen teilnehmen sollten, festzusetzen. Soweit ich weiß, waren dabei etliche Fass Guinness im Spiel. Ihr werdet euch als die Iren ausgeben und an deren Stelle an der Versammlung teilnehmen. Anschließend kommt ihr zurück und berichtet uns. Alles Weitere erledigen wir dann. Eure Schuld am Volk der Heinzelmänner ist damit abgetragen. Ihr werdet als Cuchulain, dessen Wagenlenker Loeg, seine Waffenmeisterin Scathach, sein bester Freund Fergus Mac Roy und als der Kriegerbarde Oisin auftreten.«
Till räusperte sich. Was die Heinzelmänner da vorschlugen, war in seinen Augen kein Plan, sondern eine komplizierte Art, Selbstmord zu begehen. »Warum sollte uns irgendjemand abnehmen, dass wir die größten Helden Irlands sind? Ich mein, seht uns doch nur an! Sieht vielleicht einer von uns wie eine muskelbepackte Kampfmaschine aus? Da könnt ihr auch gleich selbst hingehen und euch als Krieger ausgeben. Das macht keinen Unterschied!«
»In meinem Volk gibt es niemanden, der als Söldner durch Diskotheken zieht, um sich durch öffentliche Prügeleien sein Geld zu verdienen«, entgegnete Wallerich auf den Einwand. »Wir haben die ganze Angelegenheit gut durchdacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass ihr durchaus genügt. Wenn es euch beruhigt, kann ich euch ein paar Fotos der Helden zeigen, die uns die Leprechauns gemailt haben. Sie sind am Ende des Festgelages aufgenommen, und ich muss sagen, dass keiner dieser vermeintlichen Helden darauf eine gute Figur macht.« Der Heinzelmann zog ein paar Computerausdrucke unter seiner Jacke hervor und reichte sie herum. Tatsächlich sahen die Iren keineswegs wie Kraftpakete à la Conan aus. Till erinnerten sie vielmehr an eine Truppe Hooligans. Zwei von ihnen trugen wirklich rosa Umhänge.
»Wenn ihr nun so freundlich sein würdet eure Verkleidung anzulegen?« Birgel deutete zu den Kostümen an den Schaufensterpuppen.
»Was ist denn für wen gedacht?«, fragte Martin zögerlich.
»Ah, da hat wenigstens einer begriffen, dass ich nur Maßarbeiten anfertige!« Luigi strahlte vor Begeisterung, ging zu Martin hinüber, packte ihn am Hosensaum und führte ihn zu der mittleren Kleiderpuppe. »Dieses Gewand ist für dich. Siehst du die besonders schöne Brosche, die ich für deinen Umhang ausgewählt habe? Du wirst Oisin sein, der Sohn des Finn. Beachte die Säume vom Rock! Das ist alles dreifach abgenäht! Und das Tuch! Vom Feinsten, sag ich dir! Ich hatte mir erlaubt, mir eure Kleiderschränke näher anzusehen. Über eure Größen war ich also informiert. Trotzdem könnte es sein, dass ein paar Kleinigkeiten noch verändert werden müssen. Außer Gabriela tragt ihr schließlich alle nur Konfektionsware, sodass ich nur eure groben Maße hatte.« Er winkte Almat. »Für dich sind der Rock und die Tunika mit der Lederweste dort drüben. Du wirst Loeg, Cuchulains Wagenlenker, sein. Als kleine Besonderheit gibt es bei dir Handschuhe mit hübschen Bronzebeschlägen.«
»Wagenlenker?«, fragte Almat verstört.
»Natürlich. Nebenan fährt man nicht im Auto. Hohe Herren nehmen die Kutsche oder, wenn sie Krieger wie Cuchulain sind, benutzen einen Streitwagen. Auf der anderen Seite des Tors steht der echte Streitwagen Cuchulains.« Luigi lächelte verschmitzt. »Leprechauns waren schon immer ganz passable Pferdediebe. Eine Tradition, die sie bis in die Neuzeit fortgeführt haben. Wusstest du, dass die Hälfte der Autoradios, die in Dublin verschwinden, von jungen Leprechauns geklaut werden?«
»Nein.« Almat schluckte. »Ich soll diesen Streitwagen fahren? Das ist doch nicht euer Ernst, oder?«
»Kannst du Auto fahren?«, fragte Wallerich ruhig.
Almat nickte.
»Dann wirst du auch mit einem Streitwagen klarkommen. Ich glaube, so groß ist der Unterschied nicht. Übrigens, es könnte helfen, wenn du dir die Namen der Pferde merkst. Der Graue heißt Macha und der Schwarze Sainglu. Ich glaub, die beiden hören besser, wenn du sie mit ihrem Namen anredest. Und was diese Geschichten angeht, dass irische Wagenlenker ihre Hengste mit dem Fleisch erschlagener Feinde gefüttert haben, das ist wahrscheinlich nur ’ne Kneipengeschichte. Besoffene Kutscher und Wagenlenker erzählen ein Garn, das glaubt man kaum.«
Almat wirkte nicht gerade erleichtert. Während er und Martin die irische Gewandung anlegten, ging Luigi zu Rolf. »Dir haben wir die Rolle des Cuchulain zugedacht. Laller hat erzählt, dass du mit zwei Schwertern zu kämpfen vermagst. Außerdem passen deine langen, blonden Haare ganz gut zu der Rolle. Ich habe auch einen falschen Schnurrbart für dich vorbereitet. Und ein prächtiger Dolch gehört noch zu dem Kostüm. Wir haben ihn extra für dich aus einem Museum stehlen lassen. Pass also gut auf das Ding auf. Wir würden es gerne zurückgeben, wenn ihr eure Mission erledigt habt. Übrigens, hast du das Wehrgehänge gesehen? Du glaubst nicht, was für eine Arbeit das war. Du kannst beide Schwerter und den Dolch daran tragen. Ach ja, ehe ich es vergesse, drüben in der Nische haben wir noch eine kleine Auswahl von Schilden und Speeren bereitgestellt. Sucht euch aus, was euch davon am ehesten zusagt.«
Luigi wandte sich an Till. »Du wirst Fergus Mac Roy darstellen, den treuen Freund …«
»Ich kenn mich in irischer Mythologie nicht so gut aus, aber hat Cuchulain Fergus nicht umgebracht?«, fragte Rolf.
»Das heißt ja nicht, dass ihr das nachstellen müsst!«, mischte sich Wallerich ein.
»Und die rosa Umhänge«, fragte Till zögerlich.
»Ich sagte doch, dass die beiden die dicksten Freunde waren. Sie waren Krieger und oft für lange Zeit nur mit Männern zusammen. Muss ich dazu noch mehr sagen? Sagt bloß, ihr habt da Vorurteile!«
Till dachte, was Neriella wohl davon halten würde, wenn sie ihn in diesem Aufzug sehen könnte. Wahrscheinlich würde sie lachen. Er griff nach dem leuchtenden Stein, den sie ihm überlassen hatte. Als er sie nach ihrer Strandnacht im Vorlesungssaal verlassen hatte, hatte sie etwas Seltsames gesagt. Sie war in großer Sorge um ihn und meinte, wann immer er seinen Weg verlieren sollte, solle er den Stein umklammern und an sie denken. Dann würde sie ihm helfen in seine Welt zurückzufinden.
Luigi hatte sich inzwischen an Gabriela gewandt. »Was dich angeht, du wirst Scathach verkörpern. Eine geheimnisvolle Gestalt, eine Art Amazone, Waffenmeisterin und Seherin mit magischen Kräften. Sie hat Cuchulain unterrichtet, den gae bolga, einen besonders üblen Speer mit Widerhaken, zu benutzen. Eine solche Waffe findest du drüben bei den anderen Speeren. Für deinen Umhang habe ich ein helles Grau gewählt und einen Besatz aus Wolfsfell. Dazu kommen bronzene Armschienen, ein leichtes Kettenhemd, eine kurze, weiße Tunika und hohe gefütterte Stiefel. Als Helm …«
»Nein.«
Der Heinzelmann sah verblüfft zu Gabriela auf. »Was soll das heißen? Ich finde, das ist die hübscheste Ausrüstung von allen. Was gibt es daran auszusetzen?«
»Du sagst, du hast in meinem Kleiderschrank herumgeschnüffelt. Ist dir dabei nichts aufgefallen, du Möchtegernlagerfeld?«
Luigi wurde erst blass und dann puterrot. »Von Langen, die sich hinter viel zu großen Brillen und bunten Fächern verstecken, muss ich nichts klauen. Überhaupt solltest du lieber die Luft anhalten! Natürlich habe ich gesehen, dass du nur Schwarz trägst. Und weißt du, was ich davon halte? Das ist krank! Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen, du siehst ja aus wie eine Leiche mit Freigang vom Friedhof! Du …«
»Rölps!«, erklang die unverwechselbare Stimme Lallers. »Würdest du der Dame bitte klar machen, dass sie die Klamotten anzieht, die Luigi vorbereitet hat. Es ist an der Zeit, aufzubrechen!« Der Älteste trat aus einem der kleinen Seitengänge hervor, zog eine goldene Taschenuhr aus seiner Weste, ließ den Deckel aufspringen und runzelte die Stirn. »Es ist wirklich höchste Zeit! Man erwartet euch Nebenan bereits. Wir wollen doch keinen Ärger.«
»Ich nix schlagen Weibchen«, protestierte Rölps und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
»Du wirst diese Furie jetzt zur Räson bringen oder ich vergesse mich!«
»Nö, Chef! Ich nix dreckig machen meine Ehre wegen Geschrei. Was du nun wollen tun? Mich schlagen?« Der Troll lachte, ein Geräusch, das an den Abgang einer Gerölllawine erinnerte.
Gespannt, was geschehen würde, sah Till zu Laller hinüber. Der Heinzelmann war leichenblass geworden. Zweimal machte er den Mund auf, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich jedes Mal aber anders. Schließlich fuhr er Birgel und Wallerich an, die sich grinsend im Hintergrund gehalten hatten. »Warum seid ihr noch nicht umgezogen? Glaubt ihr etwa, ich würde es euch erlassen, nach Nebenan zu gehen? Und das, wo ihr diese Operation so miserabel vorbereitet habt!«
»Aber …«
Bevor Birgel noch ein weiteres Wort herausbringen konnte, fuhr ihn Laller barsch an. »Du hast mich zutiefst enttäuscht! Von dir hätte ich mehr erwartet! Ich sollte darüber nachdenken, dich zum Torwächter vierten Grades zurückstufen zu lassen! Warum hast du Luigi nicht darauf aufmerksam gemacht, dass dieses zickige Weibsbild nur Schwarz trägt?« Er wandte sich an Gabriela. »Und falls du glaubst, du könntest dich auf so billige Art vor der Strafexpedition nach Nebenan drücken, dann hast du dich geirrt. Ich bin kein unterbelich… ähm, kein Troll, der Hemmungen hat, eine Frau zur Rechenschaft zu ziehen. Vor den Gesetzen meines Volkes sind alle gleich! Deshalb verurteile ich dich nun dazu, mit Birgel und einem Troll als Eskorte zurück zur Villa Alesia zu gehen, um dir deine Kleider selbst auszusuchen. Du wirst schon sehen, was du davon hast!«
»Aber der Zeitplan«, wandte Wallerich ein. »Du weißt doch, was geschehen wird, wenn wir zu spät nach Nebenan kommen.«
»Den Ärger habt ihr euch selbst zuzuschreiben! Du hättest bei der Planung berücksichtigen können, dass es zu Verzögerungen kommen könnte«, entgegnete der Älteste selbstgerecht.
»Aber du hast den Plan gemacht!«
»Dann wäre es deine Pflicht gewesen, mich auf diese Lücke in meinen Überlegungen aufmerksam zu machen.« Er runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich war es von Anfang an deine Absicht, dafür zu sorgen, dass dieses Unternehmen scheitert. Vom ehemals engsten Vertrauten Nöhrgels hätte ich eigentlich nichts anderes erwarten sollen.« Er zog ein kleines, schwarzes Notizbüchlein hinter seinem Gürtel hervor und notierte etwas. »Wenn du zurück bist, wirst du dich vor dem Rat für diese Intrige verantworten müssen. Diese für unsere Sicherheit so wichtige Mission zu sabotieren, das ist Hochverrat! Glaube nicht, dass ich solches Verhalten ungeahndet lassen werde!«
»Das wäre mir im Traum nicht eingefallen«, sagte Wallerich ironisch und verneigte sich. »Wenn du gestattest, werde ich mich nun zurückziehen, um meinerseits die rechte Gewandung für die Reise nach Nebenan anzulegen.« Hoch erhobenen Hauptes verschwand der Heinzelmann in einem der Tunnel, die von der Höhle fortführten.
*
Als Gabriela mit ihren Begleitern zurückkehrte, trug sie ein Kleid, das zwar recht archaisch wirkte, nichtsdestotrotz aber auf das Vorteilhafteste ihre Figur betonte. Um ihre Schultern wallte der schwarze Umhang aus Rabenfedern.
»Die sieht ja aus wie die Morrigan!«, empörte sich Luigi. »Das kann nicht gut gehen!«
Laller zuckte mit den Schultern. »Wer hätte je die Morrigan gesehen und davon berichten können. Außerdem hat diese impertinente Person es nicht anders gewollt. Wenn sie glaubt, eine düstere Göttin spielen zu müssen, soll sie doch sehen, was sie davon hat!«
Gabriela bedachte die beiden mit einem kühlen Lächeln. »Regt euch nicht auf, ihr Hosenscheißer. Die Rolle der Morrigan habe ich schon mehr als einmal gespielt. Ich weiß, was ich tue!« Sie wandte sich an die anderen. »Seid ihr endlich bereit? Immer muss man auf euch Männer warten! Ich dachte, wir haben es eilig, nach Nebenan zu kommen?«
Till machte Gabrielas Outfit Sorgen. Auf der anderen Seite wusste er, dass es sinnlos war, eine Diskussion vom Zaun zu brechen, wenn sie sich eine Sache einmal in den Kopf gesetzt hatte. Seine Kameraden schienen ganz ähnlich zu denken. Nur allzu deutlich konnte man ihnen ansehen, dass ihnen bei Gabrielas Eskapaden nicht wohl war. Doch keiner wagte es, etwas zu sagen.
»Sie hat Recht. Lasst uns gehen!« Es war Wallerich, der die Initiative ergriff und allen voran auf das große Tor am anderen Ende der Höhle zumarschierte. Der Heinzelmann trug jetzt eine rote Zipfelmütze, eine Art gelbe Tunika, dicke Wollhosen, die von einem Gürtel mit einer protzigen Bronzeschließe gehalten wurden, und kniehohe Lederstiefel. Birgel war ganz ähnlich gekleidet, trug aber zusätzlich noch einen Rucksack, aus dem ein Stück einer großen Wurst herausragte.
Das Tor vor ihnen öffnete sich wie von Geisterhand. Ein dunkler Tunnel lag dahinter. Till blickte zurück. Alle Heinzelmännchen in der Höhle hatten mit ihren Arbeiten innegehalten und beobachteten sie nun.
Aus dem Tunnel wehte ein Duft wie Ziegendung heran. Wallerich und Birgel hatten zwei kleine Blendlaternen entzündet. Grimmig entschlossen gingen sie vor. Der Weg jenseits des Portals war leicht abschüssig. Till legte die Hand auf seinen Schwertknauf. Sein Mund war ausgetrocknet. Ein Prickeln kroch ihm den Rücken hinab.
Mit einem dumpfen Knall schloss sich das Portal hinter ihnen.
»Scheiße, kann mich mal bitte jemand aus diesem bescheuerten Traum wecken«, fluchte Rolf.
»Ich glaube, das ist nicht ganz die Art, wie Cuchulain sich ausdrücken würde«, murrte Wallerich. »Falls ihr vorhaben solltet auf diesem Weg wieder zurückzukommen, dann wäre es besser, schon mal zu üben, euch wie Helden zu benehmen.«
»Halt’s Maul!«, zischte Almat. »Helden lassen sich von Typen, die ihnen nicht einmal bis zum Knie reichen, nicht vorschreiben, was sie zu tun haben!«
»Schon besser!«, entgegnete der Heinzelmann ironisch.
»Zu streiten bringt doch nichts! Können wir uns nicht wie vernünftige Menschen friedlich unterhalten?«, fragte Martin.
»Vernünftige Menschen«, ahmte Wallerich ihn nach. »Ich glaube nicht, dass ich es erstrebenswert finde, so zu werden wie ihr oder irgendwelche anderen Menschen! Was meinst du, Birgel?«
»Ich hab Angst … Hast du gerade dieses Geräusch gehört?«
»Seid alle still!«, kommandierte Wallerich.
Ein schwerfälliges Schlurfen war zu hören. Mal schien es weit fort zu sein und dann im nächsten Augenblick wieder ganz nah.
»Was ist das?«, flüsterte Gabriela.
»Keine Ahnung.« Wallerich verkürzte den Docht in seiner Laterne, sodass kaum mehr als ein Funken Glut blieb. »Es kommt vor, dass jemand auf dem Weg zwischen den Welten verschwindet. Zugegeben, es sind meistens berüchtigte Trunkenbolde, die verloren gehen, aber manchmal …«
»Ist es denn noch weit?«, fragte Till.
»Kann man nicht sagen. Meistens genügt ein Schritt und man ist Nebenan. Aber bisweilen ist es auch ein Fußmarsch von einer ganzen Nacht.«
Der Geruch nach Ziegendung wurde immer stärker. Ab und an trat Till auf etwas Weiches, traute sich aber nicht zu fragen, was es wohl sein mochte. Die Finsternis nahm ihm jedes Zeitgefühl. Er hätte nicht sagen können, ob sie erst zehn Minuten oder schon eine Stunde unterwegs waren. Die schlurfenden Geräusche waren seit einer Weile nicht mehr zu hören.
Schweigend hing jeder seinen Gedanken nach und es mochte noch einmal eine halbe Stunde oder mehr vergangen sein, als weit vor ihnen ein winziger Lichtpunkt erschien. Birgel stieß einen Seufzer aus und holte sich eine der Würste aus seinem Rucksack, denn immer wenn er sich erleichtert fühlte, wurde er zugleich auch hungrig.
Nicht weit vor ihnen waren die Umrisse eines Tores zu erkennen, das ganz ähnlich wie jenes in der Höhle unter der Universität aussah. Dort, wo über dem Boden die beiden Torflügel zusammenstießen, gab es eine kleine Lücke, nicht größer als ein Mauseloch. Helles Licht fiel durch die Öffnung.
Als sie nur noch wenige Schritte vom Tor entfernt waren, schwang es lautlos auf. Eine Frau, so klein wie ein Heinzelmann, stand in dem großen Portal. Sie trug ein schlichtes, grünes Kleid und hatte zwei dicke, silberweiße Zöpfe. Die Hände in die Hüften gestützt, schnitt sie eine säuerliche Grimasse.
»Seit über einer Stunde stehe ich hier und warte auf euch! Du weißt, dass ich so was auf den Tod nicht ausstehen kann, Wallerich. Ich begreife auch nicht, warum Laller ausgerechnet dich Nichtsnutz und deinen verfressenen Freund für diese Mission ausgesucht hat! Jetzt steht nicht länger in dem Tor herum und haltet Maulaffen feil! Kommt endlich rein, wir haben ein köstliches, aber mittlerweile kaltes Nachtmahl für euch vorbereitet.«
Wallerich hatte seine Mütze abgenommen und drehte sie verlegen zwischen den Fingern. »Du bist zu freundlich, Mozzabella. Ich verspreche dir, es wird nicht wieder vorkommen.«
Die kleine Frau schnaubte verächtlich. »Deine Versprechen kenne ich, Wallerich. Du bist keinen Deut besser als Nöhrgel, als er noch jung war. Mich wundert es nicht, dass er ausgerechnet dich zu seinem Liebling auserkoren hat. Du hättest ihn einmal vor dreihundert Jahren erleben sollen … Aber, vergessen wir das! Die Langen, die du mitbringst, sehen ja herzallerliebst aus. Diese rosa Umhänge waren wohl Luigis Idee.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, ihr habt denen wenigstens erklärt, was sie hier erwartet. Glaubt ihr, die Dunklen werden sich bei ihrem Anblick totlachen?«
»Glaub mir, wir haben alles gut durchdacht …«
Sie schnitt ihm mit einer abrupten Handbewegung das Wort ab. »Kommt jetzt mit, wir wollen das Essen nicht mehr länger warten lassen. Es sind auch Quartiere für euch bereitet. Und zum ersten Hahnenschrei verschwindet ihr wieder. Dass ihr Ärger anziehen werdet, das kann man geradezu riechen.«
»Wer ist das?«, flüsterte Till zu Birgel.
»Mozzabella ist die Älteste unter den Heinzelfrauen. Sie ist hier die Chefin. Es heißt, sie sei vor langer Zeit einmal mit Nöhrgel liiert gewesen …«
»Heinzelfrauen?«, fragte Till ungläubig.
»He, Langer, du musst nicht glauben, weil ich weiße Haare habe, würde ich nicht mehr hören, was hinter meinem Rücken getuschelt wird.« Mozzabella drehte sich um und sah ihn spöttisch an. »Was glaubst du denn, woher das faule Heinzelmännerpack in deiner Welt kommt? Lernt man in euren Schulen denn gar nichts mehr? Und was dich angeht, Birgel, würde ich dir dringend raten, keinen alten Tratsch herumzuerzählen.«
Die Heinzelfrau führte sie in eine kleinere Höhle, in der sich etliche Ziegen drängten. Das Vieh beeilte sich der Ältesten Platz zu machen.
Gabriela hielt sich einen Zipfel ihres Umhangs vor die Nase. »Die Höhle mit einem Weltentor als Ziegenstall zu nutzen ist ja eine tolle Idee«, nuschelte sie spöttisch.
»Dich hat hier niemand nach deiner Meinung gefragt, Süße!«, erwiderte Mozzabella eisig. »Wenn ihr bei euch Platz zu verschenken habt, dann ist das eure Sache. Wir hier Nebenan sind in solchen Dingen praktisch eingestellt!«
Till griff der Tänzerin nach der Schulter und zog sie ein wenig zurück. »Lass es gut sein, Gabriela. Mit der Alten ist nicht gut Kirschen essen.«
»Wenigstens einer, der seinen Kopf nicht nur zum Zipfelmützentragen hat«, brummelte Mozzabella und trieb eine Ziege davon, die ihr im Weg stand.
Sie durchquerten noch eine weitere Höhle, die als Stall genutzt wurde, bis sie schließlich ein Portal, so groß wie ein Scheunentor, erreichten. Auch hier fiel Till wieder eine schmale Spalte am Fuß der Tür auf.
Die Älteste machte eine beiläufige Geste und wie von Geisterhand schwang das Tor auf. Eisiger Wind blies in die Höhle. Die Ziegen hinter ihnen meckerten unwillig und drängten sich enger zusammen.
Das Tor lag in eine Hügelflanke eingebettet, die sanft zu einem breiten Fluss hin abfiel. Eine kleine Stadt aus windschiefen Fachwerkhäusern lag am Hügel. Die Gebäude schienen für Menschen gemacht, jedenfalls waren sie für Heinzelfrauen zu groß. Zum Fluss hin erhob sich eine mächtige graue Mauer, die in regelmäßigen Abständen mit Türmen bewehrt war. Jenseits des Flusses lag ein Wald, der sich bis zum Horizont hin erstreckte. Schwarze Wolkenbänke zogen von dort mit dem eisigen Wind auf die Stadt zu.
»Bella!« Hinter einem der Torflügel trat eine riesenhafte Gestalt mit blutigen Händen hervor.
Tills Hand fuhr zum Schwertgriff. Der Kerl war hässlich wie die Nacht und fast so groß wie die Trolle, die sie aus der Villa Alesia geholt hatten. Abgesehen von einem schmuddeligen Fell, das er eher lässig um die Hüften geschwungen trug, war er trotz der Kälte nackt. Fingerdicke Narbenwülste liefen über seine Arme und seine Brust. Obendrein stank der Kerl, als habe er in einem Schweinetrog übernachtet.
Aus den Augenwinkeln sah Till, wie auch die übrigen Alesier die Hände auf die Waffen gelegt hatten.
Der große Kerl blinzelte nervös und machte einen Schritt zurück.
»Na, das fängt ja prima an!« Mozzabella eilte an Till vorbei und stellte sich schützend vor den riesenhaften Kerl, was in Anbetracht der Tatsache, dass er ungefähr zehnmal so groß wie sie war, einigermaßen befremdlich wirkte. »Lasst die Finger von den Schwertern! Ihr seid hier Gäste! Wallerich, bring deiner Rasselbande gefälligst bei, wie man sich benimmt!«
»Aber, meine Dame …« Till war einigermaßen verwirrt. »Dieser Kerl … das … das ist doch wohl offensichtlich ein Oger!«
Die Älteste zuckte mit den Achseln. »Gut beobachtet! Und ist das ein Grund, sich danebenzubenehmen?«
»Aber die Oger gehören doch wohl zu den Dunklen! Das sind doch Menschenfresser!«
Als wolle er Tills Befürchtungen umgehend bestätigen, leckte sich die riesenhafte Gestalt mit einer aufgedunsenen, blauschwarzen Zunge die Lippen.
Mozzabella lachte. »Klöppel? Der hat schon vor über hundert Jahren die Seiten gewechselt. Mag sein, dass er ab und an noch von Menschenhüftschinken träumt, aber da er längst keinen Zahn mehr im Maul hat, kann er nur noch Suppe löffeln. Das ist auch der Grund, warum er zu uns gekommen ist.« Die Älteste deutete zum Wald am anderen Ufer. »Dort drüben wäre er längst verhungert. Im Übrigen ist er so brav wie ein Lämmchen, wenn man ihn nicht reizt.« Sie tätschelte über seine schmutzverkrusteten Füße und tatsächlich stieß der Oger ein freundliches Knurren aus.
»Und das Blut?«, fragte Almat misstrauisch.
»Was hast du nur mit deinen Fingern gemacht, Klöppel?« Der Oger kniete neben Mozzabella nieder und hielt ihr die blutenden Hände hin.
»Pferde … beißen …«
»Verdammte Mistviecher«, fluchte die Älteste. »Du kommst jetzt mit zum Langhaus. Da werde ich mich um deine Wunden kümmern.« Sie drehte sich zu den Alesiern um und funkelte sie wütend an. »Nichts als Ärger hat man mit euch! Ich bin froh, wenn ihr morgen mit den elenden Schindmähren verschwindet, die uns die Leprechaun vorbeigebracht haben.«
»Die Pferde … der Streitwagen«, stammelte Almat.
»Genau! Kommt mit und seht euch an, was ihr uns beschert habt. Die Leprechauns haben sich sofort wieder verdrückt, nachdem sie diese Höllenklepper hier abgeliefert haben. Und sie haben gewusst, warum!«, entrüstete sich Mozzabella.
Die resolute Heinzelfrau führte sie einen gewundenen Weg zum Gipfel des Hügels hinauf. Vorbei an geduckten Häuschen mit weit überhängenden Giebeln, in denen sich heulend der Sturmwind verfing. Till spürte, wie hinter halb geschlossenen Fensterläden neugierige und furchtsame Augen jedem ihrer Schritte folgten. Ja, er fragte sich, ob sie vielleicht für die Bewohner von Nebenan das waren, was er und seine Freunde in Klöppel gesehen hatten: Ungeheuer!
Auf dem Gipfel des Hügels stand eine hohe Halle, getragen von baumdicken, hölzernen Säulen, deren Mittelstücke mit Blechen aus gehämmerter Bronze geschmückt waren. Sie zeigten Bilder, die Till in aller Bizarrheit seltsam vertraut waren. Da gab es winzige Blütenjungfern mit zerbrechlichen Flügeln wie aus hauchzartem Glas, Waldschrate, Hexen und Zauberer. Der ganze Pantheon der Märchengestalten und Sagenhelden war hier versammelt. Und immer wieder war eine Frau mit schweren Zöpfen abgebildet, die über allen thronte.
»Der Tempel der großen Mutter«, erklärte Mozzabella. »Das ist kein Ort für so herzlose Wesen wie euch! Die Ställe liegen dahinter.« Die Älteste führte sie an den hohen, mit welken Sommerblumen bekränzten Pforten vorbei zu einem Langhaus, unter dessen Giebelfirst grauer Rauch hervorquoll. Grün von Moos war das tief hinabgezogene Reetdach, dessen gekreuzte Giebelbalken mit kunstvoll geschnitzten Einhornköpfen geschmückt waren.
Auf der Rückseite des Hauses gab es ein niedriges Tor.
Dahinter hörte man das Stampfen von Hufen und unruhiges Schnauben.
»Sind sie aus den Boxen ausgebrochen?«, fragte Mozzabella.
Klöppel schüttelte den Kopf. »Nein, Herrin … Wann ich gehen, sie waren angekettet.«
Die Älteste drehte sich zu den Alesiern um. »Du da. Ja, du mit den unrasierten Backen! Deiner Lederjoppe nach zu urteilen sollst du wohl Loeg abgeben, Cuchulains Wagenlenker. Es ist jetzt deine Aufgabe, sich um die Mistviecher zu kümmern. Von meinen Leuten geht da jedenfalls keiner mehr rein, um sich beißen zu lassen.«
Almat schluckte. »Ich hab nie was mit Pferden zu tun gehabt …«
Mozzabella rümpfte die Nase. »Schöne Helden hat mir Laller da geschickt. Ich weiß wirklich nicht, was ihr hier wollt. Die Dunklen werden euch sofort durchschauen!«
»Genug jetzt, ihr Jammerlappen!« Gabriela trat vor und stieß das Tor auf. Wild entschlossen hielt sie den gae bolga, den Knochenspeer, vor, bereit allem zu trotzen, was da aus dem Stall kommen mochte. »Seid ihr Männer oder Memmen? Ich werde mich jedenfalls nicht mehr länger beleidigen lassen, nur weil ihr keine Traute habt.«
Rolf hielt sie zurück. »Wenn du gestattest, gehe ich vor. Immerhin bin ich Cuchulain, und damit trage ich dann wohl von nun an die Verantwortung für diesen Streitwagen und seine Zugpferdchen. Im Übrigen machst du mich zum Fußgänger, wenn du die Hengste abstichst.«
»Erinnert ihr euch noch, wie wir bei dem Liverollenspiel auf Burg Bilstein dem Balrog entgegengetreten sind?«, fragte Till, bemüht darum, so gelassen und heldenhaft zu klingen, als sei es auch diesmal nur ein Spiel. »Machen wir es genauso!«
Sie zogen die Schwerter und traten Seite an Seite durch das Tor. Warme Stallluft schlug ihnen entgegen. Es roch nach Stroh und Pferdeäpfeln. Es war fast völlig dunkel. Vor ihnen erklang unruhiges Schnauben. Eine Kette klirrte. Dann ging alles blitzschnell. Etwas rammte Till in die Seite und ließ ihn gegen Gabriela taumeln. Ein Rossschweif peitschte dem Alesier ins Gesicht.
Rolf fluchte und hieb mit seinen beiden Schwertern ins Leere. Martin wurde in hohem Bogen in einen Heuhaufen geschleudert. Hufe stampften. Ein schwarzer und ein grauer Schemen tanzten durch das Zwielicht. Rolf duckte sich unter einem Huftritt und brachte sich mit einer Rolle in Sicherheit. Almat war jetzt der Letzte unter den Alesiern, der noch auf den Beinen war.
»Macha, Sainglu!«, murmelte er beschwörend. »Ruhig, meine Hübschen.«
Ein schwarzer Pferdekopf schob sich aus der Finsternis. Dunkle Augen blitzten und Geifer tropfte dem Hengst aus dem Maul. Almat wich zurück, bis er mit dem Rücken an einem hölzernen Stützpfeiler stand, von dem Pferdegeschirre und ein ausgebeulter Ledersack hingen.
»Ich kann spüren, was sie denken«, flüsterte Almat. »Sie … sie sind verdammt sauer, weil die Leprechauns sie geklaut haben. Und … sie haben Hunger.« Er schluckte.
»Nimm Sack!«, erklang Klöppels Stimme vom Scheunentor. »Ist sich Futter drin.«
Der schwarze Hengst blähte die Nüstern und blies Almat seinen Atem ins Gesicht. Vorsichtig tastete der Alesier nach der Öffnung des Sacks. Statt in Hafer griff er in etwas Weiches, Zusammengeklumptes. Es schienen etliche dieser Klumpen in der Tasche zu sein. Vorsichtig holte er einen heraus und hielt ihn Sainglu hin. Auf seiner Hand lag eine gut durchgebratene Frikadelle.
»Nicht mit Hand!«, schrie Klöppel.
Almat machte eine fahrige Bewegung. Der Fleischkloß wirbelte durch die Luft. Wiehernd bäumte sich Sainglu auf und schnappte wie ein Wolfshund, dem man einen blutigen Fetzen zuwirft, die Frikadelle aus der Luft. Bei dem Geräusch, mit dem die Pferdekiefer das Fleisch zermahlten, drehte sich dem Alesier der Magen um. Wieder spürte er die Gedanken des Hengstes.
»Das Fleisch schmeckt nach Salz, Bruder. Eine salzige Hand … voller Angstschweiß, wie bei Loeg.«
Aus der Finsternis kam Macha, der Graue, heran. Er schnupperte an Almats Lederweste.
Inzwischen waren die übrigen Alesier wieder auf den Beinen. Die Schwerter in den Händen, standen sie im Halbkreis um die beiden Hengste. Der Schwarze stubste Almat mit den Nüstern. Gabriela hob das Schwert.
»Nicht!«, schrie der Alesier auf. »Sie wollen nur … spielen. Sie haben einen etwas seltsamen Sinn für Humor …«
Wie zur Antwort wieherte Macha leise.
»Er meint, dass ich ihn morgen einspannen darf, wenn dieser ungewaschene Kerl den Stall nicht mehr betritt«, erklärte Almat. »Ich glaube, sie meinen Klöppel. Sieht aus, als hätten sie Vorurteile gegen Oger. Ich glaube, sie werden mich dulden, weil ich genauso rieche wie Loeg.«
»Nach Angstschweiß?«, fragte Rolf ungläubig.
Almat zuckte mit den Schultern. »Sie sind ein bisschen eigen.« Der Alesier war sehr blass. Er griff in den Ledersack und holte weitere Fleischklößchen hervor, die er den beiden Hengsten abwechselnd zuwarf.
»Und du kannst mit ihnen reden?«
»Sie sind in meinen Gedanken … Ich weiß nicht, wie sie das machen. Sie wissen, was ich will. Ich glaube, wenn sie dazu Lust haben, werden sie tun, worum wir sie bitten.«
»Kutschpferde, die man bitten muss!«, ereiferte sich Gabriela.
Macha und Sainglu schnaubten drohend.
»Bitte … nenn sie nicht Kutschpferde.« Almat war noch eine Spur blasser geworden. »Sie mögen das nicht. Sie sind Schlachtrösser aus einem der edelsten Gestüte Irlands. Sie … sie sind adlig, meinen sie. Und im Übrigen möchten sie, dass in den nächsten Frikadellen weniger Zwiebeln sein sollen, weil es sich für adelige Schlachtrösser nicht ziemt, zu furzen.«
»Na, das wär ja noch schöner, wenn ich mir von ein paar hergelaufenen Schindmähren vorschreiben ließe, wie ich die Küche meines Hauses zu führen habe!« Mozzabella war in den Stall getreten. »Los, macht mir Platz!«, herrschte sie die beiden Hengste an. Und tatsächlich, Macha und Sainglu gehorchten und wichen in ihre Boxen zurück.
»Und ihr solltet euch von diesen verzogenen Biestern nicht so ins Bockshorn jagen lassen!«
»Aber sie können in meinen Gedanken lesen«, wandte Almat ein.
»Und was ist daran so Besonderes? Ich weiß auch, dass du dir gerade wünschst, du könntest mit deinem rostigen alten Ford in dieses Abenteuer fahren statt, wie es sich für irische Helden gehört, auf einem Streitwagen. Nun glotz mich nicht so an! Birgel! Wallerich! Ihr habt euren Grünschnäbeln noch eine Menge beizubringen. Am besten fangt ihr gleich damit an.«
»Äh, ja … Chefin.« Birgel verbeugte sich mehrfach vor der Ältesten und kam nur sehr zögerlich in den Stall. Dabei achtete er darauf, den Schlachtrössern nicht zu nahe zu treten. »Was Mozzabella meint, ist, dass viele Tiere hier Nebenan die eine oder andere magische Begabung haben. Es gibt Wölfe, die sich zur Jagd unsichtbar machen, Schlangen, die ihre Opfer hypnotisieren … und auch Pferde, die die Gedanken ihrer Reiter lesen können. Das ist vielleicht unangenehm, aber nichts Besonderes.«
»Und warum hören sie auf Mozzabella?«, fragte Rolf.
»Weil sie eine Zauberin ist …«
»Und eine Respektsperson!«, ergänzte die Älteste.
»Natürlich, Chefin!«, bekräftigte Birgel. »Und eine Respektsperson.«
»Ich dachte immer, ihr Heinzelmänner könnt gar nicht zaubern.«
»Auf uns Heinzelmänner trifft diese Annahme durchaus zu«, antwortete nun Wallerich. »Wir ziehen es vor, Probleme auf rationale Weise zu lösen. Unseren Frauen liegt da mehr der intuitive, magische Weg.«
»Das hört sich ja an, als spräche Nöhrgel«, brummte die Älteste. »Bist ihm wohl ein folgsamer Schüler gewesen. Dieser phantasielose Technokrat! Na, was erwarte ich schon von Heinzelmännern! Kommt jetzt mit«, fuhr sie versöhnlicher fort. »Es gibt eine Tür, durch die man vom Stall ins Langhaus gelangt.« Sie drehte sich zu Klöppel um. »Komm schon, so lange ich dabei bin, werden dir diese irischen Schindmähren nichts tun.« Zögerlich folgte der Oger.
Der Stall war recht groß. Dort, wo Mozzabella entlangging, schien das Zwielicht aufzuklaren, sodass man in ihrer Nähe stets gut sehen konnte. In den anderen Boxen entlang der Wände bemerkte Till weitere Pferde, aber auch Perlhühner, Fasane, Pfauen, ein Becken mit ein paar Nilkrokodilen, eine Schlange mit Hahnenkopf und noch einige andere seltsame Geschöpfe, die er sich lieber nicht allzu genau ansah.
»Ihr glaubt gar nicht, wer sich zum Winter hin alles in unsere Obhut begibt«, kommentierte die Älteste ihren Zoo. »Wir versuchen stets, allen ein Quartier zu bieten, aber manchmal … Ich kann beim besten Willen keinen verfrorenen Phönix in einem Stall mit Reetdach aufnehmen. Übrigens, dort vorne in der Nische steht der Streitwagen, der zu euren Schlachtrössern gehört.«
Der Wagen war ganz aus Holz und Bronze gefertigt. Seine Deichsel mündete in einen Drachenkopf, dessen Maul mit Eberzähnen gespickt war. Der Karren hatte nur zwei Räder und war vorne wie hinten offen gehalten. Nur die hochgewölbten Seitenwände waren mit einem polierten hölzernen Handlauf versehen. Mit diesem Ding durch schweres Gelände zu fahren wird sicher kein Spaß, dachte Till. Er erinnerte sich, in irischen Heldensagen davon gelesen zu haben, wie die Recken in der Schlacht in voller Fahrt auf der Deichsel balancierten. Almat und Rolf wären wahrscheinlich schon froh, wenn sie nicht hinten hinauspurzelten, sobald Macha und Sainglu lospreschten. Hinten, auf der kleinen Wagenplattform, die sich Krieger und Fahrer teilten, ragte eine Stange empor, von der zwei Fellstreifen hinabhingen.
»Keine Fellstreifen«, kommentierte Mozzabella ungefragt und erinnerte den Alesier daran, dass hier nicht nur Pferde Gedanken lesen konnten. »Das sind Fuchsschwänze! Diese Iren geben sich wirklich alle Mühe, wie Barbaren dazustehen. Den halb verfaulten Kopf, der oben auf der Stange steckte, habe ich schon abnehmen und beerdigen lassen.« Sie schüttelte sich. »Steckte voller Maden, das Ding. Wie kann man mit so etwas nur herumfahren!«
»Hältst du es für möglich, dass der echte Cuchulain es als üble Sachbeschädigung betrachten könnte, dass du den Kopf da oben heruntergenommen hast?«, fragte Wallerich gepresst.
»Also wenn du mich fragst, hat die üble Sachbeschädigung stattgefunden, als der Kopf von seinem angestammten Platz auf diese Stange kam.« Sie strich sich über das Kinn und nickte dann nachdenklich. »Aber du hast Recht. Cuchulain wird das vermutlich anders sehen. Es ist gewiss besser für euch, wenn ihr ihm nicht über den Weg lauft. Die Leprechauns waren ganz zuversichtlich, dass dieser Wilde und seine Freunde noch ein paar Tage brauchen werden, um ihren Rausch auszuschlafen. Trotzdem würde ich an eurer Stelle lieber nicht allzu lange hier Nebenan bleiben.«
Die Alesier tauschten beklommene Blicke, und Till versuchte vergeblich zu vergessen, was er so alles über irische Sagenhelden gelesen hatte.
Sie waren am Ende des Stalls angelangt. Auf ein Fingerschnippen Mozzabellas schwang eine eisenbeschlagene Tür auf, hinter der sich ein langer Saal erstreckte, der rötlich im Glutlicht einer großen Feuergrube erstrahlte. Die Luft im Raum war so voller Rauch, dass den Alesiern die Augen brannten, als sie eintraten. Zu beiden Seiten der Feuergrube hatte man Holzplanken auf Böcke gelegt, um Tische zu improvisieren.
Im Rauch der Halle tummelten sich die obskursten Gestalten, und nur die wenigsten machten sich die Mühe, nicht mit unverhohlener Neugier zu den Neuankömmlingen hinüberzustarren.
»Kommt, meine Kinderchen, kommt!« Mozzabella breitete gebieterisch die Arme aus. »Wie ihr seht, sind unsere Gäste endlich eingetroffen. Tragt die Tafel auf und lasst uns hoffen, dass nicht alles verkocht oder angebrannt ist. Und ihr …«, sie wandte sich zu den Alesiern, »ihr werdet selbstverständlich an meiner Seite sitzen, so wie es das Gastrecht gebietet.« Sie zwinkerte den Heinzelmännern zu. »Für einen Abend werde ich sogar euch zwei Früchtchen in meiner Nähe ertragen.«
Die Älteste führte sie zum Kopf der Tafel. Für Mozzabella hatte man einen kleinen Holzthron direkt auf die Tischplatte gestellt, sodass sie ihre Festgesellschaft ohne Mühe überblicken konnte. Die beiden Heinzelmänner saßen auf Schemeln, kaum größer als Schnapsgläschen, an ihrer Seite. Noch an zwei weiteren Stellen hatte man kleine Tafeln und Stühle auf den Tisch gestellt und eine Gesellschaft geschwätziger, kichernder Heinzelfrauen nahm dort Platz. Die Jüngeren unter ihnen blickten auffällig oft zu Wallerich und Birgel hinüber. Die meisten der Gäste aber waren annähernd menschengroß und ließen sich auf den Holzbänken entlang der Festtafel nieder. Viele sahen sogar aus wie Menschen – jedenfalls auf den ersten Blick. Till gegenüber saß eine blasse, weiße Frau mit dunklen Rändern unter den Augen. Sie wirkte leicht durchscheinend, trank mit einem Strohhalm aus einem Messingkelch und verhielt sich, abgesehen von gelegentlichen Seufzern, ganz still. Ein wenig weiter hockte eine Runde Hexen, die wohl jeder Theaterdirektor der Welt vom Fleck weg für eine Macbeth-Inszenierung engagiert hätte. Ihr schrilles Kichern ging durch Mark und Bein. Ihre runzeligen, vom Wetter gegerbten Gesichter und ihre glühenden, roten Augen waren dazu angetan, auch hartgesottenen Burschen das Schaudern beizubringen. Hätten sie auch noch ein Auge untereinander herumgereicht, hätte Till wohl keinen Bissen vom Festmahl herunterbekommen.
Angenehmer anzuschauen war da schon die barbusige Blondine, die in einer Art Badezuber an der Tafel saß, rohen Fisch verspeiste und Till gelegentlich aufmunternd zuzwinkerte.
Zum Auftakt des Festmahls liefen einige der Heinzelfrauen auf der Tischplatte herum und ließen etliche Bratenspieße und Töpfe von der Feuergrube herüberschweben. Wie von Geisterhand geführte Löffel füllten Suppe in Holzschalen, die aus dem Nichts vor den Gästen erschienen. Blütenjungfern mit Libellenflügeln schwebten über dem Tisch, bestreuten die Ehrengäste mit Blumenblättern und wisperten ihnen gelegentlich anzügliche Witze ins Ohr. Wesentlich zurückhaltender war da ein dunkelhaariger Mann, der ebenfalls zum Dienstpersonal gehörte. Er war unrasiert und hatte einen gehetzten Blick. Irgendwie kam Till sein Gesicht vertraut vor, aber wie ein Held aus einer Sage wirkte er nicht gerade. Als Mozzabella seine verstohlenen Blicke bemerkte, nickte sie dem Alesier zu. »Den haben wir vor einer Woche im Wald auf der anderen Flussseite gefunden. Er ist ein seltsamer Kerl. Stell dir vor, er behauptet, er sei der größte lebende Illusionist. Aber von uns hat ihn noch keiner wirklich zaubern sehen. Ich vermute, dass er eher in deine Welt gehört … Aber wie mag er hierher gekommen sein?«
»Durch ein Tor?«
»Nein, davon wüsste ich. Ich werd schon noch hinter seine Geschichte kommen. Wo wir gerade dabei sind … Stimmt es, dass du eine Affäre mit Neriella hast?«
Till gaffte die Älteste entgeistert an. »Hast du in meinen Gedanken gelesen?«
»Nein, nein! So etwas macht man nicht, wenn es um intime Dinge geht. Das wäre unhöflich. Ich hatte nur gehört …«
»Können wir das Thema wechseln?«, unterbrach sie Wallerich. »Oder ist es höflich, auf den Gefühlen von Heinzelmännern herumzutrampeln?«
»Also stimmt es?« Die eben noch so schroffe Mozzabella bedachte den Heinzelmann mit einem mitleidigen Blick. Dann begann sie ausgelassen Anekdoten aus ihrer kleinen Stadt zu erzählen und erwies sich für den restlichen Abend als überaus gut gelaunte und taktvolle Gastgeberin.
Je mehr Till von dem schweren, mit Harzen und Kräutern gewürzten Wein trank, der von einem borkenhäutigen Waldschrat zum Essen gereicht wurde, desto heimischer fühlte er sich in dieser fremden Welt. Auch die übrigen Alesier hatten sich schnell eingelebt. Almat tauschte Sushirezepte mit der Undine im Badezuber, Martin ließ sich von einer glutäugigen Nymphe im Umgang mit Laute und Harfe unterweisen, Rolf diskutierte mit einer Walküre über gemeine Schwertkampftricks, und sogar Gabriela verhielt sich friedlich und plauschte mit einem bebrillten Raben darüber, wie sie die Federn auf ihrem schwarzen Umhang gegen den Herbstregen imprägniert hatte.
Als Till viele Stunden später von Klöppel zu einer Schlafnische an der Wand der Festhalle getragen wurde, war er sich ganz sicher, dass dieser Abend nicht der Beginn eines Alptraums, sondern eines wunderbaren Abenteuers sein würde.