Kapitel 33
Die nächsten vier Wochen vergingen in einer Art Trance-Zustand. Weder Rigoletto noch ich sprachen über die Wohnung, seine Mutter oder mein Ultimatum. Wir kreisten wie zwei kriegerische Geier, die das gleiche Stück Aas wollten, um einander herum und keiner wagte, zuerst anzugreifen, da die Konsequenzen tödlich sein könnten und würden. Ich überlegte hin, ich überlegte her, aber ich kam immer zum gleichen Schluss: Es waren weniger Ingrids Bemerkungen und kleine Gehässigkeiten, die sie ständig in meine Richtung los ließ, es war ihre Beziehung zu Rigoletto und seine zu ihr, die ich nicht mehr weiter tolerieren konnte. Ingrid war in unserem ersten gemeinsamen Urlaub, der gleichzeitig Rigolettos Weihnachtsgeschenk an mich gewesen war, aufgetaucht. Sie hatte unsere Hochzeit zu ihrer eigenen gemacht. Sie war uneingeladen zur Geburt meines ersten Kindes erschienen. Sie machte ständig Bemerkungen darüber, wie ich aussah und was ich in ihren Augen alles besser machen könnte. Und ihr eigener Sohn fand das absolut normal.
Ich war mehr als einmal versucht, meine Mutter anzurufen, um mich bei ihr auszuweinen. Ich tat es nicht. Meine Mutter weigerte sich immer noch, auch nur über Ingrid zu sprechen, geschweige denn mich zu beraten.
„Kind, da musst du alleine durch. Ich kann und werde über diese Person nach der Szene im Krankenhaus nicht mehr sprechen. Ich möchte mich nie wieder so vergessen wie an diesem Tag“, erklärte meine Mutter jedes Mal huldvoll – auch wenn ihre Stimme leicht zitterte – wenn der Name Ingrid fiel.
Ich befürchtete selbst der Wohnungs-Gau würde sie nicht umstimmen können.
Also hielt ich mit meinen verheirateten Freundinnen Kriegsrat. Zwar hielten die meisten meinem Ultimatum entgegen, dass ich auch an meine Kinder denken müsse, aber so wirklich abraten wollte und konnte mir keine. Spätestens, wenn ich ganz ruhig nachfragte:
„Möchtest du in der Wohnung neben deiner Schwiegermutter wohnen, die diese heimlich mit dem Einverständnis deines Mannes gekauft hat?“, verstummte die Diskussion, ob ich Rigoletto wirklich dazu zwingen konnte, sollte oder musste zwischen mir und seiner Mutter zu wählen.
„Wenn die Schwiegermutter neben dir wohnt und du ihr auch noch zu Dank verpflichtet bist, dass sie dir Geld gegeben hat, das ist so, als wenn Weihnachten und Ostern auf einen Tag fällt. Für die Schwiegermutter. Für die Schwiegertochter ist es, wie wenn Pest und Cholera in der Familie gleichzeitig ausbrechen“, brachte Maria meine Lage während eines der unzähligen Telefonate auf den Punkt.
Dann war es soweit. Rigoletto stieg mit den Kindern ins Auto, um nach Paderborn zu fahren. Mein Moment war gekommen. Mit fester und ernster Stimme sprach ich aus, was möglicherweise das Ende unserer Ehe bedeuten würde:
„Mein Entschluss steht. Deine Mutter oder ich. Du musst dich entscheiden. Entweder wir verkaufen unsere Wohnung oder deine Eltern verkaufen ihre. Ich ziehe nicht in die Wohnung neben deiner Mutter. Unter 300 Kilometern Mindestabstand bin ich nicht zu Verhandlungen bereit. Jeder Kilometer darunter bedeutet Scheidung.“
Ich küsste meine Kinder, drehte mich um und ging in unsere Wohnung zurück.
Selbstverständlich war das Wochenende schrecklich. Es verstieß gegen meine Ehre und meine Gepflogenheiten, Rigoletto anzurufen, während er bei seinen Eltern war.
Josephine und Lilly, die an den Wochenenden in Paderborn darauf bestanden, mehrmals täglich ihre Mama anzurufen, konnte ich schlecht fragen, ob sie zufällig mitbekommen hatten, ob ihre Eltern noch verheiratet waren oder schon in Scheidung lebten. So lief ich wie ein gehetztes Tier zwei Tage lang durch die Wohnung und wartete auf meinen Urteilsspruch.
Warum ich das tat, ist mir im Nachhinein nicht mehr klar. Ich war offenbar nicht lernfähig, sonst hätte ich gewusst, dass alles, was mit Ingrid zusammenhing, immer anders kam als man dachte. Selbstverständlich war es auch diesmal Ingrid, die die Entscheidung über unser aller Zukunft fällte und nicht ich und mein Ultimatum.
Rigoletto kam am Sonntagnachmittag mit versteinertem Gesicht aus Paderborn zurück. Kein gutes Zeichen. Da ich vor den Kindern keinen möglicherweise ehebeendenden Streit beginnen wollte, musste ich mich gedulden, bis die beiden im Bett waren, bevor ich endlich erfuhr, was mein Schicksal sein würde.
Es war kurz nach acht Uhr abends, als ich mit einem Glas Rotwein bewaffnet ins Wohnzimmer trat, wo Rigoletto mit immer noch versteinerter Miene saß.
„Und?“, fragte ich nüchtern, obwohl ich schon ein Glas Rotwein in der Küche getrunken hatte.
„Du bekommst deinen Willen.“ Rigoletto sah mich kalt an.
Mir lief es vor Freude heiß den Rücken hinunter. Rigoletto dagegen liefen Tränen die Wangen herunter. Natürlich fühlte ich mich auch ein wenig schlecht, dass ihn die „Trennung“ von seiner Mutter so mitnahm. Aber ganz ehrlich: ein 40-jähriger Mann, der weint, weil seine Mama nicht in die Wohnung nebenan zieht?
„Miranda, es ist ja so furchtbar“, schluchzte Rigoletto unter Tränen.
Mit Mühe schaffte ich es, nicht die Augen zu verdrehen, indem ich einen großen Schluck Rotwein trank. Auf einmal wusste ich, wie Igerich sich seit fast 50 Jahren fühlen musste. Aber das musste mich nun nicht weiter interessieren. Ingrid war weg und mit ihr auch Igerich. Ich hatte gesiegt. Gegen die unschlagbare Ingrid. Das erste Mal. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade als krasser Außenseiter, der noch nie in seinem Leben auf einem Pferd gesessen hatte, die Olympische Goldmedaille im Dressurreiten gewonnen. Ein wenig war es ja auch so – Rigoletto hatte zum ersten Mal seit wir uns kannten gemacht, was ich wollte.
Dann plötzlich durchschnitt Rigolettos Stimme meine Gedanken mit einer Nachricht, die den gesamten Kriegsverlauf auf den Kopf stellte.
„Meine Eltern haben sich getrennt.“
Ich hatte es immer für übertrieben gehalten, wenn im Film jemand sein Getränk vor Schreck ausspuckt. In diesem Moment aber passierte mir genau das.
„Wie bitte?“, fragte ich fassungslos nach, den Rotweinfleck auf dem Teppich ignorierend.
„Du hast richtig gehört. Meine Mutter hat meinen Vater verlassen. Sie hat vor drei Wochen einen anderen Mann kennengelernt, der ihr all das gibt, was mein Vater ihr nicht gibt. Es geht wohl um Sex.“
Rigoletto schüttelte sich bei diesen Worten wie eine Katze, die in einen Teich gefallen war und fast hätte er mir leid getan, wenn nicht dieses merkwürdige, kleine Gefühl in mir hoch gekeimt wäre. Konnte es wirklich sein?
„Und das bedeutet konkret?“, hakte ich nach, in der Hoffnung, dass ich vielleicht doch die falschen Schlüsse zog.
„Das bedeutet konkret, dass meine Eltern getrennt leben und nicht mehr miteinander sprechen.“
„Was ist daran neu?“, hätte ich fast nachgefragt. Zumindest Igerich hatte doch seit Jahrzehnten kein Wort an seine Frau gerichtet.
„Und der andere Mann?“, erkundigte ich mich stattdessen, da dieses kleine, gemeine Gefühl in meinem Bauch mir sagte, dass ich weit davon entfernt war, die Schlacht gewonnen zu haben.
„Das ist es ja. Meine Mutter wohnt bereits bei ihm und will mit ihm auf die Fidschi-Inseln ziehen, da wollen sie ein religiöses Massage-Zentrum aufmachen.“
„Aha.“
Mehr fiel mir nicht ein. Weder zu dem neuen Hirngespinst von Ingrid, das wahrscheinlich auch von Igerichs satter Rente bezahlt werden sollte, noch zu der Begleiterscheinung dieser Trennung, der ich mich nun stellen musste.
„Und das Schlimmste ist: Sie will nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen.“
Ein neuer Schub Tränen lief Rigolettos Wangen herunter.
„Sie sagt, das Land sei zu klein für sie und Igerich. Sie nimmt auch kein Geld von meinem Vater. Der neue Mann scheint sehr vermögend zu sein. Die Wohnung neben unserer soll verkauft werden. Du hast deinen Willen.“
Mein Mann sah mich böse an, als wäre es meine Schuld, dass seine sexsüchtige Mutter mit einem anderen Mann durchgebrannt war.
Das Leben war ungerecht. Zumindest das war mit Ingrids sexueller Befreiung auf den Fidschi-Inseln bewiesen. Wieso verzweifelten Millionen intelligenter, gutaussehender, erfolgreicher Frauen Anfang Dreißig daran, dass sie keinen Mann fanden und Ingrid fand mit ihrer Leibesfülle, ihren Drahthaaren, ihren Wallekleidern, ihren spinnerten Ideen und ihrer schrecklichen Art gleich zwei vermögende Männer?
„Und was ist mit deinem Vater?“
Ich drückte mich immer noch davor, eine gewisse Vermutung zu Ende zu denken, obwohl diese mittlerweile wie eine schnellfortschreitende Seuche meinen ganzen Körper einzunehmen begann.
„Nicht viel. Mir gegenüber hat er sich quasi nicht zu dem Thema geäußert. Er hat nur gesagt: ‚Reisende muss man ziehen lassen.’ Ich glaube, er kommt ganz gut damit zu Recht. Er hat sich laut Ingrid eine Lastwagenladung Rotwein bestellt und neue Teppiche fürs ganze Haus. In Dunkelrot. Keine Ahnung, was das soll.“
Ich musste mich anstrengen, trotz allem nicht zu kichern. Ich konnte mir genau vorstellen, was das mit den neuen Teppichen sollte. Roter Wein + rote Teppiche = keine Flecken mehr. Und keine Ingrid mehr, die einem ihren dicken Hintern entgegenstreckte, wenn sie hysterisch die Flecken entfernte. Wahrscheinlich war Igerich der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt.
Was man unter normalen Umständen wohl auch von mir hätte sagen können. Eigentlich hätte ich Halleluja schreiend durch die Wohnung rennen müssen. Ingrid am anderen Ende der Welt und entschlossen, nie mehr nach Deutschland zu kommen! Konnte man sich mehr wünschen? Konnte man nicht, wenn da nicht dieser fade Beigeschmack gewesen wäre, dass sie mich wieder geschlagen hatte. Ich musste mich den Tatsachen stellen.
Ich hatte mitnichten gewonnen. Ingrid hatte entschieden und als Zufallsprodukt hatte ich dabei meinen Willen bekommen. Und Rigoletto war aus dem Schneider, er hatte sich nicht zwischen seiner Ehefrau und seiner Mutter wählen müssen.
Ich ging schweigend in die Küche und füllte mein Glas nochmals randvoll mit Rotwein. Dann rief ich meine Eltern an.
„Sie ist weg. Für immer.“
„Dann können wir euch ja besuchen kommen, in der neuen Wohnung.“
„Wir freuen uns.“
Ich legte den Telefonhörer auf und nahm die Pläne für unsere neue Wohnung vorsichtig in die Hand. Ich begann zu überlegen, ob das Sofa nicht doch lieber an der anderen Wand stehen sollte. Ich würde nie erfahren, ob Rigoletto mich oder seine Mutter gewählt hätte. Aber vielleicht war das gar nicht so schlimm. Immerhin konnten wir nun einen Neuanfang planen!
Man musste immer das Beste aus einer Situation machen. Außerdem konnte ich immer noch die „Alles-nicht-so-schlimm-Liste“ erweitern.