Kapitel 27

 

Zum offenen Konflikt kam es erst bei einen anderen Thema: dem Namen des noch auf die eine oder andere Art zu gebärenden Kindes.

Da mein Chef mich dank der Schwangerschaft schonte und zu langweiligen Ablage-Arbeiten am Schreibtisch verdonnerte hatte, war es mir nicht gelungen, eine Ausrede für den anstehenden Besuch in Paderborn zu finden. Also fuhren Rigoletto und ich an einem Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe los und saßen zur Mittagszeit bei Ingrid am reich gedeckten Tisch.

            „Ho, ho, ho“, polterte Ingrid plötzlich los, als sei sie der Weihnachtsmann persönlich. „Kinder, wisst ihr was mir gerade einfällt? Unser schwangeres Mandylein - uppsi, schon wieder! - trägt ein Stück von mir in ihrem Bauch. Für neun Monate sind wir jetzt fast Blutsverwandte.“

Ich sah sie mit großen, ungläubigen Augen an und beschloss, mich aufs Essen zu konzentrieren. Was nicht einfach war. Schon deshalb nicht, weil ich nun ständig daran denken musste, dass ich Ingrid in meinem Bauch hatte. Außerdem hatte ich -während Ingrid und ihre echten Blutsverwandten einen dicken Braten mit Genuss aßen – nur einen einfachen Salat vor mir stehen. Ohne Dressing, denn zu viel Fett sei schlecht fürs Kind und für die Figur der Mutter, so Ingrid zuckersüß, als sie mir mein Hasenmahl vorsetzte. Was eine gewisse Ironie hatte, das mit dem Hasenmahl, über die ich angesichts meines Hungers aber nicht lachen konnte.

Beim Nachtisch - Schokoladenkuchen für die Blutsfamilie, Obstsalat für die Schwangere - brachte Ingrid das Thema dann auf den Namen des Kindes.

            „Also, ich finde er sollte ,Igerich‘ oder ,Rigoletto‘ heißen“, schlug  sie zwischen zwei riesigen Stücken Schokokuchen vor. „Das ist so schön traditionell.“

            „Ach, ja?“ Ich tat interessiert, während sich in mir alles zusammenzog.

In diesem Moment wusste ich, dass der Satz „da rollen sich einem die Fußnägel hoch“ nicht nur ein dummer Spruch war. Meine Fußnägel taten genau dies.

            „Ich wusste gar nicht, dass die Namen ,Igerich‘ und ,Rigoletto‘ Familiennamen sind?“ fragte ich vorsichtig nach.

            „Sind sie auch nicht, aber darum wäre es doch umso schöner, jetzt mit der Tradition anzufangen, oder?“

Ingrids Logik war beeindruckend. Meine Fußnägel rollten sich noch ein wenig fester zusammen, sie waren jetzt wie Sprungfedern kurz bevor man sie loslässt. Ich sah zu Rigoletto hinüber, der sich gerade ein weiteres Stück Schokoladenkuchen nahm. Hatte ich gelernt, dass er generell nichts gegen seine Mutter sagte, so hatte ich doch geglaubt, dass er zumindest bei der Namensfrage aufbegehren würde. Ich hatte noch die vielen, vielen Klagen über seinen eigenen Namen, und wie der ihn überall zum „Deppen“ machte, in den Ohren.

            „Wir wissen ja noch gar nicht was es wird“, sagte Rigoletto diplomatisch wie gewohnt, als er meinen Blick bemerkte.

„Warum ist der Mann eigentlich nicht Diplomat geworden?“, fragte ich mich verbittert. Dann hätte er sich nach Papua-Neuguinea als Botschafter versetzen lassen können und ich wäre die Hauptsorge meines Lebens - seine Mutter - los.

            „Naja, wenn ihr keinen Namen aus der Familie wollt, ist es auch gut“, gab Ingrid zu meinem großen Erstaunen klein bei. „Es macht ja auch Spaß, neue Namen zu finden.“

Sie lächelte mich freundlich an und ich lächelte vorsichtig zurück. Das konnte noch nicht das Ende des Themas sein, dafür kannte ich Ingrid mittlerweile zu gut. War es auch nicht.

            „Was haltet ihr von ,Kermit‘?“

Ich sah Ingrid entgeistert an und versuchte, in ihrem Gesicht zu erforschen, ob sie einen Scherz gemacht hatte. „Kermit Hasenbein“, ich ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen. Und dann passierte es. Das Unglaubliche, das niemals zuvor für möglich Gehaltene.

            „Ja, genau und wenn es ein Mädchen wird, dann nennen wir sie ,Miss Piggy‘ und mit zweiten Namen ,Ingrid‘“, nahm ich ihren Vorschlag vergnügt kichernd auf.

Ich kam später, als ich über das Mittagessen nachdachte, zu der Überzeugung, dass es ein Schwangerschafts-Hormon-Hoch gewesen sein musste, dass meinen ersten Widerspruch gegen meine Schwiegermutter hervorgerufen hatte. Die Blutsfamilie sah mich vollkommen entgeistert an. Man hätte ein Blatt auf den Boden sinken hören können, so still war es. Meine Hormone nutzten die Stille, noch eins draufzulegen.

            „Naja, ich mein ja nur“, sagte ich gut gelaunt und steckte mir ein Stück Apfel in den Mund. „Schließlich ist es ein ziemlicher Spagat von Verdi zur Muppets-Show.“

Ingrid presste die Lippen zusammen und nahm sich ein weiteres Stück Schokoladenkuchen. Dann sah sie ihren Sohn durchdringend an. Wahrscheinlich sollte er seine Frau zurechtweisen.

            „Wir wissen ja noch gar nicht was es wird“, wandte Rigoletto zum wiederholten Male ein.

            „Das stimmt“, pflichtete ich gnädig bei. Dann starteten meine Hormone erneut durch. Es folgte eine Art Terrorakt mit Worten, der in die Geschichte der Familie Hasenbein eingehen sollte.

            „Natürlich müssen wir auch zuerst entscheiden, ob das Kind überhaupt mit Nachnamen Hasenbein heißen soll.“

Man hätte ein Staubkorn fallen hören können. Sogar Igerich sah mich verwundert an.

            „Ich mein ja nur. Es könnte schließlich auch Meyer heißen,“ ich schob mir betont lässig meine Gabel in den Mund und setzte den finalen Schuss, „so wie ich.“

Ingrids Lippen waren nicht mehr zusammengepresst, sondern hingen schlaff und leblos herunter. Einen kurzen Moment dachte ich, sie hätte einen Schlaganfall gehabt. Mein höfliches, früheres „Ich“ begann, Mitleid mit ihr zu verspüren. Meine Hormone dagegen hatten ihren Feldzug gegen Ingrid gerade erst begonnen.

           Uppsi! Habe ich mich verplappert?“, fragte ich scheinheilig in die immer noch sprachlose Runde.

           Rigoletto, hast du etwa Geheimnisse vor deinen Eltern und ihnen gar nicht gesagt, dass ich deinen Nachnamen bei der Hochzeit nicht angenommen habe?“

Rigoletto schüttelte leicht den Kopf. Ingrid blickte fassungslos zu ihrem Sohn. Sie war das erste Mal seit ich sie kannte sprachlos.

„Endlich!“, dachte ich bei mir und nahm einen großen Schluck Wasser. „Endlich fühlt sie sich einmal so, wie ich mich ständig in ihrem Beisein fühle.“ Natürlich wäre nun der Moment gekommen, dem ganzen Einhalt zu gebieten und zu sagen, dass ich eigentlich gar nichts dagegen hatte, dass mein Kind „Hasenbein“ heißen würde. Der Nachname „Meyer“ war auch nicht viel besser. Doch der Geschmack der Rache war einfach zu süß. Außerdem gefiel mir die Idee immer mehr, dass meine Kinder meinen Namen tragen könnten und nicht Ingrids. Ich ging aufs Ganze.

            „Überraschung!“, krähte ich in bester Ingrid Manier. „Unsere Kinder werden ,Meyer‘ mit Nachnamen heißen.“

Es waren die letzten Worte, die während des Essens gesprochen wurden. Ich schaute der Blutsfamilie quietschvergnügt zu, wie sie noch einen Kaffee trank und fragte mich, was wohl als Nächstes passieren würde. Ich befand mich immer noch in einem Hormon-Hoch und überlegte, ob ich vorschlagen sollte, dass das Kind ja auch „Wilhelm“ wie mein Vater oder „Magda“ wie meine Mutter heißen könnte, als Ingrid, ohne mich eines Blickes zu würdigen, aufstand.

            „Ich denke, für Miranda wird es das Beste sein, wenn sie sich ein wenig hinlegt. Die Schwangerschaft scheint ihr nicht zu bekommen“, sagte sie schnippisch an Rigoletto gerichtet und deutete ihm, ihr auf den Balkon zum Rauchen zu folgen.

            „Und wer räumt dann ab?“

Ich konnte mir diese Frage zwar nicht verkneifen, wartete die Antwort allerdings nicht mehr ab, sondern ging auf unser Zimmer. Erst als ich ausgestreckt auf dem Bett lag und über meinen Bauch streichelte, wurde mir das Ausmaß meiner Aufsässigkeit bewusst.

Ich hatte das erste Mal, seitdem ich sie kannte, meiner Schwiegermutter widersprochen – mit großem Genuss. Ich hatte wortlos zugesehen, wie sie meine Wohnung, meinen Urlaub und meine Hochzeit ruiniert hatte, aber ich hatte für das Kind in meinem Bauch gekämpft. Ich war stolz auf mich. Ich würde eine gute Mutter werden! In diesem Moment fiel mir auf, dass ich besser keinen Jungen bekommen sollte. Wenn ich schon den Fötus in meinem Bauch verteidigte wie ein Löwin, was würde ich tun, wenn dieses Kind ein Junge war und mir als Erwachsener eine Schwiegertochter präsentierte?

Zunächst aber wirkte mein offener Widerstand gegen die Schwiegermutter-Gewalt Wunder. Der Rest des Tages verging wie im Flug und ohne Kommentare über mein Körpergewicht oder Debatten über Kaiserschnitte und Namen. Am Abend bekam ich sogar eine Scheibe Brot zu meinem Salat, was ich für einen Sieg hielt. Ich fühlte mich so gut wie selten zuvor und nahm mir vor, ab sofort die mir anerzogene Höflichkeit öfter mal zu vergessen. Die Saat war gesät und eines würde ich mir als kleine Erinnerung an meinen – vielleicht einzigen – Widerstand nicht mehr nehmen lassen: Sämtliche, ob per Kaiserschnitt oder sonst wie geborene, Kinder würden meinen Nachnamen tragen!

 

Dummerweise erholte sich Ingrid über Nacht von meinem kleinen Aufbegehren und war am Sonntagmorgen wieder ganz die Alte.

           Mandylein!“, brüllte sie um 6.30 Uhr durchs Haus.

Kaum war ich aufgestanden erklärte sie mir nochmals ausführlich, dass Schwangere nicht zu lange im Bett liegen dürften, da sonst die Blutgefäße in ihren Beinen verstopfen könnten. Ich war versucht, sie zu fragen, woher sie diesen Schwachsinn hatte, wollte den Bogen aber nicht schon am zweiten Tag des Widerstandes überspannen. Auch mit Hilfe der Hormone, die sich allerdings zu dieser Urzeit noch nicht rührten, konnte ich nicht komplett aus meiner Haut heraus.

Kurze Zeit später fand ich mich mit Ingrid und einem verschlafenen Igerich beim Frühstück wieder. Die Angst, was ich mit meinen Schwiegereltern reden sollte, kam wieder hoch und so stand ich nochmal vom Tisch auf, um Rigoletto zu wecken.

            „Ach, lass den armen Jungen doch schlafen“, rief Ingrid mich zurück. „Wenn das Baby erst da ist, kommt er ja nicht mehr zur Ruhe.“

Mir war zwar neu, dass Rigoletto und ich uns geeinigten hatten, dass er das Kind großziehen würde, aber da meine Hormone offensichtlich immer noch schliefen, setzte ich mich ohne Widerworte zurück an den Tisch. Ingrid rührte hektisch in einer kleinen Schale, die sie mir schließlich auf meinen Teller stellte.

            „Leinsamen mit Kümmelwasser, etwas Besseres gibt es nicht gegen Schwangerschafts-Verstopfung! Und Verstopfung überhaupt.“

Ingrid hatte ihr altes Strahlen wiedergefunden und sah mich glücklich an.

            „Ich habe aber keine Verstopfung.“

            „Papperlapapp! Alle Schwangeren haben Verstopfung.“

            „Ich nicht.“

            „Wenn du noch keine Verstopfung hast, dann kriegst du die auf jeden Fall noch, außer natürlich, du trinkst das Leinsamen-Kümmelwasser zur Vorsorge. Also, runter damit!“

Mit diesen Worten haute Ingrid mit voller Wucht auf meinen Rücken und nahm den Löffel, der neben meinem Teller lag und begann, mich zu füttern wie ein Kleinkind. Nach zwei Bissen war mir so schlecht, dass ich aufsprang, auf die Toilette rannte und versuchte, mich zu übergeben.

            „Morgenübelkeit! Wusste ich es doch. Die liegt bei uns in der Familie“, sagte Ingrid triumphierend, als ich zurückkam.

Mein Protest, dass mein Magen nach einem ungewollten Tag Rohkost um 6.45 Uhr morgens noch nicht bereit war, Kümmelwasser zu tolerieren, blieb ungehört. Der Protest, wie es denn in der Familie liegen könne, wenn ich doch gar keine Blutsverwandte war, blieb ungesagt. Die Hormone schliefen immer noch.

            „Gott sei Dank habe ich das Zaubermittel gegen Morgenübelkeit“, sagte Ingrid mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „Zieh dich an!“

Nachdem ich nochmals vergeblich darauf hingewiesen hatte, dass ich weit davon entfernt war, unter Morgenübelkeit zu leiden, fragte ich resigniert:

            „Wohin gehen wir?“

Der Leinsamen-Kümmel rebellierte derweil weiter in meinem Magen.

            „Das wirst du gleich sehen. Ich habe noch keine Schwangere erlebt, die mein Wundermittel genommen hat und der anschließend noch schlecht war!“

            „Wie viele Schwangere kennst du denn?“, fragten meine jetzt langsam erwachenden Hormone für mich nach. Ich war nicht sicher, ob ich mich darüber freuen sollte. Mir war so schlecht, dass ich keinerlei Lust verspürte, zu streiten.

           Mandylein  - upps, schon wieder und das am frühen Morgen - ich habe in meinem Leben viele Schwangere getroffen, das kannst du mir glauben.“

Ich fand diese Antwort etwas unkonkret, verbot meinen Hormonen aber nachzufragen. Schließlich war ein kleiner Ausflug an die frische Luft immer noch besser, als mit Ingrid am Tisch zu sitzen und den Geruch des Kümmelwassers in der Nase zu haben. Außerdem hatte Igerich auf Ingrids Anweisung hin ebenfalls eine große Schüssel des gleichen Gemischs zu sich genommen und ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was bald auf der Toilette los sein würde.

 

Wenige Minuten später saßen wir im Auto und fuhren Richtung Paderborner Innenstadt. Da Ingrid trotz sommerlicher Temperaturen nicht auf die Autoheizung verzichten wollte, war es im Wageninneren heiß wie in einer Sauna und ich wurde von einer fürchterlichen Müdigkeit überfallen. Langsam döste ich weg und wachte erst wieder auf, als wir unser Ziel erreicht hatten - McDonald‘s am Paderborner Hauptbahnhof.

Es gab Zeiten in meinem Leben, da wäre ein frühmorgendlicher Besuch bei McDonald‘s das Größte für mich gewesen. Da war ich ungefähr Zwölf und es gab noch nicht das Frühstücksangebot bei McDonald’s, aber damals war es noch cool, dort zu essen, egal was, egal zu welcher Zeit. Als ich ungefähr 22 war, verbrachte ich dann jedes zweite Wochenende einen Morgen bei McDonald‘s - nach der Disko, so gegen fünf Uhr morgens, musste es noch ein Big Mac sein. Das war damals auch cool. Nun war ich aber mittlerweile 35 Jahre alt und hatte nichts gegen McDonald‘s, allerdings auch nicht mehr so fürchterlich viel für McDonald‘s. Ich mochte Big Macs und Pommes Frites, aber sie waren nicht mehr das Höchste des guten Geschmacks für mich. Cool war McDonald’s für Menschen meiner Altersklasse auch nicht mehr.

            „McDonald‘s?“, fragte ich Ingrid. „Pommes Frites und Burger sind das Wundermittel gegen Schwangerschaftsübelkeit?“

            „Nein, Kindchen, aber nein. Warte nur ab.“

Mit diesen Worten zog sie mich in die 24-Stunden geöffnete McDonald‘s-Filiale.

 

Ein müde aussehender, pickliger Jüngling stand hinter dem Tresen. Der Arme hatte keine Ahnung, was da auf ihn zukam.

            „Guten Morgen bei McDonald’s!“, begrüßte er uns freundlich. „Wie kann ich ihnen helfen?“

            „Einen Erdbeer-Milchshake und vier von den Burger-Gurken“, bestellte Ingrid mit fester Stimme.

            „Gerne“, sagte der Jüngling. „Die Burger-Gurken gibt es allerdings nicht einzeln. Möchten sie vielleicht vier Hamburger?“

            „Nein, ich möchte vier Gurken und keine Hamburger. Sehe ich aus wie jemand, der Morgens um 7 Uhr vier Hamburger verdrückt?“, fragte Ingrid beleidigt.

Ich war kurz davor zu sagen: „Ja, genau so siehst du aus und eigentlich auch, als würdest du dazu noch vier Milchshakes locker runterspülen.“

Selbstverständlich sagte ich nichts, sondern wartete gespannt ab, wie und ob das picklige Kerlchen die Situation meistern würde.

            „Die Gurken kann ich leider nicht einzeln herausgeben“, wiederholte dieser.

            „Ich will ja auch keine einzelne Gurke sondern vier Stück“, beharrte Ingrid auf ihrer Forderung.

            „Ich hole mal meinen Vorgesetzten.“

Man konnte dem armen Jungen ansehen, dass er nach einer Samstag-Nacht-Schicht Kummer gewöhnt war. Ich musste unweigerlich an unseren Liegenwart Rodrigo in Portugal denken und schämte mich ein bisschen, dass ich ihm damals kein Trinkgeld gegeben hatte. Diesen Gedanken verwarf ich allerdings sofort wieder, da mir einfiel, dass ich es war, die einen Erdbeer-Milchshake mit vier Gurken würde verdrücken müssen, sollte es Ingrid gelingen - woran ich nicht zweifelte - ihren Willen durchzusetzen. Mein gepeinigter Kümmel-Magen zog sich zusammen.

            „Ingrid, mir ist gar nicht mehr schlecht“, versuchte ich mein Glück.

           Mandylein - upps, schon wieder - glaub mir, ich weiß wovon ich spreche. Selbst wenn dir jetzt eine Minute nicht schlecht ist, das kommt wieder und dann bist du froh, dass du den Milchshake und die Gurken hast.“

Das konnte ich mir nun beim besten Willen nicht vorstellen. Derweil kam der McDonald’s-Verkäufer mit einen anderen, pickeligen Jüngling zurück.

            „Guten Morgen bei McDonald‘s! Wie kann ich ihnen helfen?“, fragte dieser voller Elan.

            „Ich möchte einen Erdbeer-Milchshake und vier Hamburger-Gurken“, bestellte Ingrid erneut.

            „Leider können wir die Gurken nicht einzeln ausgeben“, sagte Jüngling II freundlich. „Vielleicht möchten sie die Hamburger dazu?“

            „Nein, das möchte ich nicht!“ Ingrid war mittlerweile richtig aufgebracht. „Ich möchte einen Milchshake und vier Gurken für meine Schwiegertochter, die schwanger ist und genau diese Dinge gegen ihre Morgenübelkeit braucht.“

Ich lächelte die Jünglinge schwach an. In mir kamen nun Erinnerungen an das Foto-Shooting am Kulturabend im Golf-Urlaub hoch. Ich musste einschreiten, was ich dank des Hormon-Überschusses in meinem Körper auch tat.

            „Ingrid, ganz ehrlich, ich habe keine Morgenübelkeit. Mir ist schlecht, weil du mich gezwungen hast, auf leeren Magen Leinsamen mit Kümmel-Wasser zu essen bzw. zu trinken. Sonst geht es mir wunderbar und mir wird nur schlecht, wenn du mich nun auch noch zwingst, einen Erdbeer-Milchshake mit vier Hamburger-Gurken zu essen.“

            „Ha!“, schrie Ingrid mich so plötzlich an, dass ich hätte schwören können, dass ich ein paar der Pickel in den Gesichtern der Jünglinge vor Schreck platzen sah.

            „Das haben wir gerne. Erst tust du so, als sei dir schlecht, hetzt deine betagten Schwiegereltern am frühen Morgen den ganzen Weg nach Paderborn und dann bist du auf einmal völlig gesund.“

            „Ingrid, ich habe dir mehr als einmal gesagt, dass mir nur der Kümmel auf den Magen geschlagen ist und ich keine Schwangerschaftsübelkeit habe“, verteidigte ich mich und sah Igerich hilfesuchend an.

Doch der beobachtete das ganze Schauspiel wie gewohnt wortlos und zuckte mit den Schultern. Vermutlich war er in Gedanken bereits bei seinem ersten Glas Rotwein, das zu Hause auf ihn wartete. Ingrid drehte sich auf dem Absatz um und stampfte aus dem Restaurant. Die Gurken und der Milch-Shake waren vergessen. Gerne hätte ich mir noch ein Frühstück bestellt, man konnte schließlich nicht wissen, was Ingrids Menü-Plan für ihre schwangere Schwiegertochter für den Rest des Tages vorsah. Ich spürte jedoch, dass es wohl besser war, Ingrid zu folgen.

Die Jünglinge sahen uns fassungslos schweigend nach. Der Standardspruch „Danke für ihren Besuch bei McDonald’s, kommen sie bald wieder“, war ihnen im Halse stecken geblieben.

„Das Gefühl kenn ich gut!“, hätte ich ihnen gerne zugerufen, musste aber aufpassen, dass ich es noch ins Auto schaffte, da Ingrid den Motor schon laufen ließ.

Die Rückfahrt verbrachten wir wortlos. Als wir zu Hause ankamen, war Rigoletto gerade aufgestanden. Fröhlich rief er uns entgegen:

            „Na, ihr Frühaufsteher, habt ihr Brötchen geholt?“

Schweigend und ohne eine Miene zu verziehen stapften seine Eltern und seine Frau an ihm vorbei ins Haus.

 

Nun kann man Ingrid viel vorwerfen, aber nachtragend war sie nicht. Leider. Ich hatte fest darauf gebaut, dass sie bis zu unserer geplanten Abfahrt nach dem Mittagessen nicht mehr mit mir sprechen würde. Doch ich hatte mich getäuscht. Und wie.

           Mandylein, Mandylein - upps, upps, gleich zweimal!“, strahlte Ingrid mich wenige Minuten nach unserer Rückkehr an, als wäre nichts geschehen.

            „Ich habe eben zu Rigoletto gesagt, dass er jetzt sehr nachsichtig mit dir sein muss, schwangere Frauen stellen allerlei Blödsinn an.“

            „Wollen wir jetzt endlich frühstücken?“ Wie immer, wenn Igerich sich entschloss, etwas zu sagen, zuckte ich vor Überraschung zusammen.

            „Unbedingt“, antwortete Rigoletto. „Ich haben einen Bärenhunger.“

            „Ich auch“, sagte ich unbedarft. Mein Magen hatte sich von dem Leinsamen-Kümmelschreck der frühen Morgenstunden erholt und knurrte.

            „Mandy! Jetzt ist es aber genug!“ Ingrid sah mich vorwurfsvoll an. „Natürlich verstehen wir alle, dass du mit der Schwangerschaft zu kämpfen hast, aber das geht zu weit. Erst erbrichst du dich wegen deiner Schwangerschaftsübelkeit und wir müssen dich bis nach Paderborn zu McDonald’s fahren, wo du dann doch nichts essen willst und jetzt hast du Hunger? Ich denke, am besten wird für dich sein, wenn du dich noch mal hinlegst und schläfst.“

            „Seit wann frühstückst du denn gerne bei McDonald’s? Und seit wann hast du Schwangerschaftsübelkeit?“ Rigoletto sah mich verwirrt an. „Wenn du das gesagt hättest, hätte ich dir in Berlin auch schon mal etwas bei McDonald’s geholt.“

In diesem Moment stolperte Igerich, der gerade in die Küche gehen wollte, ohne ersichtlichen Grund und riss den Vorhang, an dem er versuchte, sich festzuhalten, herunter.

Für einen kurzen Moment hatte ich das unstillbare Bedürfnis, schreiend aus dem Haus zu laufen, mich nackt auszuziehen und mein Baby im Wald mit den Wölfen großzuziehen. Ich war mir sicher, dass das arme Kind dann weniger Schaden nehmen würde, als wenn es in dieser Familie groß werden würde. Ich bekämpfte dieses Gefühl und ging ohne ein weiteres Wort auf unser Zimmer, wo ich meinen Notvorrat an Keksen aus der Reisetasche zog, auf dem Bett ein ruhiges Frühstück einnahm und schließlich fest einschlief.

 

Drei Stunden später, ich hatte geduscht und die Tasche gepackt, ging ich zurück ins Wohnzimmer, wo Familie Hasenbein so einträchtig saß und plauderte, als handele es sich um ganz normale Menschen.

            „Da bist du ja“, bemerkte Rigoletto freundlich. „Wir haben uns schon gefragt, wo du so lange steckst.“

Ingrid lächelte mich verschwörerisch an.

            „Bei mir war das natürlich alles kein Problem, aber ich habe schon von Schwangeren gehört, die mussten stationär eingewiesen werden, so sehr haben sie sich gewisse Sachen eingebildet. Genau wie du deine Schwangerschaftsübelkeit heute Morgen.“

 Zu diesen Worten strahlte sie, als hätte sie gerade erfahren, dass sie selbst nochmal Mutter würde.

            „Wollen wir mal hoffen, dass sich das bei dir wieder legt. Es wäre ja furchtbar für Rigoletto, ständig Fahrten in die ‚Geschlossene‘ auf sich nehmen zu müssen.“ Ingrid strahlte immer noch und räusperte sich laut.

            „Aber jetzt wollen wir doch lieber von etwas Schönem sprechen. Da Igerich und ich uns so sehr auf unser Enkelkind freuen, haben wir noch ein paar kleine Überraschungen für euch.“

Um Himmels Willen, das Wort des Schreckens. Das Wort, das immer das Schlimmste bedeutete: Überraschung. Und dann auch noch in der Mehrzahl: Überraschungen!

Meine Schwiegermutter enttäuschte auch diesmal nicht. Sie winkte Igerich, der friedlich seine Zeitung las, aufzustehen und die Überraschungen zu holen. Er kam mit mehreren großen Tüten beladen zurück. Ich hatte sofort Horror-Visionen von den Baumarkt-Tüten bei der Feng-Shui-Orgie in unserer Wohnung.

            „Als erstes die bunte Tüte“, sagte Ingrid aufgeregt und Igerich stellte eine Tüte vor mich auf den Wohnzimmertisch.

Darin waren ein Starter-Set für eine Brio-Eisenbahn, Rollerblades in Größe 31, ein Zauberwürfel und mehrere Strampelanzüge für Zweijährige. So leicht konnte mich im Hause Haseinbein nichts mehr verwundern, aber angesichts des Inhalts der Tasche sah ich Rigoletto doch hilfesuchend an.

            „Ihr braucht nicht beschämt zu sein, dafür hat man doch eine Oma“, erklärte Ingrid zufrieden.

            „Jetzt, wo Mandylein - uppsi! - bald nicht mehr arbeiten kann, müsst ihr sicher jeden Pfennig umdrehen und da haben Igerich und ich uns gedacht, wir kaufen schon mal das Nötigste für das Baby.“

            „Super, das sind ja genau die Sachen, die ganz oben stehen auf den Listen für die Baby-Erstaustattung!“, hörte ich mich mit gehässigem Unterton sagen. Meine Schwangerschaftshormone waren ausgehungert und nicht gut drauf. Glücklicherweise schwelgte Ingrid so in ihrer Großzügigkeit, dass sie meinen Kommentar nicht mitbekam. Rigoletto dagegen sah mich böse an und ich hätte schwören können, dass Igerich, der mittlerweile wieder sein Rotweinglas in der Hand hatte und von diesem halb verdeckt wurde, bis über beide Ohren grinste.

            „So, Mandylein - uppsi! - jetzt mach mal die Tüte auf, die für dich bestimmt ist!“

Ingrid war so aufgeregt, dass sie – da ich nicht schnell genug war - die Tüte selbst auspackte und den Inhalt vor mir auf den Tisch legte. In der Tüte waren: Hämorrhoiden-Salbe, Binden von einer Größe, dass man sie eher im Elefantenhaus im Zoo als in einem Privathaushalt vermutet hätte und ein 6er-Pack hautfarbener Unterhosen in passender Elefantengröße. Als Letztes stellte Ingrid eine große Flasche Lebertran vor mich hin.

            „Ich habe für dich mal alles besorgt, was du dringend brauchst, aber noch nicht wissen kannst, da du noch keine Mutter warst.“

Ingrid grinste wieder ihr konspiratives Muttern-weiß-es-am-Besten-Grinsen. Sie erinnerte mich ein bisschen an eine Mischung aus einem grinsenden Meerschweinchen und der bösen Hexe, die Schneewittchen den vergifteten Apfel gegeben hat.

            „Also Hämorrhoiden bekommst du auf jeden Fall. Dann bist du froh, wenn du nicht mit Schmerzen in die Apotheke musst. Ist ja auch peinlich, nach so einer Salbe zu fragen. Und nach der Entbindung, ich sage es dir, blutet man wie ein abgestochenes Schwein. Da brauchst du ein paar richtige Binden und Unterhosen, sonst rinnt dir das Blut nur so die Beine herunter und du siehst aus wie im Horrorfilm. Außerdem wird dein Becken nie wieder so sein wie es mal war. Die Größe der Binden und der Unterhosen kannst du dir also gleich merken. Das ist nach der Geburt deine Standardgröße. Und Lebertran musst du nehmen, damit das Kind intelligent wird. Er soll es ja mal weiter bringen im Leben als du.“

Ich war sprachlos. Meine Hormone auch. Nicht mal ihnen fiel etwas zu Ingrids Geschenken ein. Hämorrhoiden, Blutrausch, Beckenvergrößerung und ein Kind, dem ohne Lebertran die totale Verblödung drohte. Um mich abzulenken, las ich die Packungsbeilage der Hämorrhoidensalbe. Währenddessen zauberte Ingrid für Rigoletto aus „seiner“ Tüte ein funkelnagelneues Handy der Oberklasse heraus.

            „Du musst doch jederzeit erreichbar sein, wenn es losgeht und uns anrufen!“, flötete Ingrid.

Ich hatte das Bild vor Augen, wie ich die Rollen der Rollerblades mit der Hämorrhoidensalbe einschmierte und sie Ingrid anschnallte, um meine Schwiegermutter schließlich mit viel Schwung einen steilen Berg hinunter zu stoßen.

            „Ich dachte, du magst keine Handys?“, fragte ich nach, da mir die Stunden des Wartens in Berlin während des legendären Wohnungs-Feng-Shui-Wochenendes, in denen ich Ingrid nicht erreichen konnte, noch schmerzhaft in Erinnerung waren.

            „Jetzt, wo wir einen Enkel bekommen, habe ich beschlossen, dass man auch in unserem hohen Alter noch über seinen Schatten springen muss. Wir haben uns das gleiche Modell gekauft. Damit wir immer für euch erreichbar sind.“

Ingrid grinste so breit, dass ihre Mundwinkel sich am Hinterkopf trafen.

 

Zum Glück fuhren wir kurze Zeit später los in Richtung Heimat. Ich hatte widerstandslos einen weiteren Salat ohne Dressing verspeist und mich in Gedanken mit dem fettigen Mittagessen, dass ich an der nächsten Raststätte einnehmen würde, getröstet. Den Versuch, das Vorgefallene mit Rigoletto zu besprechen, sparte ich mir. Ich hatte eine ziemlich gute Vorstellung von dem, was Rigolettochen sagen würde, wenn ich mich über die Geschenke und die es-mal-weiter-bringen-als-Du-Bemerkung seiner Mutter ausließ - er hätte mir nur wieder versichert, dass seine Mutter alles nicht so meinte. Stattdessen herrschte ich ihn in militärischem Kommando-Ton an:

            „Fahr da raus!“ als das erste Raststätten-Schild am Seitenstreifen auftauchte.