Kapitel 10
Schwarzseher werden es ahnen, es war natürlich nicht egal, was passierte. Dabei fing der Heiligabend wunderbar an. Nachdem sie vergebens versucht hatten, den sprechenden Tieren zu lauschen, kehrten Rigoletto und seine Eltern in bester Stimmung zurück.
„Wir ziehen uns nur schnell um, dann geht es los. Festtagskleidung!“, krähte Ingrid noch in der Tür stehend und ihre Vorfreude auf das Weihnachtsfest war so schön anzusehen, dass ich es ihr nicht mal übel nahm, dass Mandylein doch in der Zeit schon mal den Tisch fürs anschließende Abendessen decken sollte.
Während ich meiner Aufgabe nachkam, wartete ich natürlich gespannt, was Ingrid und Igerich unter „Festtagskleidung“ verstanden. Nackt? Nackt mit Weihnachtsketten behangen? Lendenshorts, da ein Gast anwesend war? Oder doch ganz normal?
Ich war fast ein bisschen enttäuscht, als die beiden „ganz normal“ vor mir standen. Ingrid hatte ein weiteres Kleid, das wie immer weder Anfang noch Ende hatte und für die Gelegenheit mit goldenen Sternen besetzt war, ausgewählt. Igerich trug einen dunkelbraunen Anzug mit gelb-grüner Krawatte, grauem Hemd und ein Glas Rotwein. Kurz darauf erschien auch Rigoletto in seinem schwarzen Anzug. Er sah blendend aus und für einen kurzen Moment vergaß ich, dass dieses Bild von einem Mann tatsächlich von den beiden schrägen Gestalten neben mir abstammte.
„Ich sehe mal nach, ob das Christkind schon da war“, flötete Ingrid so aufgeregt als würde von den drei Erwachsenen, die vor dem Wohnzimmer standen, jeder noch fest an selbiges Christkind glauben und drückte ihren gewaltigen Körper durch einen möglichst kleinen Spalt in der Tür, was bedeutete, dass die Tür kurzzeitig sperrangelweit offen stand.
Ich sah meinen Hasen an, mein Hase sah mich an. Ich schwöre, in diesem Moment war ich überzeugt, dass alles gut würde.
„Ihr könnt kommen“, schrie Ingrid unnötig laut aus dem Wohnzimmer und wir betraten den Raum.
In dem Weihnachtsbaum, der gestern noch so festlich von kleinen Lampen erleuchtet gewesen war, hingen nun Stofffetzen, zusammengeknüllte Papierkugeln, kleine Bilder in verblassten Farben, Tonscherben und ein paar getrocknete Pilze. Bei genauerem Hinsehen fand ich auch noch ein paar Streifen rotes Lametta und die ein oder andere goldene Weihnachtskugel. Konnte man so etwas ernsthaft kaufen? Oder waren das die Sachen aus dem Weihnachtsmüll anderer Leute? Ein weiteres Weihnachtsrätsel der Familie Hasenbein stand in voller Pracht vor mir.
„Alles Schmuck, den unser Rigolettolein als Kind selbst gebastelt hat. Ist das nicht eine tolle Erinnerung?“, erklärte Ingrid im gleichen Moment und ich begann zu fürchten, dass sie meine Gedanken wirklich lesen konnte wie die Weihnachtsgeschichte.
„Natürlich gehen immer mal wieder ein paar Sachen kaputt. Aber wenn ich daran denke, mit welcher Hingabe und Liebe Rigoletto das alles gebastelt hat, kann ich es einfach nicht wegschmeißen.“
Ingrid sah verliebt von ihrem Weihnachtsbaum zu ihrem Sohn. Selbiger strahlte zurück, als hätte man ihm gerade eröffnet, dass der Hasenbeinsche Horror-Weihnachtsbaum bei einer Auktion dank eines anonymen Telefonbieters einen Rekordpreis erzielt und er für immer ausgesorgt hatte.
„Das erbt mein Rigolettolein alles, wenn er mal eine eigene Familie gründet! Dann hat er etwas aus seiner Kindheit, was er weitergeben kann.“
Ingrid zwinkerte mir vielsagend zu. Wusste sie etwa mehr als ich wusste? Mein Herz machte einen kleinen Sprung.
„Ich liebe Traditionen“, sagte ich diplomatisch, denn egal wie scheußlich der Baum aussah, Heiligabend hatte gerade erst begonnen und ich wollte keine neuen Ingrid-Kullertränen so früh am Abend.
Leider fiel mein Blick in diesem Moment auf eine Tonscherbe, auf die mit unbeholfener Kinderhand eine dicke, nackte Frau gemalt war. Ich spürte einen unstillbaren Lach-Reiz in mir aufsteigen. Gott sei Dank kam Igerich mit einem Tablett Sektgläser und wenn er nicht im letzten Moment noch über den Teppich gestolpert wäre, hätte ich den in mir aufsteigenden hysterischen Lachkrampf mit Sekt herunterspülen können. So blieb mir einmal mehr nur der Anblick von Ingrids Hinterteil, während sie den Teppich sauber machte. Was nicht wirklich gegen den Lachanfall half, da ihr Kleid auch am Po mit Sternen besetzt war, die bei jeder ihrer Bewegung hin und her tanzten wie ein Schiff auf hoher See.
Ein halbe Stunde später standen wir endlich mit gefüllten Sektgläsern vor dem Weihnachtsbaum und prosteten uns ein „Frohe Weihnachten“ zu. Nachdem Ingrid uns alle einmal an ihren Atombusen gepresst und aus meiner Rippenquetschung einen glatten Durchbruch gemacht hatte, begann die Bescherung. Zunächst packten Rigoletto und ich gefühlte 200 Geschenke (jeder!) seiner Mutter aus. Endlich wusste ich, wer diese kleinen Bücher in komischen Formaten und ohne jeglichen Sinn oder Verstand kauft, die in Drogerien, Supermärkten und Ramschläden auf Grabbeltischen ausliegen.
„Für deinen Nachttisch, dann kannst du vor dem zu Bettgehen noch ein wenig lesen“, erklärte Ingrid, warum ich jeweils ein Buch über „Herzen“, eins mit „Kleinen Gedichten für die Nacht“ und eins mit Bildern der schönsten „Blumen dieser Welt“ mein Eigen nannte. Außerdem war ich Besitzerin von Duftkerzen für alle Lebenslagen sowie eines größeren Vorrats an mit Blumen, Herzen und ähnlichem bedruckten Papiertaschentüchern und eines Kresseschweins.
Bis zu diesem Heiligabend war ich der festen Überzeugung gewesen, die Spezies der Tonschweine, in denen man Kräuter ziehen konnte, sei in den 80er Jahren ausgestorben. Nun wusste ich es besser. Insgeheim hatte ich aber noch Schlimmeres erwartet und atmete einmal tief und erleichtert durch. Ich hätte einfach nicht gewusst, wie ich Ingrid für ein großes Paket ihrer schönsten Kräuter, eine Kopie des Weihnachts-FKK-Videos oder für „Familie Hasenbein nackt in Öl auf Leinwand“ hätte danken sollen. Die Geschenke, die sie mir gemacht hatten, waren leicht zu entsorgen, und genau dies würde ich sofort nach unserer Rückkehr nach Berlin auch tun.
Der Sohn des Hauses wurde mit ähnlichen Geschenken bedacht, die ich ebenfalls in einer stillen Minute entsorgen würde. Nun überreichte ich Ingrid und Igerich meine Geschenke. Ingrid bekam ein erst zwei Tage vor Weihnachten erschienenes Buch über seltene Heilkräuter, das sie mit den Worten „Ach, in diesem Büchern steht meistens doch nur der gleiche Konsum-Kram drin“ kommentierte, aber trotzdem an ihren Busen drückte. Für Igerich hatte ich eine Flasche sehr teuren Rotwein gekauft, die er in Ermanglung eines Atombusens glücklich an seinen dunkelbraunen Anzug drückte.
Dann war es so weit: Rigoletto und ich überreichten uns unsere Geschenke. Da wir uns wie kleine Kinder nicht einigen konnten, wer sein Geschenk zuerst übergeben durfte, schlichtete Ingrid, indem sie vorschlug, dass wir doch einfach gleichzeitig auspacken sollten. Das war mir zwar nicht so recht, da ich auf jeden Fall das Gesicht meines baldigen Mitbewohners sehen wollte, wenn er seine Golftasche auspackte. Um nicht wie ein störrisches Kind unter dem Weihnachtsbaum zu streiten, willigte ich ein und händigte Rigoletto die beiden großen Pakete aus. Der Mann meiner Träume gab mir im Gegenzug ein kleines Kuvert - etwas Glitzerndes bekam ich offensichtlich nicht. Hektisch riss ich den Umschlag auf. Die Spannung, was mein eventueller Ehemann mir zu Weihnachten schenkte, war nicht länger zu ertragen.
Es war der romantischste Moment in meinem ganzen Leben. In dem Kuvert steckte ein Gutschein für einen zweiwöchigen Golf-Urlaub in Portugal. Über Ostern. GOLF! Damit war es offiziell: Wir waren für einander bestimmt. Anders war es nicht zu erklären, dass wir beide die gleiche Idee für ein gemeinsames Hobby gehabt hatten. Ein Hobby, bei dem wir jede Menge Zeit miteinander verbringen konnten. Glückselig fiel ich Rigoletto in die Arme und sagte:
„Das ist das schönste Geschenk, dass ich je bekommen habe!“
Im Geiste machte ich eine kleine Notiz, nach Weihnachten sofort bei meinem Kollegen Richard anzurufen und mich für das abrupte Ende unseres letzten Telefonates zu entschuldigen. Rigoletto sah mich im Gegenzug ähnlich beseelt an und murmelte:
„Da hatten wir ja die gleiche Idee, wie romantisch.“
„Zwei Blöde - ein Gedanke“, Ingrids gekrähter Zwischenruf sorgte für eine harte Landung nach unserer kurzen Reise auf Wolke Sieben.
Ich warf ihr einen bitterbösen Blick zu, den sie aber ignorierte.
„Und nicht nur zwei Blöde“, fuhr sie zu meinem steigenden Ärger fort. „Dann sind wir ja ab jetzt vier Blöde! Igerich und ich lieben Golfen. Bis jetzt hat sich unser Rigolettolein immer geweigert, mit uns zu spielen. Aber nun haben wir etwas, was wir alle vier gemeinsam an den Wochenenden machen können!“
Da mein Sektglas leer war, war ich versucht, ins Glas zu beißen, um mein Entsetzen irgendwie zu verdecken. Wie immer war auf Igerich in einer schwierigen Situation Verlass. Er schüttete mir schnell nach.
Den Rest des Abends verbrachte ich wie in Trance. Von dem wahrscheinlich vorzüglichen und vor allem sehr reichhaltigen Weihnachtsessen - Rehrücken, Klöße, Rotkraut und Preisselbeersoße - nahm ich so gut wie nichts wahr. Auch an das anschließende gemütliche Beisammensein - samt Süßem und umgekipptem Rotweinglas - habe ich nur eine einzige Erinnerung: Ingrids Erzählungen über das FKK-Golfen auf Mallorca.
Alles andere war eine dunkle Nebelwolke, durch die nur ein einziger Gedanke es bis in mein Gehirn schaffte: Hatte mein Märchenprinz mir den Golf-Urlaub geschenkt, weil er mit mir oder weil er mit mir und seinen Eltern Golfen wollte? War mein Geschenk in Wirklichkeit Ingrids Geschenk? Ich bemerkte nicht einmal, dass es schon selbstverständlich war, dass ich die Küche aufräumte, während Rigolettolein und seine Mutter auf dem Balkon rauchten. Ingrid hatte extra zu diesem Zweck einen Heizpilz erstanden. Wahrscheinlich wollte sie sicher gehen, dass die Minusgrade sie nicht zurück ins Haus trieben, bevor ich mit der Küche fertig war.
Ich bemühte mich verzweifelt, an etwas anderes zu denken, hatte aber ständig das Bild der nackten Ingrid beim Ausholen zum nächsten Golfschlag vor meinem inneren Auge. Außerdem ließ mich die Frage nicht los, welche Vorkehrungen Ingrid wohl traf, sich beim Abschlag nicht mit ihren eigenen Brüsten zu erschlagen.
Irgendwann war auch dieser Abend zu Ende und wir verabschiedeten uns, um ins Bett zu gehen. Die Tür war noch nicht ganz hinter uns ins Schloss gefallen, als ich Rigoletto mit der Frage überfiel, die mir den ganzen Abend auf der Seele gebrannt hatte:
„Hast du mir das mit dem Golfen nur geschenkt, damit wir etwas mit deiner Mutter gemeinsam unternehmen können?“
Mein Hase sah mich verwirrt an.
„Wie kommst du denn darauf? Warum sollten wir zusammen mit meiner Mutter Golfen gehen? Wir wohnen doch nicht mal in der gleichen Stadt? Oder willst du jedes Wochenende nach Paderborn fahren?“
Ich musste zugeben, diesen Punkt hatte ich bei meinem drogenähnlichen Fantasie-Trip in die Golf-Zukunft mit Ingrid nicht berücksichtigt. Ich kannte meinen Hasen jetzt ein knappes Jahr und in dieser Zeit war er nur dreimal nach Hause gefahren: zum Geburtstag seiner Mutter, um mich vorzustellen und Weihnachten. Wenn er nicht vorhatte, die Anzahl seiner Besuche deutlich zu erhöhen, würde unser neues gemeinsames Hobby doch ohne seine Mutter stattfinden. Und das in Berlin. Mir fiel ein Stein gigantischen Ausmaßes vom Herzen.
„Ich dachte ja nur, weil deine Mutter gleich meinte, dass sie so gerne Golf spielt und dass wir das an den Wochenenden gemeinsam machen können“, antwortete ich etwas lahm.
„Ja, an den drei Wochenenden im Jahr, an denen ich oder wir in Paderborn sind, könnten wir das vielleicht tun.“
Mein Hase sah mich grinsend an und sprach weiter:
„Aber von den drei Wochenenden regnet es aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso an zweien. Du weißt doch, in Paderborn regnet es entweder oder die Glocken läuten.“
Rigoletto lächelte dieses Lächeln, das ich so an ihm liebte und Weihnachten wäre gerettet gewesen, wäre in diesem Moment nicht eine Art Erkenntnis in seinem Gesicht aufgestiegen und seine Augen zu kleinen Schlitzen geworden. Das hatte er eindeutig von seiner Mutter geerbt. Ob er auch auf Knopfdruck dicke Tränen kullern lassen konnte?
„Hast du etwa den ganzen Abend keinen Ton gesagt, weil meine Mutter auch Golf spielt? Magst du meine Mutter etwa nicht?“ Rigoletto sah mich fassungslos an.
„Natürlich mag ich deine Mutter“ versicherte ich so überzeugend ich konnte. „Ich dachte nur, dass du mir das mit dem Golfen vielleicht nur geschenkt hast, weil deine Eltern auch golfen und weil wir das dann zusammen machen können.“
Ich lächelte mein schönstes Lächeln und fügte etwas gezwungen an:
„Worüber ich mich natürlich sehr freuen würde!“
„Ehrlicherweise gesagt habe ich dir den Golf-Urlaub geschenkt, weil ich die Golftasche gesehen habe und da ich überhaupt keine Idee hatte, was ich dir schenken soll, dachte ich, es wäre doch schön, wenn wir beide golfen würden. Dann hätten wir ein gemeinsames Hobby.“
„Das ist ja süß“, himmelte ich meinen Freund an, der tatsächlich naiv genug war, nicht zu merken, dass dies mein Plan von Anfang an gewesen war.
„Daran, dass ich selbst auch golfen könnte, habe ich gar nicht gedacht, als ich die Tasche gekauft habe. Du bist ja so romantisch!“
Es ist immer gut, wenn ein Mann denkt, irgendetwas wäre seine Idee gewesen. Nicht so gut war, dass mir Rigoletto meine Ausrede nicht wirklich abgekauft hatte. Sein zweifelndes Gesicht sprach Bände. Da er aber nichts weiter sagte, schwieg auch ich still und verbrachte den Rest der Weihnachtsfeiertage damit, gut Wetter bei Rigoletto und seiner Mutter zu machen.
Obwohl ich mich natürlich schon fragte, warum der Mann, der mich liebte, am 23. Dezember noch kein Weihnachtsgeschenk für mich gekauft hatte. Aber egal. Hier ging es ums große Ganze. Also machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Unter anderem aß ich so viele von den Staubplätzchen, dass ich fast eine Staublunge bekommen hätte. Außerdem wusste ich nun, wie man sich nach einer Botox-Behandlung fühlen musste, so eingemeißelt war das Lächeln in meinem Gesicht, während ich mir die Foto-Alben von fünf FKK-Urlauben und von Ingrids schönsten Kräutern ansah.
Meine Mühen wurden belohnt: Als wir endlich aufbrachen, drückte mich Ingrid fester denn je zuvor an ihr Busenmassiv und säuselte mir ein:
„Jetzt bist du schon fast Familie“ ins Ohr.
Ihr Sohn freute sich, kaum saßen wir im Auto, dass „Weihnachten doch schöner fast nicht sein“ könne. „Ich habe Familie Hasenbein um den Finger gewickelt“, dachte ich zufrieden. Und ich hatte doch „ein Ding“ mit Müttern.
Wenn ich bei Rigolettos Worten nur schon gewusst hätte, was mir im kommenden Jahr widerfahren sollte, ich hätte nicht zustimmend und begeistert genickt, sondern das Weite gesucht. Das sehr Weite. Vielleicht wäre ich nach Kanada oder besser noch in die Mongolei ausgewandert. So aber lief ich ins Verderben.