Kapitel 7

 

            „Mein Name ist Miranda Meyer, ich bin 32 Jahre alt und ich bin ein Junkie. Ich bin abhängig von Kerzenduft, Dekoration, Musik und Plätzchen. Ich bin süchtig nach Weihnachten.“

Natürlich mochten die meisten Menschen Weihnachten, ich aber – so fanden zumindest meine Familie und Freunde – übertrieb es etwas. Nachdem ich Maria vor einigen Jahren Ende Januar gestanden hatte, dass ich den ganzen Monat von 5-Minuten-Terrinen gelebt hatte, weil ich dank unkontrollierten Weihnachtsshoppings pleite war, hatte sie mir vorgeschlagen, nach einer Selbsthilfegruppe zu suchen. Hatte ich natürlich nie gemacht, aber wir lachten immer mal wieder herzhaft über die Frage, wie man sich bei den „Anonymen Weihnachtlern“ wohl vorstellen würde.

Wenn Anfang September die ersten Lebkuchen in den Supermärkten auftauchten, empörte ich mich selbstverständlich wie alle anderen Menschen, wie furchtbar es doch sei, dass man uns schon im Sommer Weihnachten aufdrängen würde. Tatsächlich aber kaufte ich die erste Packung Lebkuchen, die ich finden konnte. Nicht um sie zu essen. Die Tüte stand jedes Jahr bis zum 15. Oktober auf meinem Kühlschrank wie eine Vorankündigung auf die wunderbaren Zeiten, die nun bald anbrechen würden. Am Abend des 15. Oktober – und ich hätte dafür die Beerdigung meiner Oma sausen lassen – machte ich mir einen Glühwein und aß die Lebkuchen zu den Klängen von „Last Christmas“. Damit war die Saison eröffnet.

 

Dieses Jahr war mein Weihnachtsglück größer denn je. Zwar hatte ich Großteile des Novembers auf das virtuelle Einrichten der neuen, gemeinsamen Wohnung verwendet, aber meine weihnachtlichen Meilensteine, wie den 15. Oktober, hatte ich trotzdem gefeiert. Pünktlich zum 1. Dezember war die Planung der Wohnung abgeschlossen und ich konnte durchstarten.

Rigoletto und ich würden Weihnachten zum ersten Mal zusammenfeiern. Bei seinen Eltern. Gut, das war vielleicht nicht das größte Weihnachtsglück, aber immerhin ein weiteres Zeichen, dass aus mir bald eine ehrbare Frau werden könnte. Um mir meine Vorweihnachtszeit nicht durch Grübeln, wie dieses Weihnachtsfest mit meiner kräutersammelnden Vielleicht-Schwiegermutter ablaufen würde, zu verderben, hatte ich beschlossen mich emotional ganz darauf zu konzentrieren, dass ich das erste Mal ohne meine Eltern feiern würde. Was nicht einfach war, da meine Mutter meine ständigen Anrufe irgendwann genervt mit:

            „Was willst du eigentlich die ganze Zeit, Kind?“ kommentierte.

Außerdem war sie so damit beschäftigt, ihren Ski-Urlaub in der Schweiz zu organisieren, dass man fast auf die Idee hätte kommen können, dass sie seit Jahren sehnsüchtig auf das erste Weihnachten ohne ihre Kinder gewartet hatte. Auf meine leicht zickige Bemerkung, dass sie und mein Vater doch gar nicht Ski-Laufen könnten, konterte sie schnippisch, dass man auch Spazierengehen und die Landschaft genießen könne. Insgeheim vermutete ich, dass sie eher das Schweizer Fernsehprogramm genießen würde, sparte mir aber den Kommentar in einem Anflug vorweihnachtlicher Milde. Außerdem war mit meiner Mutter nicht zu spaßen, wenn man sie kritisierte oder lächerlich machte.

 

Mit Rigoletto sprach ich kein Wort über das anstehende Fest der Liebe in seinem Elternhaus. Erstens war er - typisch Mann - nicht daran interessiert, Weihnachten im Vorfeld zu analysieren. Zweitens hatte ich mir geschworen, dieses Mal ohne jegliche Erwartungen oder von meinem Hasen falsch geschürten Vorstellungen ins Umland von Paderborn zu reisen.

Irgendwo musste meine ganze Weihnachtsenergie allerdings hin und deshalb backte ich so viele Plätzchen, dass man damit locker die Einwohner mehrerer verarmter, afrikanischer Dörfer hätte fett füttern können. Außerdem hatte ich beschlossen, dass perfekte Geschenk für meinen erhofften Bald-Ehemann zu finden. Etwas, worüber er sich nicht nur wirklich freuen würde, sondern das zusätzlich unsere Beziehung vertiefen sollte.

Selbstverständlich war dies ein aussichtsloses Unterfangen. Rigoletto konnte sich wie jeder Mann nur über Dinge, die mit seinem Computer oder seiner Stereoanlage zusammenhingen und einen Stecker hatten, wirklich freuen. Auch mit viel Fantasie sah ich leider nicht, wie eine neue Computer-Speicherkarte das Band zwischen uns für immer unzerreißbar machen würde.

Es musste etwas anderes her, etwas Besonderes. Etwas, was wir beide zusammen machen konnten und das mein Rigoletto schon immer haben wollte, es bisher nur nicht wusste. Am besten etwas, das zu unserem gemeinsamen Hobby werden konnte. Ich hatte hunderte Ideen. Keine war jedoch so wirklich zündend. Oder gut. Oder realisierbar. So war ich mir zum Beispiel nicht ganz sicher, ob mein Hase sich schon immer heimlich einen Bauchtanzkurs gewünscht hatte. Beim Bungee-Doppelsprung sah es schon anders aus, er hatte mir anvertraut, dies sei sein größter Traum - dummerweise hatte ich davor panische Angst. Die Idee, ihm eine Reise auf die Malediven zu schenken, wäre grandios gewesen, wenn ich auf den Gutschein „in zehn Jahren“ geschrieben und sofort mit dem Sparen begonnen hätte. Andere Ideen waren gut, aber leider ausgebucht. So wie der Kochkurs in einem feinen Berliner Restaurant bei einem Sterne-Koch. Oder die Fahrt mit dem Eisbrecher auf dem Wannsee, die ausgebucht war, obwohl es in diesem Winter noch nicht ein einziges Mal richtig gefroren hatte. Potential für ein gemeinsames Hobby hatte die Fahrt auch nicht.

 

Mitte Dezember war ich immer noch ideen- und geschenklos und wurde langsam nervös. Ich konnte an nichts anderes denken als an Rigolettos Weihnachtsgeschenk. Weihnachtsdekoration, Kekse und „Last Christmas“ waren mir auf einmal herzlich egal. Was ich brauchte war ein Geschenk, und zwar ein tolles.

Die Ideen sprudelten weiter, wurden aber immer skurriler oder waren nicht durchführbar. Die gemeinsame Thai-Massage zum Beispiel war mir zu peinlich, schließlich würde mein Freund das Geschenk im Beisein seiner Eltern überreicht bekommen. Marias Vorschlag, ihm einen großzügigen Gutschein – „das lieben alle Männer“ – für einen Sex-Shop zu schenken, fiel in die gleiche Kategorie.

So kam es, dass ich am 22. Dezember am frühen Abend auf dem Berliner Ku‘Damm stand und gegen Tränen kämpfte. Ich hatte keine Ahnung was ich dem Mann, den ich liebte und den ich heiraten wollte zu unserem ersten gemeinsamen Weihnachten schenken sollte. Mir blieben genau 24 Stunden Zeit, die Wahnsinns-Idee zu haben, die sich mir bislang so hartnäckig entzog, bevor wir nach Paderborn und Umgebung aufbrechen würden. Auf einmal erschien mir ein Lebensvorrat Stofftaschentücher oder Designer-Socken gar nicht mehr so schlecht. Immerhin besser als gar kein Geschenk.

 

In diesem Moment rief mein Kollege Richard an, um mir fröhliche Weihnachten zu wünschen. Was natürlich sehr nett von ihm war, aber nicht weiterhalf. Im Gegenteil: Mit seinem angeberischen Geplapper über den fantastischen Golf-Urlaub in Florida, den er und seine Frau dieses Jahr über Weihnachten machen würden, ging er mir gewaltig auf die Nerven. Ohne ihm ebenfalls frohe Weihnachten zu wünschen, brach ich das Gespräch nach wenigen Minuten unter dem Vorwand, in die U-Bahn steigen zu müssen ab.

Missmutig schlenderte ich stattdessen ins KaDeWe, als es mich plötzlich wie eine weihnachtliche Offenbarung traf. Das war es! Wir würden gemeinsam mit dem Golfspielen anfangen. Warum war mir das nur nicht früher eingefallen? Der perfekte Sport für uns beide. Rigoletto konnte draufhauen und ich musste mich nicht dreckig machen. Stundenlang würden wir gemeinsam über das Grün marschieren, uns dabei verliebt an den Händen halten und über das Leben oder übers Golfen sprechen. Danach an einem romantischen Zweiertisch mit Blick über den Golfplatz etwas essen. Außerdem konnte ich mir einen ganzen Stapel neuer Klamotten kaufen, ohne die Stimme meiner Mutter („Brauchst du das denn wirklich?“) im Kopf zu hören. Ich meinte sogar, mich erinnern zu können, dass mein Hase sich vor geraumer Zeit mal positiv über das Golfen geäußert hatte. Auf einer Driving-Range war er auch schon gewesen. Perfekt. Ich fuhr ohne weiteres Zögern mit dem Fahrstuhl in die Sportabteilung, kaufte die teuerste Golftasche, die man für Geld erwerben konnte und dazu einen Satz sündhaft teurer Schläger aus einem Material, von dem ich nicht mal wusste, dass es das gab. Dann fuhr ich nach Hause. Selten hatte ich mich mehr auf Weihnachten gefreut als an diesem Abend.

 

Meine Hochstimmung hielt den gesamten nächsten Tag an. Selbst nachdem es sich etwas schwierig gestaltet hatte, Golftasche und Schläger von Rigoletto unbemerkt im Auto zu verstauen, war ich noch bestens gelaunt. Auch die Fahrt nach Nieder-Oberstein entwickelte sich nicht zum Gute-Laune-Verderber. Dank des Autos blieben mir die Bahnsteige der Region diesmal erspart. Ich hatte eine CD mit den schönsten Weihnachtsklassikern eingelegt und wir fuhren zu den Klängen von „Do they know it’s Christmas time“ Plätzchen futternd durch die verschneite Landschaft. Ich war rundum glücklich.

Zumal ich es geschafft und mir keine Sekunde Gedanken über das Weihnachtsfest nach „Hasenbein Art“ gemacht hatte. Und ich hatte das perfekte Geschenk für den Mann meiner Träume, mit dem ich im neuen Jahr zusammenziehen würde. Eine Welle weihnachtlichen Wohlbefindens breitete sich in meinem Körper aus. Dann wurde mir schlecht. Auch wenn es sich um Weihnachtsplätzchen handelte, hatte mein Magen nur ein begrenztes Aufnahmevermögen. Als Rigoletto mit dem Auto in die Auffahrt seines Elternhauses einbog, stöhnte ich unglücklich:

            „Ich kann nie wieder ein Plätzchen essen.“