5.
Die nächsten Tage verbrachte Ansgar am Gitter des Kerkerfensters, das in Bodenhöhe des Hofes eingelassen war und einen Blick über den gesamten Platz und den Burgfried des Grafen gewährte. Wenn der Gefangene nicht gerade finsteren Rachegedanken nachhing, fütterte er die Tauben am Fenster mit den Krumen des verschimmelten Brotes, das man ihm morgens, mittags und abends zur Wassersuppe reichte.
Ab und an sah einer der Barden bei ihm vorbei, unterhielt sich mit ihm durchs Gitter und machte ihm Mut. Wies ließ sich meist erst gegen Abend sehen, da er sich bemühte, den Aufenthaltsort von Thiese und den anderen ausfindig zu machen. Sie alle waren überzeugt, dass die Wachen Ansgar freilassen würden, sobald die Wut des Grafen verraucht und der Vorfall in Vergessenheit geraten war. Vermutlich konnte sich der Herrscher bereits nicht mehr an ihn erinnern, denn seit Beginn der Feierlichkeiten war er einem ununterbrochenen Weinrausch erlegen.
Am vierten Abend erschien Wies in Begleitung von Thiese, der ebenso abgemagert wie Ansgar wirkte. Mit Tränen in den Augen saßen sich die beiden ungleichen Brüder gegenüber. Sie hatten sich nie recht verstanden, doch die Not führte sie zusammen, und so fühlten sie sich einander so nahe wie selten zuvor.
Ansgar erfuhr, dass die gepressten Rekruten in einem nicht weit entfernten Zeltlager untergebracht waren. Sie wurden dort des Nachts kaum bewacht, denn die Drohung, an ihren Eltern Rache zu nehmen, hinderte sie an der Flucht.
Ansgar versprach, einen Weg zu finden, sie dort herauszuholen, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie er dies bewerkstelligen sollte. Thiese, der sich über diesen Umstand im Klaren war, bedankte sich gerührt und baute seine ganze Hoffnung auf das Versprechen des Bruders, denn die Not macht gläubig.
Auf der Suche nach einer Möglichkeit, die gefangenen Jungen zu befreien, verbündeten sich die Barden mit den traditionell obrigkeitsuntreuen Gauklern, die noch so manche Rechnung mit dem Grafen und seinen brutalen Landsknechten offen hatten.
Ansgar hing indessen seinen eigenen Gedanken nach. Ihm war mittlerweile klar geworden, dass er seinen verletzten Arm nie wieder richtig würde gebrauchen können, weder zum Spielen der Laute noch um auf dem Felde wirkungsvoll mitzuhelfen. Ein junger Kerl, auf ewig zum Krüppel geschlagen und der Mildtätigkeit seines hartherzigen Vaters ausgeliefert. Wenn Verwünschungen töten könnten, wäre der Urheber seiner Behinderung wohl augenblicklich vom Blitz erschlagen worden.
Da aber Flüche allein nicht halfen, grübelte Ansgar verzweifelt über andere Möglichkeiten nach, wie er seine Freunde straflos ins Dorf zurückführen, sich selbst eine sinnvolle Zukunft aufbauen und sie obendrein auch noch am Lehnsherrn rächen konnte.
Sosehr er jedoch sein Hirn zermarterte, ihm fiel nichts ein, womit er auch nur eine dieser Aufgaben bewältigen konnte.
Nach Tagen sinnlosen Zechgelages, in dem mancher Rock dem brutalen Griff des Raubgrafen ausgeliefert war, ließ sich der Burgherr wieder des Öfteren verkatert auf dem Hof sehen. Auf Anraten der Wachen verschwand Ansgar in diesen Momenten von dem Kellerfenster, um den Herrscher nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen.
Bei einer dieser Gelegenheiten, als der Tyrann sich seinen Weg durch die den Platz bevölkernden Tauben bahnte, um in seinen Burgfried zurückzuwanken, kam Ansgar eine Idee.
Erst konnte er es selbst kaum fassen, was da in seinem Kopf heranreifte, doch dann rannte er aufgeregt in seinem Verlies umher, um die vielen Gedanken, die plötzlich auf ihn einstürzten, zu ordnen. Innerhalb kurzer Zeit nahm sein Plan Formen an, und als er abends Wies davon berichtete, hatte er auf dessen Einwände bereits die passenden Antworten.
Als der erfahrene Barde schließlich die Tragweite von Ansgars Gedanken erkannte, welche die Macht der Legendenbildung einschlossen, war er begeistert. Umgehend besorgte Wies den Leinensack, den der Gefangene für seine Vorbereitungen benötigte. Anschließend weihte er die anderen Barden ein und auch Selina, eine Gauklerin, die in den vergangenen Tagen unter der Lüsternheit des Grafen zu leiden gehabt hatte und deshalb ebenfalls auf Rache sann.
Einige Tage später waren die bestochenen Wachen endlich überzeugt, dass Ansgar beim Raubgrafen in Vergessenheit geraten war. In den frühen Morgenstunden ließen sie ihn gehen.
Er floh geradezu aus der Burg, nur seine geflickte Laute und einen sich seltsam windenden Leinensack, aus dem ein gepresstes Gurren drang, unter die Arme geklemmt. Doch sein Weg führte ihn nur bis zu einem nahen Waldhain, in dem er sich keuchend niederließ.
Kurze Zeit später gesellte sich Wies zu ihm, ebenfalls einen hüpfenden Sack auf dem Rücken, der ein ebenso unheimliches Eigenleben zu haben schien.
Gemeinsam begannen sie die Vorbereitungen für die Nacht. Als es dämmerte, stießen weitere Musikanten zu ihnen. Sie alle hatten in den letzten Tagen vorgegeben, nach den Festtagen wieder in die Ferne zu ziehen, auf der Suche nach einer anderen großzügigen Seele, die sie freihalten würde.
In Wirklichkeit hatten sie sich jedoch in der Nähe versteckt gehalten, um nun mit Ansgar und Wies zur Tat zu schreiten.
Bei Anbruch der Nacht schlichen die Spielleute zurück zur Burg und versteckten sich in der Nähe eines Eckwachturms. Während sich einige der Verbündeten davonstahlen, um die Dorfjugend bei ihrer Flucht aus dem Lager der Landsknechte zu unterstützen, holten andere die ersten Tauben aus den Leinensäcken.
Ansgar baute sich indes vor dem verschlossenen Burgtor auf und verlangte lauthals nach den Wachen. Es dauerte einige Zeit, bis diese sich mit Fackeln in der Hand über den Wehrgang beugten, um die Ursache der nächtlichen Störung zu erforschen.
Da sie einen Hinterhalt befürchteten, waren sie bemüht, so wenig wie möglich von ihren Leibern oberhalb der Palisade zu präsentieren. Damit sie trotzdem sahen, mit wem sie es zu tun hatten, warfen sie schließlich zwei brennende Fackeln in den trockenen Burggraben, um die Umgebung des Tors zu erhellen.
Ansgar wartete, bis sie ihn zweifelsfrei erkannten, dann zog er sich aus dem flackernden Lichtkreis zurück, denn die Dunkelheit schien ihm der beste Schutz vor einem Pfeil.
Noch bevor sich die Wachen von ihrer Überraschung über sein erneutes freches Auftauchen erholen konnten, begann Ansgar mit einem finsteren Rachelied, in dem er die Mächte der Unterwelt anrief, damit sie ihm bei seinem feurigen Feldzug zur Seite standen. Seine vor Wut verzerrte Stimme glich der eines Dämons, die Töne, die er mit der gelähmten Hand auf der Laute hervorrief, erinnerten an das Kreischen mordgieriger Hexen.
Die abergläubischen Wachen gerieten spätestens in Panik, als Wies und seine Kumpane den an die Krallen der Burgtauben gebundenen Zunder in Brand steckten. Jene Tiere, die sie tags zuvor gefangen und in Leinensäcke gesteckt hatten, wurden zusammen mit ihrer lodernden Last in die Luft geworfen, wo sie kreischend vor Schmerz mit angesengtem Federkleid in die Höhe stiegen, um instinktiv den Schutz des heimatlichen Schlags anzusteuern. Für die Wachen jedoch, die unter dem Bann von Ansgars fluchbeladenem Lied standen, sah es so aus, als würde die Unterwelt selbst die schreienden Flammen ausspeien, die im hohen Bogen auf den Burgfried des Grafen zuschossen.
»Hexenfeuer!«, brüllte der abergläubischste von ihnen, und sofort fielen alle anderen mit ein in sein panisches Geschrei.
»HEXENFEUER!!!«, gellte es so laut durch die Nacht, dass ein jeder, außer dem volltrunkenen Raubgrafen, davon geweckt wurde.
»IRRLICHTER!!!«, brüllten andere Wachen, die entsetzt aus dem Burgfried flohen. »Alles raus aus den Häusern, das Hexenfeuer brennt alles nieder!!!«
Unter Ansgars anschwellendem schauerlichem Gesang stiegen immer mehr der flammenden Geschosse auf, die unter markerschütterndem Kreischen über die Burgmauern hinwegjagten und auf den Burgfried zuhielten. Einige der verbrennenden Tiere stießen sofort in das Innere des Dachstuhls, wo ihre sterbenden Leiber das ausgelegte Stroh des Taubenschlags entzündeten. Das sich ausbreitende Feuer fand dabei rasch Nahrung in dem durch die lange Trockenzeit ausgedörrten Reisigdach, und auch die halb verfallenen Eichenbohlen boten keinen großen Widerstand.
Andere der lebenden Fackeln umkreisten den Turm einige Male auf der Suche nach dem Einflugloch, sodass sie den in Iskan allseits gefürchteten Irrlichtern glichen. Zwei von ihnen gerieten dabei sogar in das weit geöffnete Fenster des Grafen, wo eine sogleich die Leinenvorhänge entflammte, während die andere auf das zerwühlte Bett des Tyrannen stürzte und dabei die Strohmatratze in Brand setzte.
Der volltrunkene Schläfer erwachte erst, als die prasselnden Flammen an seinem Bart nagten. Entsetzt sprang er auf und stolperte zur Schlafzimmertür, um, wie seine untreuen Wachen vor ihm, ins Freie zu gelangen. Zu seinem Schrecken stellte er jedoch fest, dass die schwere Eichentür von außen verschlossen war.
Hätte er nur einen Gedanken an das Gauklermädchen verschwendet, das er zum wiederholten Male gezwungen hatte, ihm zu Willen zu sein, ihm wäre vielleicht der Gedanke gekommen, dass er das Opfer eines wohldurchdachten Mordkomplotts war.
Da der Graf jedoch wie immer nur an sich selbst dachte, stürzte er lediglich ans Fenster, auf der Suche nach einem Fluchtweg. Mittlerweile stand das ganze Zimmer in Flammen, und die Hitze wurde unerträglich.
Mit angebranntem Bart lehnte er sich aus dem Fenster und brüllte voller Panik: »So helft mir doch, ihr Narren! Euer Herr ist in Not!«
Doch statt in den brennenden Turm zu eilen, um den Fürsten zu retten, starrte das Volk ängstlich auf die über sie hinwegsirrenden flammenden Grüße, die ihnen der dämonische Sänger vor der Burg sandte.
Fluchend rannte der Graf zurück zur Zimmertür, an der er erneut erfolglos rüttelte. Sosehr er auch mit dem Fuß gegen den Türrahmen stieß und sich mit aller Kraft und dem gesamten Körpergewicht nach hinten stemmte, fluchend an dem Türring zerrte, riss und zog — der von außen vorgelegte Balken erlaubte es der Tür nicht, sich auch nur einen Spaltbreit zu öffnen.
Die Einrichtung des Schlafgemachs brannte mittlerweile lichterloh, während sich zu seinen Füßen Risse im Lehmboden bildeten. Die hell aufschlagenden Flammen versengten ihm Haare und Augenlider, und die aufgeheizte Haut seiner Wangen schlug erste Blasen. Über ihm stand das knarrende Gebälk der Holzdecke in Brand und sandte einen stetigen Glutregen in die Tiefe.
Voller Verzweiflung zerrte der Graf weiter an dem glühenden Türring. Er ignorierte seine verkohlenden Hände, bis er endlich begriff, dass nicht nur sein Zimmer, sondern das gesamte Obergeschoss zur brennenden Falle geworden war. Hustend wankte er zurück zum Fenster. Lieber wollte er sich in die Tiefe stürzen, als wie ein gefangenes Tier in seinem Bau zu verenden.
Er kam nur wenige Schritte weit, dann begrub ihn die herabstürzende Zimmerdecke wie ein Scheiterhaufen.
Als der Todesschrei des Lehnsherrn durch die gespenstisch erleuchtete Nacht gellte, verharrte das Volk im Hof wie erstarrt. Nur einige Besonnene fuhren fort, jene Flammennester zu löschen, die sich durch Funkenflug auf den umliegenden Gebäuden gebildet hatten. Niemand kam auf die Idee, mit ein paar Bewaffneten den Schuldigen dieser Katastrophe festzusetzen.
Ansgar, der das lautstarke Ende seines Gegners ebenfalls vernommen hatte, stellte seinen Gesang ein. Er rief den über ihm wie erstarrt stehenden Wachen noch einige Warnungen zu, die sie oder andere Landsknechte davon abhalten sollten, ihm zu folgen oder sich erneut an den Menschen seines Dorfes zu vergreifen, dann zog er sich mit den unerkannt gebliebenen Freunden im Schutze der Nacht zurück.
Als sie den Waldhain erreichten, warteten dort bereits Thiese und die anderen gepressten Rekruten, die man aus verschiedenen Dörfern zusammengetrieben hatte. Ihre Flucht war reibungslos verlaufen, da ihre Wachen beim Anblick der Irrlichter und des brennenden Turms die Flucht ergriffen hatten. Die versammelte Schar fiel sich glücklich in die Arme, den Göttern dankend, der Gefangenschaft so glücklich entronnen zu sein.
Doch die Not der Stunde verbat große Feierlichkeiten, und so machten sich die Jungen noch in derselben Nacht auf den Weg zurück in ihre Dörfer. Sie wanderten bei Nacht und schliefen am Tage, um möglichen Häschern des toten Lehnsherrn zu entgehen. Auch als sie zurück in ihren Gemeinden waren, versteckten sich viele von ihnen, manche gar den ganzen Winter lang. Sie konnten nicht glauben, dass es nach jener Brandnacht niemand wagen würde, sie zu suchen.
Ansgar und Thiese begaben sich ebenfalls auf den Heimweg, während sich die versammelte Sängerschaft in alle Winde zerstreute, ein jeder von ihnen das Lied vom Feuersänger auf den Lippen, der mit der Macht seiner gewaltigen Stimme die Flammen vom Himmel sandte, um dem Tyrannen den lodernden Tod zu bringen.
Natürlich schmückten die Barden nach alter Sitte die Handlung ein wenig aus, und so wurde aus dem hölzernen Burgfried eine steinerne Trutzburg, deren Turmspitzen bis in den schwarzen Himmel reichten. Ansgar wuchs zu einem kräftigen Hünen, der noch mit zerschmettertem Arm die Ketten in seinem Kerker zerbrach und auf der anschließenden Flucht mehrere Wachen mit dem Schwert niederstreckte. Mit jedem Vortrag wurden die Geschehnisse fantastischer, bis aus dem Sänger mit den magischen Fähigkeiten ein Halbgott wurde, der die ganze Festung samt dem Berg, auf dem sie stand, mittels eines Flammengewitters dem Erdboden gleichmachte.
Nur die wenigsten, die heute das Loblied des rachsüchtigen Patrons der Barden hören, ahnen, dass Ansgar bereits wenige Tage nach der Rückkehr in sein Dorf verstarb. Er wurde vom eigenen Vater im Schlaf erschlagen, weil dieser die Vergeltung des neuen Lehnsherrn fürchtete.
Wie hätte der Mörder auch wissen sollen, dass in Iskan nie wieder einem Musikanten ein Leid zugefügt wurde, aus Furcht vor der Rache des Feuersängers.
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