In den Bitterfelsen
Die Pferdewache leistete keinen nennenswerten Widerstand. Ein kurzer Schrei der Phaa genügte, um den jungen Iskander in die Flucht zu schlagen.
Rasch lösten Rorn und Yako die Zügel von einer zwischen zwei Felsen gespannten Leine, nahmen drei Fuchsstuten und trieben die übrigen Tiere auseinander. Um die zitternde Jadeträgerin in Sicherheit zu bringen, mussten sie Dagomars Streitmacht erreichen, eine andere Möglichkeit gab es nicht.
»Wie es wohl Alvin und Bornus ergangen ist?«, fragte Yako, bevor sie ihre Stute mit den Hacken antrieb. Sie sprengten in Richtung Süden davon.
Mit Mea an ihrer Seite war es sinnlos geworden, weiterhin die Flickenmasken zu tragen. Doch obwohl die Jadeträgerin Mühe hatte, sich im Sattel aufrecht zu halten, kamen sie schnell genug voran, um den Posten, die in den Felsen kauerten, zu entgehen. Schließlich wurde der Feind von Süden her erwartet und nicht in vollem Galopp aus dem Rücken heraus. Bis die ersten Wurfspieße durch die Nachtluft zischten, waren Rorn und seine Gefährten schon außer Reichweite.
Alarmrufe zerrissen die Stille der Nacht, aber die waren nichts gegen das Kriegsgeschrei der Phaa, das Yako einem Reitertrupp entgegenschmetterte, der ihnen den Weg abschneiden wollte. Die Pferde ihrer Feinde scheuten und jagten davon, trotzdem war nicht zu überhören, dass Yakos Stimme von Mal zu Mal mehr schwankte. Im Mondlicht war ihrem Gesicht auch deutlich anzusehen, dass die Schreie sie inzwischen stark anstrengten.
»Übertreib es nicht«, riet ihr Rorn in mildem Ton. »Unsere Schwerter wollen auch noch etwas zu tun bekommen.«
Als sie den nächsten Felsvorsprung umrundeten, spürte er den Luftzug eines Wurfspießes, der nur eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt durch die Luft schnitt und in der Dunkelheit verschwand. Sie machten sich nicht die Mühe, ihre Pferde zu zügeln und den feigen Vrellwerfer zu stellen, sondern ritten mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
Ihre Beweglichkeit war ihr größter Trumpf. All die Alarmrufe, die durch die Täler und Höhen hallten, sorgten zwar für große Aufregung, aber nicht für eine gezielte Verfolgung. Im Gegenteil. Von nun an hielten die Iskander jeden verdächtigen Schatten für einen barosischen Späher, das lenkte sie ab und ließ sie falsch handeln.
Erheblich größere Probleme bereiteten die Fundamente weiterer sich aus den Trümmern erhebender Bauwerke, die immer wieder die Wege blockierten.
Schließlich mussten sich Rorn und Yako anhand der Sterne neu orientieren, um sich nicht in dem Gewirr aus Schluchten und Felskesseln zu verirren. Ohne die natürlichen Instinkte der Bergkriegerin wären sie bestimmt irgendwann im Kreis geritten, so aber rückte die Felskette, die die Bitterfelsen nach Süden hin abschloss, immer näher.
»Diese Gegend kenne ich«, verkündete Yako irgendwann. »Von hier aus münden alle Wege in einen engen Bergpass, der sich selbst mit wenigen Männern gegen eine Übermacht verteidigen lässt. Wenn wir dort einen Felssturz auslösen, haben wir es so gut wie geschafft!«
»Klingt verlockend«, sagte Rorn ohne große Begeisterung. »Aber es sollte mich wundern, wenn die Iskander einen strategisch so bedeutsamen Punkt nicht mit ihren besten Kriegern besetzt hätten.«
Yako nickte düster, trotzdem ritten sie weiter. Eine Umkehr kam für sie nicht infrage. Sie mussten zur Ebene hinaus, sonst waren sie auf Dauer verloren.
Mea sprach die ganze Zeit über kein Wort, sondern litt still und leise vor sich hin. Obwohl sie inzwischen Yakos Umhang trug, zitterte sie am ganzen Leib. Ihr eigener Wille schien ihr in der kurzen Zeit der Gefangenschaft abhandengekommen zu sein. Sie unternahm selbst nicht das Geringste, um ihr Leben zu retten, wehrte sich aber auch nicht dagegen, von Rorn und Yako in Sicherheit gebracht zu werden.
Auf dem letzten Stück ihres Weges lauerte ihnen niemand mehr auf. Rorn und Yako ahnten, was das zu bedeuten hatte. In diesem Abschnitt streifte niemand mehr umher, weil die Iskander wussten, dass es längst nur noch einen einzigen Weg gab: den von ihnen besetzten Pass.
Rorn sah zu den Felsen auf, die sie von allen Seiten umgaben. Selbst ein geübter Kletterer hätte Mühe gehabt, sie zu erklimmen, aber zu Pferd und mit einer willenlosen Jadeträgerin im Schlepp war eine Überquerung vollkommen undenkbar.
Auf ein Zeichen Yakos hin wurden sie langsamer. Der Pass, durch den es in die Ebene ging, lag unmittelbar vor ihnen. Die Felsen rückten bereits zusammen und stiegen immer steiler an. Silberner Mondschein sickerte die Steilwände hinab, ohne den Boden zu erreichen. Durch das dunkle Schattenmeer ritten sie auf einen verwitterten Steinblock zu, um den sich der Pfad in einer engen Kehre schlängelte.
Yako zügelte ihr Pferd im Schutze der Barriere und legte einen Zeigefinger auf die Lippen. Dann zog sie die Beine an, stellte die Stiefel auf den Sattel und schnellte im nächsten Moment auf die Steilwand neben ihr zu.
Rorn erwartete fast, sie zurück in die Tiefe rutschen zu sehen, doch sie krallte sich an winzigen Vorsprüngen und Rissen fest, die für das menschliche Auge im Dunkeln nicht zu erkennen waren. Auf einer Schräge, die normalerweise nur Käfer oder Spinnen bewältigen konnten, kletterte die Phaa mühelos empor, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand.
Unangenehme Stille, nur ab und zu vom Klackern niederfallender Steine durchbrochen, breitete sich in dem Bergeinschnitt aus. Dann, wie aus dem Nichts heraus, saß die Phaa plötzlich auf dem im Weg liegenden Felsblock und winkte sie näher.
»Rund ein Dutzend Männer halten die Anhöhe besetzt«, flüsterte sie Rorn zu. »Reite ihnen ganz offen entgegen, dann lassen sie dich auf Rufweite heran. Ich komme über die Felsen; damit rechnet niemand.«
Rorn wusste keinen besseren Plan, also stimmte er dem der Phaa zu, obwohl es ihm nicht behagte, den Köder zu spielen.
Yako lächelte ihm aufmunternd zu, bevor sie wieder mit der Dunkelheit verschmolz. Ein leichtes Schaben wie von ledernen Sohlen über Stein erklang über seinem Kopf. Das war der einzige Hinweis darauf, dass sich Yako schon wieder weit oben in der Felswand bewegte.
»Komm, wir müssen weiter«, sage er zu Mea, und zum ersten Mal reagierte die junge Frau, wenn auch auf recht unerwartete Weise.
»Ruf Yako zurück!«, verlangte sie, ein unstetes Funkeln in den Augen. »Ich will nicht, dass irgendwelche Iskander meinetwegen sterben. Diese Männer haben alles Recht der Welt, mich zu hassen und töten zu wollen!«
Rorn verstand nicht, was sie zu diesen Worten bewog, er wusste nur, dass dies der falsche Ort für einen Streit war. »Reiß dich zusammen!«, verlangte er. »Du gefährdest nicht nur dein eigenes Leben, sondern auch Yakos und das meine. Willst du das?«
Das Flackern in Meas Augen erlosch. Kopfschüttelnd sank sie in sich zusammen.
Rorn ergriff ihre Zügel und band sie an das Sattelhorn von Yakos Stute. Danach nahm er die beiden Tiere in den Schlepp, umrundete den Felsblock und folgte einem engen Steinpfad, der sich in großen Bogen bergauf schlängelte, bis über ihnen der Sternenhimmel zu sehen war.
Im silbrigen Gegenlicht zeichneten sich die Umrisse einiger Krieger ab, die den Pass besetzt hielten. Sie erwarteten Rorn bereits, da sie den Hufschlag der Pferde gehört hatten.
Von Yako gab es hingegen nicht mehr das geringste Lebenszeichen. Mühsam unterdrückte Rorn den Wunsch, in die Felswände zu spähen, während er die Stute weiter in die Höhe trieb. Von nun an gab es kein Zurück mehr.
Einige der ihm entgegenstarrenden Silhouetten erhoben sich und zogen die Schwerter. Das Mondlicht spiegelte sich in mehreren Augenpaaren, die dadurch wie kleine Sterne im Dunkel der Gesichter funkelten.
»He, da unten!«, rief einer der Iskander. »Wohin des Weges?«