29. Kapitel
Josh wartete schon seit einer viertel Stunde auf Cass. Sie hatte ihn am Morgen angerufen und zu einem klärenden Gespräch zur Brücke bestellt. Er war furchtbar nervös und spielte bereits verschiedene Szenarien durch, die sehr wahrscheinlich eintreffen könnten.
Zum Beispiel könnte sie ihm sagen, dass sie mit Alex nach Russland gehen würde. Oder, dass sie Carmen bald holen käme. Vielleicht hatte sie auch nur vor, ihn zur Unterschrift der Scheidungsunterlagen zu zwingen. Alle drei Varianten würden ihm das Herz brechen oder den Verstand kosten.
Als Cassandra endlich kam, rutschte ihm das Herz in die Hose. Alex war bei ihr und trug ihre Reisetasche. War es das? Sie wollte sich wirklich von ihm verabschieden? Der Angst wich glühende Wut. Ohne weiter darüber nachzudenken, stürzte er sich auf Alex und riss ihn von den Füßen.
»Josh! Hör sofort auf!« Aber weder Josh noch Alex nahmen sie wahr. Sie stieß einen Fluch aus und ging etwas zur Seite. Sie war schon genug verletzt. Da würde sie nichts riskieren. Plötzlich stieß sie gegen jemanden und drehte sich erschrocken um. Sicher war ein Wachmann der Brücke hier und würde die beiden Streithähne trennen. Als sie dem Mann ins Gesicht sah, wurde ihr allerdings speiübel.
»Derek!« Ihr angstvoller Ausruf war nur ein Flüstern gewesen und sie wich vor ihm zurück. Warum ließ er sie einfach nicht in Ruhe?
»Wie kann das sein? Ich habe dir einen silbernen Dolch ins Herz gestoßen! Du müsstest tot sein!« Sie drehte sich zu den beiden am Boden liegenden Männern um und wollte zu ihnen laufen, als Derek sie von hinten packte und ihr mit seinem Arm die Luft abdrückte.
Josh und Alex bemerkten nichts von alledem. An ihrem Ohr flüsterte Derek: »Ich weiß nicht, wie du das überlebt hast, aber dieses Mal geh ich auf Nummer sicher. Ich werde dir erst die Kehle durchschneiden und dann deinen Kopf vom Körper abtrennen. Dann will ich sehen, wie du wieder von den Toten auferstehst.«
Er führte die Klinge des Dolches, den er schon vorher im Hotelzimmer benutzt hatte, an ihre Kehle. Ohne darüber nachzudenken, warf sie ihren Kopf nach hinten in den Nacken und war sehr zufrieden, als sie das Brechen seiner Nase hörte.
Sie hatte genug. Sie würde kämpfen und alle rächen, die er umgebracht hatte. Sie drehte sich zu ihm um und die mittlerweile wohlbekannte Wut stieg in ihr auf. Ihr Blickfeld engte sich ein und sie sah ihm an dem überraschten Ausdruck an, dass sie sich auch äußerlich veränderte.
Sie hatte sich nach ihrem Wutanfall im Hotel im Spiegel gesehen und war vor sich selbst erschrocken. Sollte er doch vor Angst zittern. Er hatte es nicht anders verdient.
Josh hatte es geschafft. Alexej lag bewusstlos unter ihm und rührte sich nicht mehr. Er hatte um sein Weibchen gekämpft und gewonnen. Er sah sich triumphierend nach Cass um, die vor ein paar Augenblicken noch neben ihnen befunden hatte. Als er sie aber im Kampf mit Derek sah, erstarrte er.
Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass Derek dazu gekommen war. Sein Kampf mit Alexej hatte ihn viel zu sehr abgelenkt, um etwas anderes wahrnehmen zu können. Josh hatte immer noch viel zu viel Adrenalin im Blut, um tatenlos herumzusitzen und seinen schmerzenden Körper zu schonen.
Er würde Cass retten und dann würde sie wieder ihm gehören. Er rappelte sich auf und stürzte zu den beiden Kämpfenden. Als er dort angekommen war, stieß er Cassandra zur Seite und funkelte Derek böse an.
»Du wagst es, uns unter die Augen zu treten? Hast du überhaupt nichts dazu gelernt?«
Cass war auf diese Attacke nicht vorbereitet gewesen und ziemlich schmerzhaft zu Boden gegangen. Dabei spürte sie ihre beiden Wunden mit aller Deutlichkeit. Als sie sah, dass Josh sie so grob beiseite gestoßen hatte, fluchte sie.
Sie hatte Derek schon in die Enge getrieben und ihn fast zur Aufgabe gezwungen. Dieser Idiot. Dann sah sie sich nach Alexej um. Er lag bewusstlos etwa fünfzig Meter von ihr entfernt. Josh hatte ihn also besiegt, obwohl Alex gar nicht zum Kämpfen hier gewesen war.
Sie rappelte sich auf und ging zu Alex hinüber, während Josh mit Derek beschäftigt war. Sie kniete sich neben ihn und untersuchte seine Kopfverletzung. Sie war zum Glück nicht sehr schlimm. Sie strich ihm über das feuchte Haar und er öffnete die Augen.
»Na wie geht‘s Dir?« Er schnaubte verächtlich, oder war das ein Lachen?
»Und? Bereust du deine Wahl schon?« Seine Stimme klang etwas heiser.
»Alex!« Sie sah ihn tadelnd an und blickte dann wieder zu Josh und Derek. Ihr Noch-Ehemann war schon mächtig aus der Puste und konnte nicht mehr ganz so schnell reagieren, immerhin hatte er schon einen schweren Kampf mit Alex hinter sich. Aber Derek war auch schon recht angeschlagen. Das war Cassandras Verdienst.
Plötzlich veränderte sich etwas. Derek grinste verschlagen und stellte Josh ein Bein. Dieser fiel so ungünstig, dass er sich den Kopf an einem Pfeiler schlug und dann benommen am Boden liegen blieb. Derek erhob sich über ihn und zog seinen Dolch.
Den silbernen Dolch, der in ihrem Magen und in ihrem Herzen gesteckt hatte. Wie in Zeitlupe erhob sich Cass, stürzte sich in wilder Wut auf Derek und verwandelte sich mitten im Sprung in einen Wolf.
Derek war verloren. Sie sah die Todesangst in seinem Blick und packte ihn mit ihren scharfen Zähnen an der Kehle.
»Cass! Pass auf!« Sie hatte so viel Schwung mit ihrem mächtigen Wolfskörper bekommen, dass sie zusammen mit Derek, dessen Kopf sie ihm mit einem Bissen vom Körper getrennt hatte, über die Brüstung fiel. Alex musste hilflos mit ansehen, wie sie hinter dem Geländer verschwand. Er zog sich auf die Beine und rannte zum Brückenrand.
»Cass!« Doch er sah nur das dreckige Wasser des Potomac Rivers. »Cassandra!« Er durchsuchte seine Kleidung nach seinem Handy, fand es aber nicht. Sicher hatte er es beim Kampf mit Josh verloren. Er sah sich auf dem Boden um, und als er es entdeckte, rief er sofort die Polizei.
Josh hatte furchtbare Kopfschmerzen, als er wieder zu sich kam. Er drehte sich auf die Seite und zwang sich auf die Knie. Als er sich umsah, bemerkte er, dass von Cass jede Spur fehlte. Alex war wieder auf den Beinen und lief auf der Brücke hin und her.
»Sie müssen sofort herkommen. Eine junge Frau ist in den Potomac River gefallen. Ich hab sie nicht wieder auftauchen sehen.« Josh musste sich sehr bemühen, wieder auf die Beine zu kommen.
»Sie ist eine ausgezeichnete Schwimmerin. Sie wird schon längst wieder aus dem Wasser heraus sein.« Alex sah sich wütend zu Josh um.
»Du Hurensohn! Du weißt gar nichts! Sie ist viel zu geschwächt, um sich wieder an Land zu kämpfen!« Josh kniff seine Augen zusammen.
»Wie meinst du das?«
»Derek ist vorgestern in ihr Hotelzimmer eingebrochen und hat auf sie eingestochen. Zwei Mal. Sie wäre beinahe gestorben.« Josh wurde blass.
»Wieso hat mir das niemand gesagt?« Alex sah ihn verächtlich an.
»Wenn du dich etwas mehr unter Kontrolle hättest, würdest du jetzt mit Cass zuhause sitzen und sie hätte Gelegenheit gehabt, es dir zu erzählen.«
»Sie wollte nicht mit dir weg?« Alex stieß ein freudloses bitteres Lachen aus.
»Sie wollte dir noch eine Chance geben.« Als er die ersten Sirenen hörte, stieß er Josh zurück und sagte giftig: »Du bist an allem Schuld. Du und ihre Dickköpfigkeit!« Damit ließ er den Kopf sinken und ging wieder zur Brüstung, um zu sehen, ob er irgendwo etwas von ihr entdeckte.